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Das Ende der Systemtheorie

Zwei chaotische italienische Spitzen ohne System gegen den Diplomingenieur-Fußball Made in Germany mit System. Präzises Kurzpassspiel gegen chaotische Systemverweigerung: Beim Spiel der Deutschen gegen die Italiener sah auch das System Löw nicht gut aus.

Von Christian Gampert | 29.06.2012
    Bei der Konzeption eines Fußballspiels durch den Regisseur (auch Trainer genannt) überlagern sich, analytisch gesehen, zwei Welten: die des Intellekts und die des Glaubens. Okay, der Leib spielt auch eine gewisse Rolle, die Fans, die korrupten Verbände, das Schiedsrichterwesen. Aber wenn wir uns rein auf das Spiel als solches konzentrieren, so müssen wir konstatieren: In den letzten Jahren hat eine ungeheuerliche Systematisierung des Fußballsports stattgefunden, die gerade vom Trainer der deutschen Mannschaft, Joachim Löw, entscheidend vorangetrieben wurde. Alles wird von ihm systemisch betrachtet. So wie man in der Familientherapie systemisch vorgeht, so wie die Studentenbewegung das System infrage stellte, so hat Joachim Löw ein System gefunden, in dem lauter Variablen, Bausteine, Spieler gegeneinander verschoben und zu einem großen, erfolgreichen Ganzen verwoben werden.

    Anders gesagt: Jogi Löw ist der Niklas Luhmann des DFB, nur dass er nebenbei auch noch als Praktiker wirkt. Die dunkle, die Kehrseite des Löwschen Denkens ist der Statistikwahn, der jetzt bis in die Fernsehberichterstattung vorgedrungen ist. Jeder Zweikampf, jeder Querpass, jede Ballberührung wird gnadenlos registriert, und der Mittelstürmer, der 80 Minuten im Strafraum rackert und dann das entscheidende Tor schießt, muss sich hinterher von den Statistikern beschimpfen lassen: schlechte Laufwege, keine Bindung zum Spiel, zu wenige Ballkontakte.

    Der andere Faktor, der ein Spiel entscheidet, ist aber der Glaube – nicht unbedingt der katholische, sondern das, was der Psychologe Motivation nennt. Wenn man gestern die italienischen Spieler beim – man muss sagen - frenetischen Absingen ihrer Hymne beobachtete, konnte man auf den Gedanken kommen, dass das Nationale beim Fußball dann doch eine größere Rolle spielt als das Internationale, repräsentiert durch die vorbildliche deutsche Multikultitruppe, die nationalreligiös völlig unmusikalisch ist, wie Habermas es ausdrücken würde. So spielten sie dann auch: knallhart und übermotiviert die einen, kühl und kalkuliert die anderen. Rein systemisch gesehen hätte das ein wunderbares Unentschieden nebst Verlängerung und anschließendem Gottesurteil durch Elfmeterschießen geben können – wenn, ja wenn das Irrationale, das Religiöse, der feste Glaube an das absolut Unwahrscheinliche nicht schon vor dem Anpfiff seinen Sieg davongetragen hätte.

    Joachim Löw, der Systemdenker, hatte offenbar in der Nacht zuvor okkulten Praktiken gehuldigt und sowohl den indiskutabel formschwachen Lukas Podolski als auch den auf Notstromaggregat laufenden Bastian Schweinsteiger in seine Aufstellung geschrieben.

    Seinem Poldi hält der Intellektuelle Löw eine Art Nibelungentreue, und bei dem ausgepumpten, dauerverletzten Schweinsteiger muss es der Kinderglaube an den Messias sein: Schweini sei ein "emotionaler Leader", wichtig für die Mannschaft et cetera. Das ist mystisches Denken, mitten im durchrationalisierten Profifußball. 90 Minuten lang schleppte sich Schweinsteiger über den Platz, 90 Minuten hatte Löw Zeit zum Auswechseln. Er tat es nicht, denn Schweini ist heilig. Sein Fleisch ist willig, aber derzeit marode. Löws Kopf auch. Der Philosoph Trapattoni würde sagen: Flasche leer. Aber der hat gut lachen: Er ist Italiener.