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Das Eigene gegen das Fremde

Im neuen Buch des französisch-bulgarischen Kulturwissenschaftlers Tzvetan Todorov geht es um die Angst vor dem Abstieg - individuell und kollektiv. "Die Angst vor den Barbaren" heißt es, und die Rolle dieser Barbaren haben seiner Ansicht nach die Islamisten eingenommen. Konsequenz: Die Kultur erhält in den politischen Debatten auf einmal ein starkes Gewicht.

Von Kersten Knipp | 08.11.2010
    Das neue Buch des französisch-bulgarischen Kulturwissenschaftlers Tzvetan Todorov beschäftigt sich zwar nicht mit Deutschland – dennoch lässt es sich lesen wie eine Replik auf die derzeitige Debatte um den Neubau des Stuttgarter Hauptbahnhofs einerseits und die um die Äußerungen des ehemaligen Bundesbank-Vorstands Thilo Sarrazin. Der hatte in seinem Bestseller kritisiert, dass Deutschland sich vor allem wegen seiner unkontrollierten Einwanderung selbst abschaffe.

    Stuttgart 21 oder Sarrazin: Beide sind typisch für die Reaktionen auf Veränderungen, denen Deutschland - und andere Staaten der westlichen Welt - entgegensehen. Der globalen Migration und ihren Folgen einerseits. Und andererseits der nachlassenden politischen Gestaltungskraft des Nationalstaates, wie sie sich in der Finanzkrise zumindest angedeutet hat: Dieses Krisenbewusstsein ist für Todorov nicht neu. Und drückt sich nicht zuletzt in einer Empfindung aus: der Angst vor dem Abstieg – individuell und kollektiv.

    "Dieses Gefühl der Angst ist weit verbreitet, es beeinflusst unser Verhalten. Es hängt damit zusammen, dass der Westen über Jahrzehnte, ja Jahrhunderte, die Welt beherrscht hat. Doch jetzt ist der Süden der Welt nicht mehr bereit, sich durch eine Handvoll nördlicher Mächte beherrschen zu lassen. Darum fühlen wir uns bedroht, und zwar vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet. Gegen diese Angst kann der Einzelne nichts machen. Aber er kann zumindest einkalkulieren, dass diese Entwicklung bis zu einem bestimmten Punkt sein tägliches Verhalten und seine Weltsicht beeinflusst."

    Bringt man diese Aussage noch einmal mit Stuttgart 21 und der Sarrazindebatte in Zusammenhang, zeigt sich, dass beide Phänomene noch auf eine weitere Weise mit Tzvetan Todorovs Thesen verbunden sind. "Die Angst vor den Barbaren" heißt sein Buch, und die Rolle dieser Barbaren haben, so stellt der Autor es dar, die Islamisten eingenommen. Leicht erkennbar ist nun, dass sich diese Angst teils auf politischem Feld äußert, mindestens ebenso aber auch – Stichwort Kopftücher und Minarette – auf kulturellem Feld. Hier zeigt sich, wie sehr Menschen dazu neigen, das Eigene gegen das Fremde zu verteidigen. Und vielleicht ist die These nicht allzu gewagt, dass das Eigene – und das zeigt sich auch in Stuttgart – eine neue Wertschätzung erfährt. Warum aber erhält die Kultur in den politischen Debatten auf einmal ein so starkes Gewicht? Weil ihre Symbole ganz besonders sichtbar sind, erläutert der Autor. Und weiter.

    "Wir werden unausweichlich in eine kulturelle Welt geboren, in eine ganz besondere Kultur. In sprachlicher Hinsicht, im Hinblick auf die Traditionen unserer Eltern, später unserer Freunde und Schulkameraden sind wir – ohne uns darüber im Klaren zu sein und ohne es auch eigentlich zu wollen – in eine ganz bestimmte Kultur eingebettet. Und die lässt uns die Welt durch eine entsprechende Brille sehen. Das vergessen wir aber sehr leicht, da Kultur uns als etwas Selbstverständliches erscheint. Darum nehmen wir jede Veränderung unserer Kultur als Aggression wahr."

    Detailliert beschreibt Tzvetan Todorov, wie das Wissen der Zivilisationen voneinander in der Neuzeit gewachsen ist. Man könnte also sagen, dass die Aufklärung in globaler Hinsicht Fortschritte gemacht hat. Aber gewachsenes Wissen führt nicht immer und zwangsläufig zu einer friedlichen Welt. Denn Wissen lädt auch dazu ein, Vergleiche anzustellen. Und bei diesen Vergleichen erkennen die Menschen aus dem Süden der Welt, dass sie ziemlich schlecht dastehen. Die allermeisten von ihnen befinden sich zumindest bislang noch auf der Verliererseite der Globalisierung. Und das hat für Todorov Folgen :

    "Die Mobilität der Menschen war nie so groß, wie es seit einiger Zeit der Fall ist. Inzwischen wissen die Menschen selbst in den entlegensten Dörfern Afrikas, dass man sein Geld in Europa viel leichter verdient als bei ihnen. Und das Gefühl der Erniedrigung, das den Arbeitsmangel, den illegalen Status, die Unmöglichkeit, ein würdiges Leben zu führen – diese Umstände treiben die Menschen ungeheuer an. ... Sie riskieren ihr Leben, aber das nehmen sie in Kauf. Wirtschaftliche Interessen verbunden mit weltweiten Information fördern die Mobilität der Menschen ungemein."

    Das heißt dann aber auch, dass die Ängste der Bürger im Westen nicht unbegründet sind. Allerdings hält Tzvetan Todorov die ökonomischen Folgen der Migration für erheblich schwerwiegender als die kulturellen. Dennoch – analysiert der Autor - werde dieser Konflikt von Beobachtern und Publizisten gerade als kulturelle Auseinandersetzung gedeutet.

    "Mein Buch trägt den Titel 'Die Angst vor den Barbaren', weil ich fürchte, dass diese instinktive, blinde Angst, die wir angesichts derer der Migranten empfinden, uns selbst zu Barbaren werden lässt. In Abu Ghraib und Guantanamo wurden viele Unschuldige festgehalten. Wenn ich aber 'Unschuldige' sage, dann setze ich voraus, dass es auch Schuldige dort gab. Aber ich setze auch voraus, dass es legitim war, sie zu foltern. Es ist aber zutiefst illegitim, dies zu tun. Dadurch verlieren wir den Kampf, in dem wir uns befinden, denn wir werden genauso barbarisch oder sogar noch barbarischer als unsere Feinde – unsere wirklichen Feinde. Es handelt sich also um eine selbstmörderische Haltung."

    Kulturelle Konflikte sind viel schwerer zu lösen als politische oder wirtschaftliche, betont Tzvetan Todorov. Denn bei letzteren seien die Anliegen konkret. Doch bei kulturellen Konflikten werde um Punkte gestritten, die viel schwieriger zu definieren und festzumachen seien. So plädiert Todorov dafür, Konflikte möglichst auf eine politische oder ökonomische Ebene zu heben. Auf diese Weise liefen die Staaten der westlichen Welt auch nicht Gefahr, ihren Ruf als zivilisierte Staaten aufs Spiel zu setzen. Denn ist der einmal beschädigt, ist es auch mit ihrem politischen Ansehen nicht mehr weit her.