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Das Ende der Riesen

Es ist gerade einmal 30.000 Jahre her, da zog über alle Kontinente Großwild: Mammuts, Mastodons, Riesenfaultiere. Es war eine Welt, wie wir sie heute nur noch aus Afrika kennen. Dann verschwand sie, aus Europa, Asien, Nord- und schließlich Südamerika. In Los Angeles öffnet sich mitten in der Stadt ein Fenster in die Vergangenheit. Dort hat Dagmar Röhrlich Ausgrabungen begleitet und nach Antworten gesucht.

Von Dagmar Röhrlich | 05.12.2010
    Downtown Los Angeles - eine Reise in die Vergangenheit. Zuerst verschwinden die Hochhäuser, die Apartments, die Straßen mit ihrem Verkehrsgewühl. Kleinere Häuser treten an ihre Stelle, verwandeln sich in Farmen. Wie Schatten huschen die Bilder vorbei. Die Dörfer der Tongva und Chumash erscheinen, der Rauch ihrer Feuer färbt die Luft blau, gibt der Gegend ihren Namen: "Rauchiges Tal". Dann verlieren sich die Spuren der Menschen. Küstenmammutbäume wachsen empor, Douglasien. Flüsse und Bäche suchen sich ihren Weg aus den Bergen ins Meer. Plötzlich richtet sich ein Kurznasenbär auf - ein furchterregendes Raubtier, das heute problemlos in den ersten Stock eines Hauses hätte sehen können. Er ist nicht allein. Auf einer Lichtung zieht ein Riesenfaultier in Richtung See. Ein Pflanzenfresser, mit gefährlich-langen Krallen und einer Rüstung aus Knochenplatten unter seinem Pelz. Nicht weit entfernt lauert eine Säbelzahnkatze.

    "Säbelzahnkatzen sind richtig cool. Sie gehören zu meinen Lieblingstieren. Ich habe zwei Tattoos von ihnen."

    Eine stilisierte Säbelzahnkatze ziert leuchtend rot den Unterarm. Trevor Valle ist stellvertretender Laborleiter im Page-Museum - und hält sich selbst für etwas seltsam:

    "I am kind of weird, not your normal palaeontologist."

    Tattoos, Pferdeschwanz, langer Kinnbart - ein Rockertyp und Schwergewicht. Vor den Augen Dutzender Museumsbesucher löst er Teerschicht um Teerschicht von einem Knochen, der aus den Teergruben von Rancho La Brea stammt. Wo sich heute die Autos Stoßstange an Stoßstange über den Wilshire-Boulevard schieben, strichen einst Dire-Wölfe übers Land, die größeren, gedrungeneren Cousins der modernen Wölfe. Valle:

    "Die Dire-Wölfe jagten im Rudel, und wir haben hier Tausende von ihnen. Manche hatten verheilte Verletzungen: Die anderen Rudelmitglieder müssen sich um sie gekümmert haben. Es ist spannend, welche Geschichten uns die Knochen erzählen."

    Dass Trevor Valle seiner Leidenschaft für Fossilien im Herzen von Los Angeles nachgehen kann, verdankt er dem Salt-Lake-Ölfeld unter der Stadt. Seit Zehntausenden von Jahren findet dieses Öl über Klüfte und Störungen seinen Weg an die Oberfläche, wo es sich zersetzt: Schwarzer, mit Sand und Ton vermischter Teer bleibt zurück. In der Sommerhitze wird das Gemisch morastig und heimtückisch wie Treibsand - vor allem, wenn es sich unter Wasser verbirgt: Gras und Büsche, die am Rand einer Quelle oder eines Sees wachsen, lassen nichts Böses ahnen. Wer trinken will und hineingerät, findet meist nicht mehr heraus. Mammuts und ihre Verwandten, die Mastodonten, Pferde, Bisons, Elche - für sie wurde der Teer damals ebenso zur Todesfalle wie für die Eichhörnchen oder Mäuse heute. Valle:

    "Wir finden hier sehr viel mehr Fleisch- als Pflanzenfresser. Der Grund ist, dass die steckengebliebenen Pflanzenfresser Räuber anlockten, die auf eine gute Mahlzeit hofften."

