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"Das Emotionale darf hinter dem Opportunismus nicht verschwinden"

Der angedeutete Aufstand gegen Merkels zahlreiche Kurswechsel sei zwar ausgeblieben, meint der Politikwissenschaftler Heinrich Oberreuter - doch könne die CDU nicht auf Stammwähler verzichten, die man "populistisch ansprechen" müsse.

Heinrich Oberreuter im Gespräch mit Gerd Breker | 15.11.2011
    Gerd Breker: Am Telefon sind wir nun verbunden mit dem Politikwissenschaftler Heinrich Oberreuter. Guten Tag, Herr Oberreuter.

    Heinrich Oberreuter: Ja guten Tag, Herr Breker.

    Breker: Wir wollen eine kleine Bilanz dieses CDU-Parteitages in Leipzig ziehen. Eines ist schon mal gewiss, Herr Oberreuter: Der Aufstand, der angekündigte oder angedeutete in Leipzig, der ist ausgeblieben. Das heißt, es stellt sich die Frage, ob die CDU zu einem reinen Kanzlerinnen-Wahlverein geworden ist?

    Oberreuter: Na ja, es hätte ja viele Anlässe gegeben, angesichts der mehreren Volten, die geschlagen worden sind, eine dicke Auseinandersetzung zumindest vom Stapel zu lassen. Aufstand? Dazu neigt die Union eigentlich nicht. Aber die Art und Weise, wie man alle Konflikte bereinigt und beruhigt hat, zeigt eben doch sehr stark, dass kein großes Interesse daran besteht, die Linie, die Angela Merkel vorgibt, der man ja eigentlich in aller Regel Führungsschwäche vorwirft, diese Linie in Zweifel zu ziehen, speziell um die Kanzlerin nicht zu beschädigen. Das mag der schwierigen politischen Situation geschuldet sein, in Deutschland wie in Europa, mag der schwierigen Situation auch in der Wählerschaft und in der Wählerlandschaft geschuldet sein, mag aber auch der Tatsache geschuldet sein, dass weit und breit keine personelle Alternative in Sicht ist.

    Breker: Nun war ja schon rein sprachlich, Herr Oberreuter, in Leipzig viel vom Wandel die Rede. Nur eigentlich war das Etikettenschwindel, denn manch ein Wandel war eine direkte Kehrtwende.

    Oberreuter: Ja. Wir leben seit Christi Geburt in tiefgehenden Wandlungsprozessen. Wir diskutieren in Gesellschaft, Politik und Wissenschaft Umbrüche in einer sich überschlagenden Reihenfolge. Wir haben Wertwandelprozesse, über die wir seit 25, 30 Jahren reden. Wir haben gesellschaftliche Strukturbrüche, das ist alles richtig, und das fällt ja nicht über einen Parteitag der CDU her. Und vor allen Dingen ist dann immer die Frage, wie gehe ich mit einem Wandel um?

    Wenn ich schon die Kompassnadel bemühe, wird man ja auch die schüchterne Frage erlauben dürfen, ob dieser Kompass ein Utensil ist, das man aus nostalgischen Gründen mit sich herumschleift, oder ob er noch Aussagekraft hat. Was ist Wandel, was ist Wende? Und wenn ich an die Energiepolitik denke, hätte man vielleicht den einen oder anderen sachlichen Grund noch mehr gehört als nur die emotionale Erschütterung, und wenn ich an die Bildungspolitik denke, ist es ja nun auch in der Tat so, dass die Hauptschule nach wie vor ihre Funktion hat, eine segensreiche Funktion hat und es gar keinen Grund gibt, sie grundsätzlich auszutrocknen, wie ursprünglich beabsichtigt, und das könnte man jetzt vielfältig fortsetzen.

    Breker: Herr Oberreuter, die Bundeskanzlerin, die auch zugleich CDU-Vorsitzende ist, sie betreibt einen Pragmatismus in einer Geschwindigkeit, der ein gestandener Konservativer kaum noch folgen kann. Kann es sein, dass das daran liegt, dass sie mehr auf den Bund schaut und nicht auf die Basis, also auf Länder und Kommunen?

