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"Das Flugblatt als Seismograf"

"Friede den Hütten, Krieg den Palästen" lautete eine Geschichte machende Parole auf einer seiner revolutionären Flugschriften. Verteilt wurde sie in Hessen im deutschen Vormärz von dem jungen Medizinstudenten Georg Büchner, der mit seinen Dramen wie Dantons Tod oder Leonce und Lena Berühmtheit erlangen sollte.

Von Friederike Biron | 13.10.2013
    Im Sommer 1835 lassen die Hessischen Ermittlungsbehörden im renommiertesten Blatt Süddeutschlands, dem Frankfurter Journal, einen Steckbrief verbreiten:

    "Der hierunter signalisierte Georg Büchner, Student der Medizin aus Darmstadt, hat sich der gerichtlichen Untersuchung seiner indizierten Teilnahme an staatsverräterischen Handlungen durch die Entfernung aus dem Vaterland entzogen. Man ersucht deshalb die öffentlichen Behörden des In- und Auslandes, denselben im Betretungsfalle festzunehmen und abzuliefern."

    Die gesuchte Person war nicht nur Hochverräter, sondern auch Schriftsteller. Er verfasste mit dem Hessischen Landboten eine furiose Agitationsschrift. Danach warf er in kaum sechs Wochen Dantons Tod, ein Historiendrama von Shakespeareschen Ansprüchen aufs Papier. Derselbe schrieb ein Lustspiel, das verträumt über die Bretter schwebt: Leonce und Lena. Er begann eine Künstlernovelle, Lenz, die den Beginn der modernen psychologischen Prosa markiert. Und hinterlässt ein unvollendetes Theaterstück, Woyzeck, dessen Brisanz in seiner Schilderung sozialer Drastik ungebrochen ist. Die Personenbeschreibung in den Polizeiakten gibt uns genauere Auskunft über sein Auftreten:

    "Blond, etwas am Kinne und schwacher Schnurrbart" - "Düsteren, nach der Erde gesenkten Blick" - "dem Anscheine nach kurzsichtig, trägt zuweilen eine Brille [...] Geht etwas einseitig. - Wahrscheinliche Kleidung: runder schwarzer Hut; Rock: blautüchner, einer Art Polonaise mit Schnüren auf Brust und Rücken, sog. Blattlitzen; Beinkleider: unbekannt; Stiefel: gewöhnlich."

    Wie geriet der 21-Jährige auf die Fahndungsliste? Blicken wir auf die deutsche Kleinstaaterei um 1835. Das Großherzogtum Hessen ist noch eine erbliche Monarchie. Das Gros der Bevölkerung ist arm. Vor allem in den ländlichen und noch vorindustriellen Landesteilen kommen die Menschen nicht an gegen die feudalen Dienste, Abgaben und Steuern.

    Georg Büchner, geboren am 17. Oktober 1813, Sohn eines Darmstädter Arztes und Student der Medizin und Naturwissenschaften, teilt mit vielen jungen Akademikern den Oppositionsgeist der Epoche. Gerade kommt er aus Straßburg, mit 60.000 Einwohnern eine Großstadt. Das Straßburger Münster ist das höchste Gebäude Europas. Büchners frankophiler Vater hat ihm dort zwei Jahre Auslandsstudium ermöglicht - und damit Anschluss an das politisch unruhige Gedankengut aus dem Frankreich nach der Julirevolution.

    Der leidenschaftliche Student gründet nach französischem Vorbild eine Sektion der "Gesellschaft für Menschenrechte". Die Epoche, in der allenthalben um die Pressefreiheit gerungen wird, ist die Zeit der Flugblätter. Und so schreibt auch Georg Büchner. Seine politische Strategie hat er sich bereits zurechtgelegt. Der Titel seines Aufrufs ist legendär und er wird immer wieder aufgerufen: Friede den Hütten, Krieg den Palästen. Nicht die einzelne Aktion, nur die große, vom ganzen Volk getragene Revolution kann Erfolg bringen.