    Wer sich vom Hilferuf eines Mammutkalbs oder den verzweifelten Befreiungsversuchen eines Storchs anlocken ließ, konnte selbst Beute des Teers werden - und damit Teil von Rancho La Brea, einer der spektakulärsten Fossillagerstätten der eiszeitlichen Welt, die heute zwischen Hochhäusern und Museen liegt. Die Teergruben von La Brea im Hancock Park dokumentieren eine Zeit, in der Riesentiere die Erde bevölkerten. Es war das Pleistozän, die Ära der Eiszeiten, der Gletscher und der Megafauna:

    "Das Pleistozän begann vor 2,8 Millionen Jahren. Am Ende dieser Periode, vor rund 10.000 Jahren, starb die Megafauna aus: in Nord- und Südamerika, in Europa und Asien - und seit mehr als 100 Jahren rätseln wir, warum das passiert ist."

    In Eurasien verschwanden Mammut und Wollhaariges Nashorn, erzählt Ross MacPhee vom American Museum of Natural History in New York. In Amerika Kamele, Löwen, Mastodonten, Riesenfaultiere, Pferde. Es passierte fast überall: So verlor der Mittelmeerraum alle langsamen Tiere wie die riesigen Schildkröten, Südamerika die Taxodontidae, die sich am liebsten in Flüssen und Seen aufhielten und aussahen wie Nashörner mit Flusspferdkopf. Dort starben nach Millionen Jahren ihrer Existenz auch die elefantengroßen Faultiere aus, das kleinwagengroße Gürteltier Doedicurus, die Elefantenverwandten Cuvieronius und Stegomastodon.

    Den besten Vergleich zur Welt damals bieten noch die afrikanischen Nationalparks wie die Serengeti mit ihren Elefanten, Giraffen, Nashörnern, Nilpferden, Zebras, Gnus, Löwen, Geparden: Damals war es - von der Antarktis abgesehen - auf den anderen Kontinenten genauso. Es gab Höhlenlöwen, Höhlenhyänen, Riesenhirsche, Wollnashörner, gigantische Nager und, und, und. Diese Gemeinschaften bestanden über Jahrmillionen, gleichgültig, wie das Klima war: Das Eis kam und ging, aber die Tiere blieben. Dann, vor rund 10.000 Jahren, ist etwas passiert - und die ganze Vielfalt ging unter. Warum verschwanden vier Fünftel aller Arten mit mehr als zwei Zentnern - und alle Arten mit mehr als einer Tonne Gewicht? Oder besser - fast alle. MacPhee:

    "Die bemerkenswerteste Ausnahme in diesem pleistozänen Artensterben ist Afrika. Während der Eiszeiten gab es dort nur ein paar Verluste und sehr wenige seit der Mensch entstanden ist. Warum kann ein Ort, an dem es eine so enorme Vielfalt an Tieren und vor allem Säugetieren gibt, einem Sturm standhalten, der über fast alle anderen Teile dieses Planeten hinweggefegt ist?"

    Warum verschwanden die Dire-Wölfe, der Amerikanische Löwe, die Säbelzahnkatzen - während die asiatischen Tiger, die afrikanischen Löwen überlebten? Warum gibt es keine Mammuts mehr, aber Afrikanische und Indische Elefanten?

    Um 1850 kaufte die Familie Hancock das Land von La Brea, wegen des Asphalts im Untergrund. Damit müsste sich ein Vermögen machen lassen, dachte der Rechtsanwalt Henry Hancock - und sollte Recht behalten. Als seine Arbeiter den Asphalt herausholten, stießen sie immer wieder auf seltsame Knochen. War eine Viehherde im zähen Asphalt zugrunde gegangen? "Knochenfriedhof" nannten sie den Sumpf. Als schließlich Knochen auftauchten, die nur vier starke Männer bewegen konnten, zogen die Hancocks Geologen zu Rate. Das war im frühen 20. Jahrhundert. Zum Glück wurde das Gebiet zum Nationalen Naturdenkmal erklärt - sonst wäre es längst bebaut.