    Oberreuter: Tja, was ist ein gestandener Konservativer? Die Schwierigkeit ist ja zunehmend auch die, dass man die Schlagworte mit sich führt, aber sie nicht mehr so deutlich zu definieren weiß. Allein wenn ich die berühmte Definition von Franz-Josef Strauß ins Gedächtnis rufe, die da lautete, konservativ ist, auf dem Boden des christlichen Sittengesetzes in der weitestmöglichen Form seiner Auslegung an der Spitze des Fortschritts marschieren – und das war kein Witz –, dann heißt das doch, dass ja auch das Konservative dem Wandel unterworfen und mit dem Wandel umgehen muss, und es heißt natürlich auch sehr deutlich, dass es in den Parteien führende Leute gibt, Führungsfiguren gibt, die in diesen Wandlungsprozessen nach vorne schauen und gucken, wie sie mit dem Kompass als Orientierungshilfe nach vorne gehen können.

    Konservativ kann ja nicht heißen, den Wandel übersehen und nur an dem festhalten, was man gerade gewohnt ist, und da mag ein grundsätzliches Dilemma bestehen zwischen einer Parteiführung, die Zukunftshorizonte durchaus mit ins Auge fasst, und einer Basis von wertkonservativen und traditionsbestimmten Wählern und Mitgliedern, die diesen Zukunftshorizont nicht ins Auge fassen. Und es gibt noch zusätzliche Erwägungen, gibt es nicht auch neue politische Konstellationen, gibt es neue Koalitionskonstellationen, die mit ins Auge zu fassen sind und wo schlicht und einfach dann die Wertfrage auch durch die Machtfrage überschattet wird.

    Breker: Herr Oberreuter, wenn wir einen Blick auf die Europadebatte auf diesem Parteitag werfen… Da war ja ganz deutlich, dass die Kanzlerin und ihre Männer an ihrer Seite, Männer und Frauen an ihrer Seite, gesagt haben, wir brauchen am Ende mehr Europa als jetzt. Das wird doch bei so manch einem Konservativen schon Skepsis hervorrufen?

    Oberreuter: Ja, das glaube ich auch. Aber auch da gibt es, denke ich, zwei Antworten. Irgendwie erscheint es paradox, dass eine Krise, die aus verstärkter Integration im finanzpolitischen Bereich, ohne dass die Grundlagen geschaffen worden sind, also eine Krise durch mehr oder durch zu viel Europa hervorgerufen worden ist, dass man aus der ausgerechnet durch noch mehr Europa herauskommen will. Nur man wird aus dieser Krise nicht herauskommen, wenn man dem Euro nicht die wirtschafts- und finanzpolitische Basis hinterherliefert, die eben bei seiner Einführung versäumt worden ist. Und diesem Argument, dem kann man sich nicht verschließen.

    Auf der anderen Seite muss man sagen, das mehr Europa oder gar das Gerede von den Vereinigten Staaten von Europa, das ist unüberlegt und bedarf also wirklich einer argumentativen Untermauerung. Was wir ebenso dringend wie eine finanz- und wirtschaftspolitische Basis für den Euro brauchen, das ist eine solide Reflexion darüber, was denn nun die Finalität der Europäischen Union sein soll. Was ist der gewollte Endzustand? Welche Kompetenzen soll diese Union haben? Wie sind sie zu den Nationalstaaten zu gestalten? Wo bleibt der Föderalismus? Also diese Frage ist genauso wichtig und bedarf einer prioritären Behandlung.

    Breker: Kurz noch ein Wort zum Schluss, Herr Oberreuter. Wie wichtig ist für eine Partei emotionale Identifikation?

    Oberreuter: Ziemlich wichtig. Natürlich bedarf eine Partei ihrer Stammwählerschaft. Die wird aber immer geringer und immer weniger ausschlaggebend beim Wahlergebnis. Nur wenn die auch noch bröckeln, dann wird es überhaupt schwierig, koalitionsfähige Wahlergebnisse zu erzielen und regierungsfähig zu werden. Auf der anderen Seite braucht man den Treibsand der Wähler, die man populistisch ansprechen muss. Das Emotionale ist eine nach wie vor unverzichtbare Basis und darf hinter dem Opportunismus nicht verschwinden.

    Breker: Im Deutschlandfunk war das die Meinung des Politikwissenschaftlers Heinrich Oberreuter. Herr Oberreuter, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

    Oberreuter: Ja, bitte!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.