    So gerät ihm der Text, revolutionär auch in der Expression, zu einem leidenschaftlichen Lamento gegen die Zumutungen des Status quo. Den kühnen Entwurf erdet er mit Zahlen und Statistik. Er schlüsselt die Steuereinnahmen des Großherzogtums Hessen auf und nimmt die Regierung und ihre zahllosen Beamten, Räte und Sekretäre ins Visier:

    "Die Töchter des Volks sind ihre Mägde und Huren, die Söhne des Volks ihre Lakaien und Soldaten. Geht einmal nach Darmstadt und seht, wie die Herren sich für euer Geld dort lustig machen, und erzählt dann euren hungernden Weibern und Kindern, dass ihr Brot an fremden Bäuchen herrlich angeschlagen sei, erzählt ihnen von den schönen Kleidern, die in ihrem Schweiß gefärbt, und von den zierlichen Bändern, die aus den Schwielen ihrer Hände geschnitten sind, erzählt von den stattlichen Häusern, die aus den Knochen des Volks gebaut sind; und dann kriecht in eure rauchigen Hütten und bückt euch auf euren steinigen Äckern [...]"

    Die Einzelheiten der Verschwörung, die sich um Büchners berüchtigtes Flugblatt spinnt, lassen sich recht genau historisch nachzeichnen - durch Berichte, Briefe und einen Stoß Akten. Tatsächlich ging es um heimliche Treffen, falsche Fährten, eine unter Dielen versteckte Druckerpresse - und schließlich Verrat, Hausdurchsuchungen, Verhöre und knappe Flucht.

    Nicht für alle Mitverschwörer endete die Affäre so glimpflich wie für Büchner. Etwa für Dr. Friedrich Ludwig Weidig. Der Theologe und Rektor in Butzbach ist einer der führenden Oppositionellen in Hessen. Er spürt den Sog von Büchners Agitationsschrift, aber greift vor dem Druck in den Entwurf ein: Er mildert die Angriffe gegen die Liberalen und fügt heilsgeschichtliche Bibelzitate ein. Büchner ist "außerordentlich aufgebracht", nimmt die Änderungen aber schließlich hin.

    Nicht nur die Verfasser und Verbreiter kann es ins Gefängnis bringen. Dem Text steht eine Warnung voran: Wer immer mit der Flugschrift angetroffen werde, solle behaupten, er wolle gerade zum Amt damit laufen. Denn auch die Staatsmacht überzeugte die unerhörte Sprachmacht dieses Papiers. Die auf zwei Blättern gedruckte, mehrfach gefaltete Flugschrift wird als die gefährlichste ihrer Art verbucht. Das Establishment aber weiß sich zu helfen. Bald ist ein Verräter gekauft. Und Büchner wird per Steckbrief gesucht. Pfarrer Weidig wird gefasst. Nach zwei Jahren Haft verblutet er in seiner Zelle. Georg Büchner, ihm wären nach seiner Verhaftung zehn Jahre Arrest sicher gewesen.

    Er geht in Deckung. Ohne Illusionen, die Angst im Nacken. Im elterlichen Haus in Darmstadt beschließt er das Ende seiner Revolutionärslaufbahn und bereitet heimlich seine Flucht nach Straßburg vor. Doch vorher möchte Büchner noch sein neues Projekt beenden. Er schreibt an einem Theaterstück. Von ihm verspricht er sich auch ein Honorar und somit ein kleines Kapital für das Exil. Er arbeitet hastig - wenn jemand das Zimmer betritt, verbirgt er das Manuskript unter den Biologischen Fachbüchern und Tafeln. Und so gelingt ihm in aller Skrupellosigkeit und Eile ein Drama von Weltrang, findet er mit einem Male zu seiner ganzen Ausdruckskraft. Büchner leitet die revolutionäre Energie in Literatur um. Oder, um es mit Arnold Zweig zu sagen:

    "So günstig hatte dem Drama noch keine Stunde geschlagen. Alle Mächte der Zeit verwiesen diesen jungen Menschen auf sich selbst."