    "Wir finden hier diese großen, coolen Eiszeitalter-Tiere, die Säbelzahnkatzen, Dire-Wölfe, Riesenfaultiere, Kamele, Bison, Mastodonten, Mammuts, Jaguare. Aber auch Wölfe, Kojoten, Berglöwen, Rotluchse, Mäuse und Kaninchen, Tiere, die es auch heute noch hier gibt. Die Funde dieser kleineren Tiere halten sich bis in die jüngsten Schichten - aber die Knochen der Megafauna verschwinden vor 10 bis 11.000 Jahren."

    Mehr als 100 Teergruben sind ausgehoben - und in der Nachbarschaft verbergen sich noch mehr, erzählt Grabungsleiterin Andrea Thorner. Wenn jemand im Umkreis von einer Meile um Rancho La Brea ein Loch in den Boden gräbt, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, auf Fossilien zu stoßen. Thorner:

    "Wir stehen hier auf dem Gelände von Projekt 23. Es ist ein neues, ungewöhnliches Projekt. Normalerweise arbeiten wir in den Boden hinein, um die Fossilien aus der klebrigen Asphaltmatrix zu holen, aber das hier ist eine Rettungsgrabung: Unser Nachbar, das LA-County Museum of Art, ist bei Bauarbeiten an einer unterirdischen Tiefgarage auf 16 Fossilfundstellen gestoßen. Eine davon war ein fast komplettes Mammut, das den Namen Zed erhalten hat. Er ist schon im Labor. Wir arbeiten uns nun von oben nach unten durch die Boxen durch, in die die Fundstellen verpackt worden sind, nachdem wir sie nebenan aus dem Boden gesägt haben."

    Zwischen drei und 56 Tonnen wiegen die 23 Holzboxen auf dem eingezäunten Gelände. Gerade bearbeiten vier freiwillige Helfer einen mannshohen, dunkelgrauen Quader aus Sand, Asphalt und Ton. Thorner:

    "Hier schaut eine Art Hundekopf heraus, es war wohl ein Kojote. Wenn wir auf die andere Seite gehen, sehen wir ein paar Wirbel, die einmal einem Kamel gehört haben. Seinen Schädel, Kiefer und ein paar andere Knochen haben wir schon geborgen. Kamele finden wir selten - aber es ist schon toll sich vorzustellen, dass früher Kamele durch Los Angeles gelaufen sind."

    Die Knochen aus dem betonharten Asphalt zu lösen, ist mühsam. Aber wenn ihn die Sommerhitze aufweicht, lassen sich die Fossilien regelrecht herausschälen:

    "Heute ist es so kalt, dass Herb den Asphalt abschlagen muss. Hier ist ein Stück Holz, darunter der Schädel eines Dire-Wolfs. Herb arbeitet schon seit ein paar Monaten daran, ihn freizulegen."

    Obwohl Millionen von Knochen im Boden stecken, war die Gegend kein Folterplatz, auf dem fortwährend Tiere um ihr Leben kämpften und andere mit sich ins Verderben zogen. Jede einzelne Teerfalle war nur kurze Zeit aktiv. Statistisch gesehen geriet alle 60 bis 80 Jahre ein großer Pflanzenfressern hinein und lockte dann Räuber an. Über 30.000, 40.000 Jahre hinweg kam jedoch einiges zusammen. Ross MacPhee:

    "Über wie viele Arten sprechen wir eigentlich bei dieser Aussterbewelle am Ende der Eiszeit? In Nord- und Südamerika sind es um die 100 Arten, die zur Megafauna gehören."

    Neue Untersuchungsmethoden belegen: Das Sterben scheint nicht so abrupt vonstatten gegangen zu sein, wie es viele Fundstellen nahelegen.

