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Das Ende der Reisefreiheit

Einmal ins Auto setzen und einfach losfahren. Entlang der Grenzen Europas. Roland Siegloff hat das gemacht - und sich 100 Tage Zeit dafür genommen. Denn der Berliner Journalist wollte erfahren, wie sich die Grenzen der Festung Europa von innen und außen anfühlen.

Von Melanie Longerich | 28.03.2011
    Als EU-Korrespondent in Brüssel hatte ich das tägliche Klein-Klein europäischer Politik kennengelernt: Kleinmut und Kleinstaaterei, Kleinkariertheit und Kirchturmdenken. Das große Abenteuer Europa musste anderswo sein. Irgendwo da draußen, abseits der Ministerräte und Pressekonferenzen und Parlamentsdebatten. 'Bei den Menschen', wie Politiker die unbekannte Welt jenseits der Panzerglasscheiben ihrer Limousinen und der klimatisierten Sitzungssäle häufig nennen. Ich wollte sehen und erleben, wie weit das europäische Versprechen unbegrenzter Reisefreiheit reicht.
    Und wo es endet. Und wen es ausschließt. Denn es ist der Widerspruch, der den Journalisten Roland Siegloff auf seiner hunderttägigen, 21.000 Kilometer langen Autofahrt durch die 27 Mitgliedsstaaten der EU beschäftigt: Dass einerseits kaum noch Grenzen innerhalb der EU das freie Reisen verhindern, andererseits aber der Grenzschutz nach Außen mit Millionenaufwand immer weiter verstärkt wird. "Festung Europa" nennen das die Kritiker – "Raum der Freiheit, Sicherheit und des Rechts" die Mitglieder der EU-Kommission. Roland Siegloff kennt die Argumente und die Politik um Themen wie Grenzschutz und Einwanderung nur zu gut. Während seiner zehnjährigen Tätigkeit für die Nachrichtenagentur dpa in Brüssel hat er oft darüber berichtet. Und so wollte er endlich wissen, wie die Wirklichkeit funktioniert. Er ließ sich die Geschichten der betroffenen Menschen erzählen - am Frankfurter Flughafen ebenso wie in Calais am Ärmelkanal, in den Flüchtlingslagern auf Malta, am Zaun von Ceuta. Und er schaute in die Brüsseler Amtsstuben:

    Dort sitzen sie, die Kommissare und ihre Beamten. Menschen mit der unerschütterlichen Ausstrahlung selbstsicherer Zufriedenheit, die jenen Leuten zu eigen ist, die sich ihres Tuns gewiss sind. Sie kümmern sich um grenzüberschreitende Vereinfachungen bei der Handynutzung, beim Erben und beim Häuserkauf. Sie studieren Akten in klimatisierten Büros, beauftragen externe Fachleute mit umfassenden Untersuchungen, reisen zu wichtigen Tagungen in aller Herren Mitgliedsländer, essen dort an Buffets und daheim in der günstigen Kantine. Dennoch leben sie, so scheint es, nicht frei von Furcht. Woher kommt dieses Bedürfnis nach Abschottung, das Sicherheit mit Überwachung zu schaffen versucht?
    Grenzen geben Sicherheit - und Identität, diese Erfahrung macht Roland Siegloff immer wieder auf seiner Reise. Ebenso wie die, dass Grenzen in Europa eben auch ganz unterschiedlich aussehen können. Und manchmal mitten durch Nationen verlaufen. Für das erste Kuriosum auf seiner Reise muss Siegloff nicht einmal Belgien verlassen. Der politische Dauerzwist zwischen Flamen und Wallonen hat mittlerweile die Spaltung des Landes in den Bereich des Möglichen gerückt. Die Grenze wird hier nicht von Nationen, sondern von Sprachen bestimmt. Und Siegloff findet die Sprachgrenze genau im Garten der Familie Deridder. Die wohnt zwar in Herne – und damit im niederländischsprachigen Flandern. Der Garten aber liegt zu einem großen Teil in der französischsprachigen Wallonie. Die Familie stört es nicht. Sie ist zweisprachig – samt Papagei Coco. Dass der sprachpolitische Frieden aber am Stadtrand von Brüssel längst aufgehört hat, wo seit Jahren die Politiker beider Gruppen verbissen um jeden scheinbaren Vorteil ringen, lässt Roland Siegloff nicht unkommentiert:

    Der Konflikt sichert mehr als einem von ihnen die Existenz in einem Staat, der sich sieben nationale und regionale Parlamente für weniger als elf Millionen Einwohner leistet. Neben dem belgischen Premierminister und seiner Regierung regeln fünf Ministerpräsidenten samt Ministern mit den dazugehörigen Beamten, Amtsstuben und Dienstwagen die Geschicke der Regionen und der Sprachgruppen. Sie wachen argwöhnisch darüber, wo Wegweiser und Werbung welche Sprache nutzen.
    Die unsichtbaren Grenzen innerhalb einzelner Länder scheinen aber plötzlich marginal, wenn Roland Siegloff zu seinem eigentlichen Schwerpunktthema kommt. Der auf Innen- und Justizpolitik der EU spezialisierte Journalist spürt in seinem Buch besonders den Orten nach, an denen Europa sich abgrenzt und ungeklärte Fragen und Widersprüche bei Grenzschutz, Asyl und Einwanderung offensichtlich werden. In der spanischen Enklave Ceuta in Marokko etwa wird das besonders deutlich. An einem sechs Meter hohen Zaun. Siegloff beschreibt, wie die Polizei an der Küste der Halbinsel ununterbrochen mit Booten und Helikoptern patrouilliert - auf der Suche nach Menschenschmugglern. Denn Ceuta ist ein begehrtes Ziel für illegale Einwanderer aus Afrika. Dass viele ihren Wunsch von einem besseren Leben mit dem Tod bezahlen, veranschaulicht der Journalist eindrücklich mit seinem Besuch auf dem dortigen Friedhof. Schnell sind die unzähligen Gräber von Immigranten auszumachen. Es sind die mit den Grabplatten ohne Inschrift, denn zahlen würde für solche niemand, erfährt der Autor von den Friedhofbediensteten. Roland Siegloff:

    Der Zaun, die Gräber. Die ungezählten Toten, die auf dem Meer verschollen bleiben. Ist das der Preis für unsere Freiheit? Oder ist das nur der Preis der Bequemlichkeit, weil wir Europäer uns vor schwierigen Entscheidungen drücken wollen? Ein Preis, den andere zahlen, weil lautes Nachdenken über eine menschlichere Herangehensweise die eine oder andere Wählerstimme kosten könnte. Es bleibt einfacher, den Zaun zu erhöhen und neue Gräber anzulegen. Gräber ohne Inschrift.
    Europa schottet sich ab. Auch jetzt wieder, wo es sich sorgt, angesichts der derzeitigen Umbrüche im arabischen Raum von einem Flüchtlingsstrom überschwemmt zu werden. Obwohl lang vor den jüngsten Entwicklungen geschrieben, ist Roland Siegloffs Reisebericht somit eine gute Grundlage, um aktuelle Debatten über Grenzschutz und Einwanderung einzuordnen. Kopenhagen, Schengen, Tampere: Während der verschiedenen Stationen gibt er immer wieder auch einen Abriss zu einzelnen Schritten der Innen- und Justizpolitik der EU. Leider überzeugen die als Roadmovie angelegten Begegnungen mit den Menschen aus 27 Nationen weniger. Ein guter politischer Journalist muss eben nicht automatisch auch ein guter Erzähler sein. Und so wirken viele seiner Begegnungen so, als habe Roland Siegloff nur das Autofenster heruntergekurbelt, anstatt den Menschen wirklich nahe zu kommen. Stattdessen erliegt er immer wieder den altbekannten und schon so oft gehörten Länder-Stereotypen. Aber dennoch: Leser, die darüber hinwegsehen können, werden in Roland Siegloff einen anregenden Reisebegleiter finden auf dem Weg zu einer couragierten Neubestimmung der europäischen Einwanderungspolitik.

    Melanie Longerich über Roland Siegloff: Reise zu den letzten Grenzen. 100 Tage freie Fahrt durch die Festung Europa. Erschienen im GEV Verlag, 416 Seiten zum Preis von 19 Euro und 95 Cent, ISBN 978-3-867-12051-7.