    In rhetorischen Schlachten begegnen sich mit Robespierre und Danton der strenge Gesinnungsfuror der Jakobiner und das realistische Machtkalkül der Dantonisten. Die beiden Protagonisten ringen um die Gefolgschaft eines dritten Hauptdarstellers - des Volkes. In pathetischer Prosa, auf den Vers verzichtend, fügt Büchner wörtliche Passagen seiner Quellen, vor allem aus historischen Zeitschriften, ein - der Zeitnot geschuldet oder nicht: ein hochmoderner Kunstgriff. Dazwischen die unvergesslichen Frauengestalten Julie, Lucile und die sehnsüchtig lustvolle Marion. Bis die Würfel und damit das Fallbeil der Guillotine zu Ungunsten Dantons fallen. Danton verzichtet auf die Flucht. Halb ungläubig, halb resigniert erkennt er:

    "Wir haben nicht die Revolution gemacht, sondern die Revolution hat uns gemacht."

    Das ist der pessimistische Ton, den Büchner bereits vor seinen revolutionären Umtrieben angeschlagen hatte. Im sogenannten "Fatalismus-Brief" vom Januar 1834 hatte er formuliert:

    "Ich studierte die Geschichte der Revolution. Ich fühlte mich wie zernichtet unter dem grässlichen Fatalismus der Geschichte. Ich finde in der Menschennatur eine entsetzliche Gleichheit, in den menschlichen Verhältnissen eine unabwendbare Gewalt, Allen und Keinem verliehen. Der Einzelne nur Schaum auf der Welle, die Größe ein bloßer Zufall, die Herrschaft des Genies ein Puppenspiel, ein lächerliches Ringen, gegen ein ehernes Gesetz, es zu erkennen das Höchste, es zu beherrschen unmöglich [...] Ich gewöhnte mein Auge ans Blut. Aber ich bin kein Guillotinenmesser. Das Muss ist eins von den Verdammungsworten, womit der Mensch getauft worden. Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt?"

    Wie das Flugblatt, der Hessische Landbote, findet auch Dantons Tod einen wohlmeinenden Entschärfer. Karl Gutzkow war der Redakteur von Büchners Frankfurter Verleger Sauerländer. Er fungiert als eine Art Impressario der "Junges Deutschland" genannten Literatengruppe. Mit Heinrich Heine und anderen wird auch er durch einen Beschluss des Frankfurter Bundestags 1835 verboten und festgesetzt - wegen Angriffs auf "Zucht und Sittlichkeit".

    Gutzkow rühmte sich zu Recht, als Erster das Talent Büchner entdeckt zu haben. Er verhilft dem Danton als Einzigem von Büchners Stücken zu seinen Lebzeiten zum Druck. Vorher redigiert er die Unzahl an sexuellen Eindeutigkeiten, die Büchner seinen Figuren in den Mund legt. Es herrsche, so Gutzkow, eine wilde Sansculottenlust in der Dichtung; die Erklärung der Menschenrechte wandele darin auf und ab, nackt und nur mit Rosen bekränzt. So hätte eine Veröffentlichung keiner Zensur standgehalten. Gutzkow übernimmt es, wie er Büchner schreibt,

    "die Quecksilberblumen Ihrer Fantasie [...] halb und halb zu kassieren".

    Quecksilberblumen - eine Anspielung auf die Syphilis, die man mit Quecksilber behandelte. Zur freien Lust gehört zugleich ihre Nachtseite, die Geschlechtskrankheiten. Der Naturwissenschaftler Büchner weiß das.
    Auch die anderen Stücke Büchners sind voll sexueller Derbheiten und Zartheiten. Mit diesen sozialen Direktheiten formte er den Realismus seiner Literatur.

    In der nicht fiktionalen Welt hatte er sich dagegen schon sehr früh gebunden. Wilhelmine Jaeglé, Minna genannt, war die Tochter seines Straßburger Vermieters, eines hoch belesenen Pastors. Sie war zweiundzwanzig. Er war achtzehn. Sie halten die Verlobung vorerst geheim - für den Vater des Studenten hatte die Verbindung den Geschmack einer Mesalliance. Auch band man sich damals keineswegs, bevor man ausgebildet und fest im Leben stand. Dass die Halbwaise Minna sich in den leidenschaftlichen Studenten verliebte, kann man ihr kaum verdenken. Allerdings, dass sie später Manuskripte und alle seine Briefe an sie vernichtete. Nur wenige Auszüge hatte sie für die Familie abgeschrieben.