    "Wir haben aus Sedimenten DNA-Fragmente isoliert, die aus Exkrementen und Urin stammen. So können wir noch nach Jahrtausenden herausbekommen, wer damals unterwegs war. Unseren Ergebnissen zufolge scheinen manche Arten sehr schnell ausgestorben zu sein, bei anderen hat es sich hingezogen. So haben wir für Sibirien und Alaska nachgewiesen, dass sowohl Mammuts, als auch Amerikanische Pferde etwa 2000 Jahre länger gelebt haben als gedacht. Wir haben mit unserer Methode wahrscheinlich die Refugien entdeckt."

    Die Knochen erzählen also nicht die ganze Wahrheit, meint Ross MacPhee.

    "Wir wissen erstaunlich wenig darüber, wie eine Art verschwindet. Vor allem Naturschutzbiologen gehen davon aus, dass unter Druck geratene Arten innerhalb weniger Jahrzehnte ausgelöscht werden können. Evolutionsbiologen hingegen halten es für extrem schwierig, eine Art zum Aussterben zu bringen, weil sie optimal an ihre Umwelt angepasst sein sollte. Lässt man sie in Ruhe, erholt sie sich wieder."

    Doch genau das gelang der Fauna am Ende des Pleistozäns nicht mehr. Was war anders als in den Jahrmillionen zuvor? Eine der Spuren führt nach Ecuador, in die Teergruben, in denen Emily Lindsey von der University of California in Berkeley die Grabungen leitet:

    "Untersuchungen im Süden Ecuadors und im Norden Perus haben ergeben, dass diese Gegend zum Ende des Pleistozäns sehr viel feuchter war als heute. Es gab viel mehr Wälder und Wasser vielleicht rund ums Jahr."

    Anders als in Rancho La Brea finden die Paläontologen in der Teergrube in Ecuador nur Pflanzenfresser: vor allem Riesenfaultiere, aber auch Paläo-Lamas und Mastodonten. Raubtiere fehlen. Lindsey:

    "Eine Falle scheint es nicht gewesen zu sein. Entweder wurden hier tote Tiere von Fluss-Sedimenten zugedeckt, die später von Asphalt durchtränkt wurden. Oder wir haben einen Ort gefunden, an dem Menschen die Tiere auseinandergenommen und die Knochen dann in eine Asphaltquelle geworfen haben wie in einen Abfalleimer. Dafür spricht, dass 95 Prozent der Knochen zu Riesenfaultieren gehören."

    Auch die Schnittmarken auf den Knochen stützen diese Interpretation:

    "In Nord- und Südamerika lief das Aussterben gleichzeitig mit dem Eintreffen der Menschen ab - und es gab gleichzeitig eine große Klimaumstellung. Deshalb stellt sich die Frage: War es der Klimawandel? Oder waren es Überjagung durch den Menschen oder die Umweltveränderungen, die er auslöste. Welcher Faktor war beim Aussterben dieser Tiere entscheidend?"

    In Rancho La Brea ist bei den Ausgrabungen bislang nur ein einziges Zeichen für die Anwesenheit von Menschen aufgetaucht: eine 9000 Jahre alte Tote. Wahrscheinlich ist ihr Grab in eine Teergrube hineingeraten - die Quellen sind beweglich, die eine versiegt, dafür öffnet sich eine andere.

    "It is a big jumble of thousands of bones…"

    Das hier, das sei eine typische Fossilablagerung in La Brea, erklärt Andrea Thorner: ein Wirrwarr Tausender Knochen auf kleinstem Raum. Die junge Grabungsleiterin aus Los Angeles ist über eine Leiter in eine der Boxen geklettert. In einer Ecke der Kiste scheinen die Knochen regelrecht aus der Matrix herauszubrechen. Dort wurden 25.000 Knochen aus einem Volumen von einem Kubikmeter geholt - inklusive der winzigen Knochen von Mäusen, Kaninchen und Schlangen, die erst im Labor auffallen:

    "Sie stammen nicht unbedingt von ein- und demselben Individuum und hängen auch nicht mehr wie zu Lebzeiten zusammen. Das zu sortieren dauert Monate. Dieser Beckenknochen hier hat vielleicht zu einem Bison gehört, vielleicht zu einem Pferd. Das sehen wir erst später. Hier: der hintere Teil eines Dire-Wolf-Schädels. Wirbel - von einer Säbelzahnkatze, einer von einem Dire-Wolf, Wirbel, Wirbel, Wirbel…"

