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Das Ende des österreichischen Opfer-Mythos

Die Wahl Kurt Waldheims zum österreichischen Bundespräsidenten 1986 erschütterte die Alpenrepublik. Zwar wurde der hochrangige Wiener Diplomat trotz seiner unklaren NS-Verstrickungen gewählt. Die Debatte aber brachte den Opfer-Mythos ins Wanken.

Von Günter Kaindlstorfer | 10.06.2013
    "Ich habe, und das habe ich auch nie in Abrede gestellt, nach 38, als ich an der Konsularakademie studierte, ein paarmal, vielleicht drei-, viermal, an reitlichen Sportveranstaltungen teilgenommen." (Kurt Waldheim)

    "Unsere erste Anklage ist, dass Waldheim ein Nazi war. Waldheim hat sich ständig widersprochen in seinen Bemühungen, die jeweils neuen Beweise über seine Vergangenheit zu widerlegen." (Israel Singer, WJC)

    "Der SPÖ ist es völlig egal, ob Waldheim bei der SA war. Wir nehmen zur Kenntnis, dass nicht er bei der SA war, sondern nur sein Pferd bei der SA gewesen ist." (Bundeskanzler Fred Sinowatz)

    "Im Jahr 40 war ich bei der deutschen Wehrmacht eingerückt als Soldat, wie Hunderttausende Österreicher auch, die ihre Pflicht erfüllt haben, das möchte ich hier feststellen." (Kurt Waldheim)

    "Damit ist Herr Dr. Kurt Waldheim zum Bundespräsidenten der Republik Österreich gewählt." (Innenminister Karl Blecha)

    Es war ein turbulentes Jahr für die zweite österreichische Republik, das Jahr 1986. Nicht nur, dass Kurt Waldheim nach einem hitzigen Wahlkampf mit deutlich antisemitischen Untertönen von einer satten Mehrheit der österreichischen Bevölkerung zum Bundespräsidenten gewählt wurde. Anno ‘86 ließ sich auch ein deutschnationaler Feschak auf einem tumultuarischen Parteitag der "Freiheitlichen Partei" in Innsbruck von einer begeisterten Anhängerschar auf den Schild des Parteivorsitzenden der FPÖ heben. Sein Name: Jörg Haider. Bei den Nationalratswahlen im November desselben Jahrs verdoppelte der charismatische Rechtsradikale den Stimmenanteil seiner FPÖ auf knapp zehn Prozent, eine Marke, die Haider bis zum Jahr 2000 noch verdreifachen sollte. 1986 aber war auch das Jahr, in dem ein deutscher Regie-Revoluzzer namens Claus Peymann zum Direktor des Burgtheaters ernannt wurde und die, wie er fand, politisch verschnarchte Alpenrepublik mit Provokationen und theatralischen Interventionen verschiedenster Art aufzumischen begann. Schließlich nützten die österreichischen Grünen 1986 den Schock der Tschernobyl-Katastrophe, um bei den Nationalratswahlen im November erstmals ins Parlamentsgebäude auf der Wiener Ringstraße einzuziehen.

    Die sogenannte "Affäre Waldheim" aber war der politische Dreh- und Angelpunkt des Jahres ‘86 in Österreich. In seiner Studie "Waldheim und die Folgen" zeichnet der Frankfurter Politikwissenschaftler Cornelius Lehnguth den Karriere-Diplomaten Kurt Waldheim als leibhaftige Verkörperung der österreichischen Lebenslüge nach 1945, die Österreich und die Österreicher als erste Opfer Hitlers präsentiert hatte, während doch in Wirklichkeit Hunderttausende Wiener, Salzburger, Bregenzer und ihre Familien begeistert mitgemacht hatten bei der Hitlerei. Lehnguth schreibt:

    Manche medialen Angriffe gegen Waldheim, wie der seitens einer US-amerikanischen Boulevardzeitung, er sei ein "SS-butcher" gewesen, waren sowohl ungerecht als auch der Debatte unangemessen. Doch auch Waldheim selbst reagierte nicht angemessen auf die Vorwürfe. Er wies sie alle kategorisch von sich, sprach stets von einer "groß angelegten Verleumdungskampagne" gegen seine Person und verteidigte seine Rolle als Nachrichtenoffizier auf dem Balkan mit der Bemerkung, er sei als Soldat in die Wehrmacht eingerückt ‚wie Hunderttausende Österreicher auch, die ihre Pflicht erfüllt hätten‘.

    Es waren nicht zuletzt die Wählerinnen und Wähler der Kriegsgeneration, die dem habituellen "Pflichterfüller" Waldheim zu seinem triumphalen Wahlsieg verholfen haben. Zugleich – und das darf man als Paradox sehen – markierte die "Affäre Waldheim" einen Paradigmenwechsel in der österreichischen Geschichtspolitik. Kurt Waldheim mochte die Wahl gewonnen haben, die Kritik an seiner Person, die von Intellektuellen und Künstlern wie Alfred Hrdlicka, Doron Rabinovici und Elfriede Jelinek getragen wurde, diese Kritik läutete im Verein mit leidenschaftlichen Debatten über Österreichs NS-Verstrickungen den Anfang vom Ende des österreichischen Opfer-Mythos ein, wie Cornelius Lehnguth in seinem Buch überzeugend herausarbeitet. Anstelle des heuchlerischen Opfer-Narrativs sei, zumindest in den meinungsbildenden Teilen der österreichischen Gesellschaft, ein "Mitverantwortungsnarrativ" getreten, so Lehnguth.

    Die österreichische Erinnerungslandschaft stellt sich heute heterogen dar. Nach der Erosion der Opferthese entstand kein neues hegemoniales Narrativ, wenngleich die Mitverantwortungsthese dadurch, dass sie in einem hohen Maß multiperspektivisch angelegt ist, viele – partiell gegeneinander laufende – Teilerzählungen in hybrider Form in sich vereinen kann, so dass sie sich ab Anfang der 1990er Jahre zu einer beliebten Argumentationsfigur entwickelte.

    Die wissenschaftliche Terminologie, deren sich Lehnguth bedient, ist nicht immer ganz leicht verdaulich. Dennoch beeindruckt das Buch des Frankfurter Politikwissenschaftlers durch seinen Faktenreichtum und die Fülle an Material, die der emsig recherchierende Autor da in jahrelanger Forschungsarbeit zusammengetragen hat. Wer Österreich und seine zuweilen doch recht bizarre Politiklandschaft verstehen will, findet in Lehnguths Buch eine Vielzahl an interessanten Erklärungsansätzen.

    Cornelius Lehnguth: Waldheim und die Folgen
    Der parteipolitische Umgang mit dem Nationalsozialismus in Österreich.
    Campus Verlag, 521 Seiten, 45 Euro