    Die Reaktion des Vaters auf die Nachricht von der Verlobung hat der Sohn erwartet. Sie passt zu der Art des Vorbildes, das Ernst Büchner seinen Kindern sein wollte. Am liebsten sah er sie alle in fleißiger Arbeit beisammensitzen. Seine Fürsorge war die ständige Ermahnung zu Ehrgeiz und Vorankommen. Sie fruchtete anscheinend und bescherte ihm durchweg erfolgreiche Kinder: Eine der Schwestern, Louise, wird erfolgreiche und frauenbewegte Schriftstellerin. Alexander, der jüngste, reüssiert als Literaturhistoriker. Und Ludwig Büchner - nach seinem Hauptwerk und Bestseller der "Kraft und Stoff"-Büchner genannt, wird lange weit mehr Bekanntheit als sein Bruder genießen.

    Und Georg, sein Ältester? Dem der Medizinalrat in einer Familie, in der die Medizin und Chirurgie Tradition hatte, sein Handwerk samt Anatomischer Tafeln und Fachbüchern vererben wollte? Georgs geheime revolutionäre Umtriebe mussten seine Missbilligung finden: eine Disziplinlosigkeit! Es ist ein Bruch zwischen Vater und Sohn - allerdings ein vorläufiger. Denn Georg Büchner verliert keineswegs seine akademische Laufbahn aus den Augen.

    Er schreibt eine aufwendige naturwissenschaftliche Promotion und bereitet philosophische Vorlesungen vor. Sein Ziel ist eine Dozentur an der Hochschule Zürich. Er nimmt diverse bürokratische Hürden, erhält den sogenannten "Laufpass" in die Schweiz und kann die Grenze unbehelligt passieren. Ab Oktober 1836 bezieht er, inzwischen Doktor, sein Quartier in der Spiegelgasse am linken Limmatufer und ist bald darauf als Dozent zugelassen. Erst jetzt, als sein Leben wieder im Korsett einer bürgerlichen Ordnung angekommen ist, trifft wieder ein Brief vom Vater ein:

    "Meine Besorgnis um Dein künftiges Wohl ist bisher noch zu groß, und mein Gemüt war noch zu tief erschüttert durch die Unannehmlichkeiten alle, welche du uns durch Dein unvorsichtiges Verhalten bereitet und gar viele trübe Stunden verursacht hast, als dass ich mich hätte entschließen können, in herzliche Relation mit Dir zu treten. Nachdem du nun aber mir den Beweis geliefert, dass du diese Mittel nicht mutwillig oder leichtsinnig vergeudet, ein gewisses Ziel erreicht hast, und ich mit Dir über Dein ferneres Gedeihen der Zukunft beruhigt entgegensehen darf, sollst Du auch sogleich wieder den gütigen und besorgten Vater um das Glück seiner Kinder in mir erkennen."

    Die Fürsorge dieses Vaters ist von befremdlicher Sachlichkeit. Doch darf man nicht verkennen, was der Sohn und sein Werk diesem naturwissenschaftlichen Gestus verdanken. Es ist nicht nur das unermüdliche Arbeitsethos, das Büchner das gewaltige Pensum von Studium und literarischer Arbeit bewältigen lässt. Es ist auch der physiologische Zugriff auf die Dinge. Auch mit dem Schreibgerät hantiert Büchner wie mit dem Seziermesser. Seine Sätze legen die Dinge frei von ihrer metaphysischen Mantelschicht und forschen nach ihren physischen Gründen. Seine literarischen Gestalten sind wieder und wieder zurückgeworfen auf die Gegebenheiten ihrer körperlichen Existenz.

    Tatsächlich sezierte er täglich frische Flussbarben, Hechte, Karpfen, Barsche - und Menschen. Die anatomischen Studien betrieb Büchner in Vorbereitung seiner Promotion. Der Schwerpunkt seiner Studien scheint kaum zu überraschen, wenn man an die Worte Dantons denkt: Man müsse sich die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren, um sich zu kennen. Der junge Forscher legt Gehirnnerven frei. Auf seine beeindruckende Arbeit Sur le système nerveux du barbeau, Über das Nervensystem der Flussbarben, übersendet ihm die Universität Zürich mit der Promotionsurkunde gleichzeitig die Einladung zu einer Probevorlesung. Er hält sie über Schädelnerven.