    Ross MacPhee:

    "Wenn man zu einem Ort wie den Teergruben in Los Angeles kommt, sieht man einen wundervollen Querschnitt durch die Säugetiere, Vögel und Reptilien, die vor 10.000 Jahren und früher in den mittleren Breiten Nordamerikas gelebt haben. Südlich der Eiskappe gab es zwar einige regionale Unterschiede in der Verteilung der Arten, aber im Grunde genommen war das Bild überall gleich. Die Megafauna des Pleistozäns war hervorragend an alle möglichen Bedingungen angepasst."

    Und dennoch scheiterte sie. Warum - fragte sich auch Ross MacPhee.

    "Die beiden wichtigsten Theorien zur pleistozänen Aussterbewelle gehen davon aus, dass es entweder der Mensch war oder das Klima. Die eine sagt, dass weltweit das Auftauchen des Menschen zeitlich mit dem Verschwinden der Megafauna korreliert. Und die andere Theorie geht davon aus, dass es am Klimawandel lag."

    Jede dieser Theorien hat ihre Stärken und ihre offenen Flanken. Und gleichgültig, welche man betrachtet: Beweise sind schwer zu finden:

    "Schauen wir uns erst einmal das Überjagen an. Gehen wir davon aus, dass die ersten Menschen Nordamerika vor etwa 13- bis 14.000 Jahren erreichten und einen Kontinent mit ungeheurem Artenreichtum betraten. Aber die Tiere kannten den Menschen nicht, wussten nicht, dass sie es mit einem Räuber zu tun hatten."

    Die Einwanderer sollen sich schnell zu Großwildjägern entwickelt und von Alaska bis Feuerland alles niedergemetzelt haben, was sie an schweren Pflanzenfressern fanden, wodurch den großen Raubtieren die Beute fehlte. Die Frage ist, wie die Menschen so tödlich effizient sein konnten. Deshalb hat diese Auffassung Gegner. Viele von ihnen halten den Klimawandel am Ende der Eiszeit für die wahrscheinlichere Ursache. Ross MacPhee:

    "Wie das funktioniert? Nun, das erfahren wir gerade am eigenen Leibe. In einer globalen Erwärmungsphase laufen in kurzer Zeit viele Veränderungen ab: Die Temperatur, Niederschläge, Stürme, sie ändern sich drastisch - und dadurch auch die Verteilung von Tieren und Pflanzen. Die großen Pflanzenfresser sollen verschwunden sein, weil sie nicht mehr das gewohnte Fressen fanden."

    Und in der Folge starben dann auch die großen Räuber, die von ihnen abhingen. Doch auch diese These lässt Fragen offen: Die Riesentiere des Pleistozäns hatten schon etliche Wechsel zwischen Eis- und Warmzeiten überstanden, etwa die Eem-Warmzeit, in der die Durchschnittstemperaturen höher lagen als heute. Sie hatten die Gletscher vorstoßen und sich wieder zurückziehen sehen: Warum sollten sie ausgerechnet jetzt scheitern? Es gibt noch eine dritte Idee. Die sucht den Schuldigen bei neuen Krankheiten, die schnell zuschlagen und viele Individuen töten können. So wie die Masern. Während die Europäer seit Jahrtausenden mit dem Erreger lebten, waren die amerikanischen Ureinwohner ihm noch nie begegnet. Als er mit den spanischen Eroberer Amerika erreichte, starben die Indios wie die Fliegen. Vielleicht war der Megafauna Ähnliches widerfahren, überlegt Ross MacPhee, der diese Theorie entwickelt hat:

    "Wir haben keinen Kandidaten für diese "Superkrankheit", die sich wie ein Lauffeuer durch eine Population frisst. Es müsste eine Krankheit sein, die viele Arten trifft. Es gibt solche Krankheiten, aber sie sind nicht effektiv genug. Die Menschen oder ihre Begleiter wie Haustiere, Ratten oder Ungeziefer könnten auch mehrere Krankheiten übertragen haben, die gemeinsam der einheimischen Tierwelt zusetzten. Wie auch immer: Die Krankheit wird sicherlich nicht das letzte Mammut getötet haben. Die Frage ist, ob sie im gesamten Lebensraum der Tiere so wenige Exemplare übrig lassen konnte, dass sich der Bestand nicht mehr erholte."

