Donnerstag, 28. März 2024

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Das Erbe

Viele Exil-Palästinenser waren ins Kölner Literaturhaus gekommen, um sie zu erleben. An diesem Abend stellte die palästinensische Autorin Sahar Khalifa ihr neuestes Buch "Das Erbe" vor. Der verschmitzten Frau mit kurz geschnittenen dunklen Haaren sieht man ihre 60 Lenze kaum an. Ihre direkte Art das Publikum anzusprechen und alle im Sturm zu erobern, zeigt sofort, dass hier keine Träumerin sitzt. Die Leiterin eines Frauenzentrums in Nablus und Autorin zahlreicher feministischer Romane gehört zu den Pionierinnen der palästinensischen Frauenbewegung. Auch in ihrem sechsten Roman geht es um die Frauenfrage, die die Autorin in den Kontext der kulturellen, politischen und sozialen Lage ihres Heimatlandes stellt. Der Titel des Romans "Das Erbe" ist Programm. Khalifa:

Sibylle Kroll | 11.04.2002
    Wir sind auf der Suche nach unseren Wurzeln, denn wir stehen der zionistischen Bewegung gegenüber, die unsere wahre Identität bedroht. Um die eigenen Wurzeln zu verteidigen, musst du ihren Ursprung in Kultur und Erziehung finden und in dem was du von deinen Vätern an Land und Besitz geerbt hast. Wenn du aber enterbt bist, so bist du verloren. Genau dieser Bedrohung sind wir Palästinenser seit 1948 ausgesetzt, da wir seitdem enterbt und in alle Welt zerstreut sind.

    Dass die Frauen gleichsam doppelt enterbt sind - als Palästinenserinnen und als Frauen - wird im Roman mehr als deutlich. Geschickt und mit einer gehörigen Prise Humor verpackt Khalifa dieses facettenreiche Thema in die Geschichte einer Identitätssuche. Zena, die Tochter eines palästinensichen Auswanderers und einer US-Amerikanerin macht sich von New York nach Palästina auf, um den sterbenden Vater ein letztes Mal zu sehen. Diese Reise in das ihr unbekannte Land des Vaters soll die erfolgreiche aber vereinsamte Anthropologin auch von dem Gefühl zunehmender Zerrissenheit und Entfremdung kurieren, für das sie die Kultur ihrer Mutter verantwortlich macht. Im Westjordanland lernt sie ihre weitverzweigte väterliche Familie kennen. Während sie nach ihrem kulturellen Erbe sucht, streiten die Verwandten um den materiellen Nachlass des Vaters. Dessen lebenshungrige und listenreiche Witwe Fitna verzögert durch die Ankündigung ihrer gänzlich unerwarteten Schwangerschaft die Aufteilung des Erbes um ereignisreiche neun Monate. Dies gibt Zena ausreichend Zeit, die Sehnsüchte und verlorenen Hoffnungen ihrer Verwandten auszuloten, etwa ihrer einsamen Kusine Nahla. Sie ist ein gutes Beispiel für die komplexen Figuren dieses Romans, die mit ihren Licht- und Schattenseiten überaus plastisch gezeichnet sind. Die gebildete Fünfzigjährige hat ihre Jugend dem Wohl der Familie geopfert. Nun bringt sie durch ihre verzweifelte Suche nach romantischer Erfüllung alle Beteiligten in eine verhängnisvolle Lage. Hier thematisiert Sahar Khalifa ein bislang verdrängtes Stück palästinensischer Frauengeschichte:

    Diese Frauen haben wir seit 1948! Als ich klein war, strömten zahllose Lehrerinnen aus Palästina nach Kuwait. Sie verloren völlig den Kontakt zu ihren Familien und dem Leben in der Heimat. Lebten nur in der Wüste um Geld zu verdienen und es nach Hause zu schicken. Es waren Tausende, sogar Millionen von Frauen, die von der eigenen Familie ausgebeutet wurden, um die Erziehung ihrer Brüder zu finanzieren, ihre Väter zu unterstützen. Als sie später in ihre Gesellschaft heimkehrten, kümmerte sich niemand um sie. Erstmals hat jemand den Mut, dieses Tabu zu brechen und über sie zu sprechen.

    "Das Erbe" beschreibt den Zustand der palästinensischen Gesellschaft um 1997. Es ist die Zeit der vorsichtigen Hoffnung auf Normalisierung nach dem Vertrag von Oslo und vor dem Beginn der Aqsa-Intifada im September 2000. Doch die drohenden Vorzeichen einer nahen Katastrophe sind deutlich zu spüren. Am Ende des Romans entlädt sich die wachsende Spannung in einem geplatzten Fest und am Checkpoint vor Jerusalem, wo persönliches Schicksal und politische Lage sich unheilvoll kreuzen.

    Der von Regina Karachouli hervorragend übersetzte Roman hat auch Schwächen. So wäre zu bemängeln, dass die anfangs sehr präsente Figur der Ich-Erzählerin Zena zunehmend in der Rolle einer gesichtslosen, allwissenden Chronistin untergeht. Wie hat der Aufenthalt Zena verändert? Kann sie ihre Lebenskrise überwinden? Diese Fragen verlieren sich im Laufe des Romans. Sahar Khalifas Witz, ihr direkter, drastisch-lebendiger Stil und die Vielzahl weiterer interessanter Figuren entschädigen allerdings für diesen fallen gelassenen Handlungsstrang . Ihr Roman gibt einen schonungslosen, humorvollen Einblick in eine aufgewühlte, ziellos gewordene Gesellschaft. Die zerstörerische Wirkung allgegenwärtiger latenter und offener politischer Gewalt auf Alltag und Psyche könnte in keiner Reportage ähnlich prägnant geschildert werden.