    Blicken wir auf das literarische Manuskript, das er für sein akademisches Fortkommen als Fragment beiseitelegt: Auch hier nimmt er Nerven unter die Lupe. Mit der Erzählung Lenz, die Heiner Müller "Prosa aus dem 21. Jahrhundert" nannte, betritt Büchner terra inkognita. Der Text schildert die Pathologie eines Künstlergemüts, festgehalten in dem Moment, als es in den Wahnsinn kippt. Büchner war der Bericht eines Pfarrers namens Oberlin in die Hände gefallen, über den denkwürdigen Besuch des Sturm-und-Drang-Dichters Lenz im elsässischen Steintal. An Jakob Michael Reinhold Lenz, dem Dichter des Hofmeister und der Soldaten, interessieren Büchner hier nicht seine Werke, sondern sein tragisch geendetes Leben. Seine Erzählung beschreibt das Individuum, gefangen in einer psychotischen Krise.

    Vor den Zumutungen der Ebenen sucht Lenz Rettung in den Höhen der Bergwelt, in Natur und Religion, den Seelsorger Oberlin an seiner Seite. Er scheitert endgültig. Die Erzählung setzt ein mit Lenz’ Wanderung durchs Gebirge. Schon nach wenigen Zeilen folgt die Irritation mit dem Satz:

    "Nur war es ihm manchmal unangenehm, dass er nicht auf dem Kopf gehen konnte."

    Die Welt ist verkehrt. Die innere Verstörtheit zieht die Gewissheiten der Schwerkraft in Zweifel. Am Ende gibt es für Lenz keine Heilung mehr.

    "Die Welt, die er hatte nutzen wollen, hatte einen ungeheuren Riss."

    Der Riss in der Welt - er markiert den Abschied von den Tröstungen, die in früheren Zeiten der Glaube geboten hatte. Ganz bei sich ist Lenz nur in dem sogenannten "Kunstgespräch". Hier verteidigt seine Figur Georg Büchners eigene Poetik. Es birgt den Leitfaden seines Kunstwollens: eines Realismus, der alles Idealisierende, alles Normierende verachtet:

    "Der liebe Gott hat die Welt wohl gemacht, wie sie sein soll, und wir können wohl nicht was Besseres klecksen, unser einziges Bestreben soll sein, ihm ein wenig nachzuschaffen. Ich verlange in allem Leben, Möglichkeit des Daseins, und dann ist’s gut; wir haben dann nicht zu fragen, ob es schön, ob es hässlich ist, das Gefühl, dass was geschaffen sei, Leben habe, stehe über diesen beiden, und sei das einzige Kriterium in Kunstsachen."

    Vor der Folie dieser Realismusforderung muss Büchners zweites Drama irritieren. Prinz Leonce und Prinzessin Lena, in der Langeweile des dolce far niente gefangen, fliehen vor der Zwangsehe und verlieben sich doch inkognito - es findet sich, was zusammengehören soll. Eine heile Welt, wie sie künstlicher, artifizieller nicht sein kann. Wie passt das zu Lenz‘ Naturalismus-Gedanken? Das Lustspiel wurde lange abgetan als schablonenhafter Rückfall in die Literaturkomödie der Romantik, nicht stimmig mit dem anderen, dem "eigentlichen" Büchner-Stil. Und wirklich sind Brentano und Chamisso deutlich spürbar - aber auch Shakespeare und Jean Paul. Doch gleichzeitig steckt das Stück voller Spitzen gegen das Unendlichkeitspathos der Romantiker.

    Tatsächlich oszilliert es zwischen der Nachahmung eines Stils - und zugleich dessen karikaturhafter, ironischer Überhöhung. Es trägt die parodistische Zeichnung einer spätabsolutistischen höfischen Welt, besiedelt von Marionetten und Maschinenmenschen. So dringt die Realität durch potenzierten Sarkasmus in die Artistik des Stückes vor: Der König knüpft sich einen Knoten ins Schnupftuch:

    "An was wollte ich mich erinnern? Ja, das ist’s. - Ich wollte mich an mein Volk erinnern."