    "The trouble is we have no evidence."

    Dicke Krusten aus Asphalt und Sand überziehen einen großen Knochen. Ein junger Mann entfernt sie mit einer Art Miniaturpresslufthammer. Die lärmintensive Arbeit ist nicht sonderlich beliebt - und zum Glück für die insgesamt 50 freiwilligen Helfer auch nicht die Regel. Trevor Valle:

    "Wir setzen im paläontologischen Labor sehr starke Luftabzüge ein, weil wir beim Reinigen der Knochen den Asphalt mit Chemikalien wieder verflüssigen müssen. Hier reinigen wir die Knochen, sortieren, katalogisieren und identifizieren sie."

    Im Lagerraum hinter dem "Goldfischglas" stapeln sich die Holzboxen mit den geborgenen Knochen, Valle:

    "Alles, was Andie und ihr Grabungsteam aus Projekt 23 herausholen, landet bei uns im Labor. Wir haben große Mammutknochen hier, aber auch viele kleine Einzelknochen. Wir analysieren auch die Mikrofossilien, weil die uns etwas über die Umwelt verraten. La Brea ist cool, es ist phantastisch."

    Liebevoll zeigt Trevor Valle seine Schätze. Etwa die Zehenknochen einer Wasserschildkröte:

    "This is showing toes from a fresh-water-turtle that we have here. It is the Western Pond turtle. That is still alive today."

    Die Nachfahren der Pazifischen Sumpfschildkröten leben heute noch - und zwar dort, wo es Wasser gibt. Gerade die kleinen Knochen und Mikrofossilien verraten viel über die Umwelt. Deshalb widmet Trevor Valle ihnen einen großen Teil seiner Arbeit.

    "Wenn wir gleichzeitig auch noch kleine Wasserfliegen finden oder die Schalen von Wasserschnecken, bestärkt das den Verdacht, dass dort einmal ein Fluss war oder ein See, die Landschaft also ganz anders aussah als heute. Das untermauert auch das Pflanzenmaterial."

    Es sieht so aus, als sei vor 18.000 Jahren, als die jüngste Eiszeit ihren Höhepunkt erreichte, das Klima in Los Angeles kühler gewesen. So wie heute zwei oder drei Autostunden weiter nördlich: kein großer Unterschied, aber ein spürbarer. Ganz allgemein sollen Mikrofossilien und Pflanzenpollen Hinweise auf die Ursache der Aussterbewelle geben. So gab es eine Pflanzengemeinschaft aus speziellen Gräsern, Kräutern und niedrigem Buschwerk: die Mammutsteppe. Sie wuchs während der Vereisungsphasen quer durch Eurasien und Nordamerika - überall vor den Gletschern. Ross MacPhee:

    "Diese Pflanzengemeinschaft verschwand, als die Welt am Ende der letzten Eiszeit wärmer wurde und sich die Niederschlagsmuster änderten. Die Mitglieder dieser Pflanzengemeinschaft starben nicht aus, aber gingen sozusagen getrennte Wege."

    Vor allem russische Wissenschaftler vertreten die Idee, dass die Wollhaarmammuts von dieser Pflanzengemeinschaft abhingen. Ross MacPhee teilt die Sicht seiner Kollegen nicht:

    "So schlicht und einfach dieses Argument ist, am Ende ist es nicht stichhaltig. Der Grund: Bis vor kurzem haben wir geglaubt, dass im Norden der USA Wollhaarmammuts gelebt haben und im Süden Präriemammuts. Neue Forschungsergebnisse zeigen jedoch, dass sie ein- und dieselbe Art sind! Die Mammuts im Süden Nordamerikas lebten jedoch mit Sicherheit unter anderen Bedingungen als die in der kalt-trocken Mammutsteppe."!"