    Die Auslegungsdebatten - romantisch, nihilistisch, poésie pure oder absurd - entzünden sich letztlich am Happy End des Stücks. Und der Frage, wie viel Ernst oder Sarkasmus Büchner in diese Utopie legte:

    "Wir lassen alle Uhren zerschlagen, alle Kalender verbieten und zählen Stunden und Monden nur nach der Blumenuhr, nur nach Blüte und Frucht. Und dann umstellen wir das Ländchen mit Brennspiegeln, dass es keinen Winter mehr gibt und wir uns im Sommer bis Ischia und Capri hinaufdestillieren, und wir das ganze Jahr zwischen Rosen und Veilchen, zwischen Orangen und Lorbeern stecken. - Und es wird ein Dekret erlassen, dass, wer sich krank arbeitet, kriminalistisch strafbar ist; dass jeder, der sich rühmt, sein Brot im Schweiße seines Angesichts zu essen, für verrückt und der menschlichen Gesellschaft gefährlich erklärt wird."

    Den Anreiz für Leonce und Lena hatte ein Preisausschreiben des Verlages Cotta gegeben, 300 Gulden für das beste Lustspiel. Büchner hatte vier Wochen Zeit - und verpasste den Einsendeschluss letztlich um zwei Tage. Wieder schrieb er unter Druck. Als ahnte er, dass ihm nicht viel Zeit bleiben würde. Zugleich beginnt er mit dem nächsten Drama. Vor der Abreise nach Zürich schreibt er nach Hause, dass er sich ganz auf das Studium der Naturwissenschaften und Philosophie verlegt habe, während er daran sei,

    "sich einige Menschen auf dem Papier totschlagen oder verheiraten zu lassen."

    Und wie der Lenz seiner Erzählung einfordert, versenkt er sich in das "Leben des Geringsten" und gibt es wieder in den

    "Zuckungen, den Andeutungen, dem ganzen feinen, kaum bemerkten Mienenspiel. Die Gefühlsader ist in fast allen Menschen gleich, nur ist die Hülle mehr oder weniger dicht, durch die sie brechen muss."

    Den Stoff greift er dieses Mal wieder ganz aus dem Realen: Der Soldat und gelernte Perückenmacher Johann Christian Woyzeck erstach 1821 seine Geliebte. Der Fall erregte Aufsehen. Denn die Zurechnungsfähigkeit des obdachlosen und anscheinend geistesgestörten Straftäters stand infrage. Der Gutachter beschied ihm, die moralische Verwilderung sei selbst verschuldet - er wurde auf dem Leipziger Marktplatz hingerichtet. Der Platz war überfüllt mit Tausenden von Schaulustigen. Was ist das, was in uns hurt, lügt, stiehlt und mordet. - Dantons Frage ist Büchners Frage.

    Eine Figur, die in jeder bekannten Dramenordnung zuvor allenfalls als Komödien Charge hätte herhalten können, rückt in den Fokus einer Tragödie. Ein Massenmensch jenseits jeder Fallhöhe. Oder drehen wir die Schraube weiter: Nicht Woyzeck selbst ist so bemerkenswert, sondern alle, die ihn zu dem machen, was er ist: der Hauptmann, der ihm bei der Rasur sein uneheliches Kind vorwirft: "Woyzeck, er hat keine Tugend", der Doktor, der ihn experimentell mit nichts als Erbsen füttert und lobt, er sei ein "interessanter Casus, Subjekt Woyzeck, er kriegt Zulag.", der Tambourmajor, der ihn blutig prügelt, Marie, die sich vom Major verführen lässt ... Er ist, mit Heiner Müller, die "Wunde Woyzeck". Er ist Opfer und Täter, Wunde und Messer, Hoffnung und Schrecken zugleich.

    Der erste Büchnerpreisträger, Gottfried Benn, auch ein Meister der literarischen Autopsie, dessen pathologischer Blick dem Büchners sicher verwandt, aber um viele Grade kälter war, meinte zu dem Drama:

    "Wenn man es heute liest, hat es die Ruhe eines Kornfeldes und kommt wie ein Volkslied mit dem Gram der Herzen und der Trauer aller. Welche Macht ist über dieses dumpfe menschliche Material hinübergegangen und hat es so verwandelt und es bis heute so hinreißend erhalten?"