    Und noch ein Ergebnis spricht gegen die These: Eine Arbeitsgruppe der University of Wisconsin-Madison untersuchte jüngst nordamerikanische Seesedimente: Pollen, winzige Stücke Holzkohle und vor allem die Pilzsporen der Gattung Sporormiella, die darin steckten. Der Pilz pflanzt sich nur fort, wenn er den Darm eines Mammuts oder eines anderen großen Pflanzenfressers durchläuft, und so vermittelt die Zahl der Sporen einen groben Eindruck davon, wer damals alles unterwegs war, erklärt die Paläobiologin Blaire van Valkenburgh von der University of California in Los Angeles:

    ""Die Daten meiner Kollegen zeigen, dass die Vegetation der Mammutsteppe sich erst nach dem Aussterben der großen Pflanzenfresser verändert hat. Vorher gab es keine großen Verschiebungen. Die großen Tiere schufen und erhielten einen bestimmten Landschaftstyp. Als sie nicht mehr da waren, verschwand er."

    Untersuchungen von Mikrofossilien und Umwelt-DNA lassen für Blaire van Valkenburgh nur einen Schluss zu:

    "Es hat eine Weile gedauert, bis der Mensch die Megafauna ausgerottet hat. Ich bin ein Anhänger der Theorie, dass der Mensch dabei eine Rolle gespielt hat. Aber er hat die Welt nicht in ein Schlachthaus verwandelt. Es war wohl eher eine Kombination aus Umwelt- und Klimaveränderungen und dem Vordringen des Menschen, einem neuen Räuber im System."

    Der Mensch war danach eine neue Variable in der Gleichung, als sich das Klima - wie schon so oft zuvor - schnell umstellte. Er jagte die Kamele, Pferde und Mammuts. Zunächst unterstützten ihn dabei die großen Raubtiere, die jedoch selbst mehr und mehr ums Überleben kämpfen mussten, weil ihnen die Beute ausging.

    "Rancho La Brea zeigt ein Ökosystem voller Raubtiere, die ihre Beutetiere unter Kontrolle hielten. Dann kam ein neuer Fleischfresser dazu - nur ein einziger, aber ein ungewöhnlicher: der Mensch, der sehr flexibel viele verschiedene Arten erlegen konnte und sogar ohne Fleisch auskam - und das gab dann den Ausschlag. Eine Abwärtsspirale setzte ein, die dann im Lauf von ein paar tausend Jahren das System zusammenbrechen ließ."

    In Afrika - so die Idee - war das anders: Dort war der Mensch entstanden und schon lange Teil der Ökosysteme.

    Auch heute verschwinden zahllose Tierarten. Die Welt erlebt ein großes Sterben - und diesmal ist der Mensch ganz sicher die Ursache. Die Besucher des Page-Museums denken nicht darüber nach. Sie sind fasziniert von Mammut Zed Trevor Valle:

    "Das Ding, das da aus Zed‘s Kinn herauswächst, ist nicht normal. Sein Skelett zeigt uns, das er an Morbus Bechterew litt, einer rheumatischen Erkrankung, bei der es zu anomalem Knochenwuchs kommen kann. Er war ein großer Mammutbulle, aber einer mit Problemen."

    Als Zed starb, war er im besten Alter, Ende 40 - und hatte drei gebrochene Rippen auf der rechten Seite. Valle:

    "Deshalb fühle ich mich diesem Mammut ein bisschen verbunden: Auch ich habe rechts drei gebrochene Rippen, auch ich leide an einer entzündlichen Arthritis - und wir haben beide so ein komisches Ding an unserem Kinn hängen. Ich werde ihn mir später wohl tätowieren lassen."

    Zed gehört nicht zu den Opfern des Teers, sondern brach vermutlich geschwächt am Ufer eines Flusses zusammen. Heute ist er Teil von Rancho La Brea - und lässt ahnen, wie die Welt einmal war.