    Anfang des Jahres 1837 schreibt er aus Zürich an die Verlobte von seiner "Freude am Schaffen seiner poetischen Produkte". Tagsüber sitze er mit dem Skalpell, in der Nacht mit den Büchern. Ob es beim Sezieren passiert ist, ob er sich körperlich zu sehr erschöpft hat, kann man nur mutmaßen: Büchner infiziert sich zu dieser Zeit mit Typhus. Was er als Erkältung abtun möchte, zwingt ihn bald aufs Krankenlager. Der Typhus greift das Gehirn, die Nerven an - er vernebelt die Sinne. Die Symptome in den letzten Tagen seiner Krankheit sind in den Berichten seiner Freunde genau protokolliert. Er bleibt auch als Patient Pathologe und analysiert die eigenen Fieberfantasien. Mit ihnen holt den Flüchtling, der gerade im Exil neue Wurzeln schlagen wollte, die Angst vor der Verhaftung wieder ein:

    "Gegen Abend bekam er einen heftigen Anfall von Zittern, wobei er ganz irre sprach. Ich wurde sehr unruhig und sorgte von nun an dafür, dass außer mir auch immer noch einer seiner Freunde bei ihm war. Er wurde nach und nach wieder ruhiger. Gegen acht Uhr kam das Delirieren wieder und sonderbar war es, dass er oft über seine Fantasien sprach, sie selbst beurteilte, wenn man sie ihm ausgeredet hatte. Eine Fantasie, die oft wiederkehrte war die, dass er wähnt, ausgeliefert zu werden. Während seiner Fieberdelirien strengte er sich vergebens an, von etwas Mitteilung zu machen, das ihm Sorge zu machen schien. Die Nacht war unruhig; er sprach viel französisch und redete mehrere Male seine Braut an."

    Minna in Straßburg ist alarmiert und kommt gerade noch rechtzeitig. In seinen Delirien erkennt er sie, ein kurzes Lächeln ist auszumachen. Eine Messerspitze Marmelade, ein paar Löffel Suppe lässt er sich von ihr einflößen. Ein dunkler Hoffnungsschimmer. Er ist trügerisch. Am nächsten Tag, es ist der 19. Februar 1837, ein ruhiger Sonntag mit blauem Himmel, ist es die Verlobte, die ihm die toten Augen zudrückt. Er wurde 23 Jahre alt.

    Das 19. Jahrhundert ließ Büchner nun noch eine Weile ruhen. Wenn man sich vergegenwärtigt, dass Goethe erst fünf Jahre vor Büchner starb, begreift man das Empfinden des Unzeitgemäßen, des Anachronistischen seiner Texte. Erinnert wird er zunächst vor allem als der freiheitliche und revolutionäre Dichter. Die Zürcher Studentenschaft Germania nimmt sich seiner an und bettet das Grab um, gibt ihm mit einer schwarz-rot-goldenen Fahne das Geleit. Seither liegt der "Dichter von Dantons Tod", wie es auf der Gedenktafel heißt, auf dem Züricher Germaniahügel begraben.

    Die Manuskripte hatte Minna mit nach Straßburg genommen. Georgs jüngerer Bruder Ludwig gibt 1850 die Nachgelassenen Schriften heraus - den Woyzeck spart er dabei aus. Er ist selbst dem Freidenker zu radikal. Ein entschiedener Editor nimmt sich 25 Jahre später der Texte an. Es ist der Kritiker und Autor Karl Emil Franzos, der 1879 mit den Sämmtlichen Schriften die erste Gesamtschau des Werkes herausgibt. Aber das Sensorium des Publikums für Büchners Sprachgenie ist noch nicht reif.

    Dann stürzt der Dichter plötzlich ins Bewusstsein der Leser. Es ist der Modernesprung der Jahrhundertwende, dessen Sog Büchners Stücke auf die Bühnen der Avantgarden zieht. Vor allem Gerhart Hauptmann hatte mit einem Vortrag über das "Kraftgenie Büchner" die Aufmerksamkeit anderer Dichter geweckt, darunter Rilke und Hofmannsthal. Die neuen, sich erneuernden Kunstrichtungen horchen auf. In Büchner finden sie die Revolutionierung der Sprache vorgebildet. Die Naturalisten ebenso wie die Expressionisten und die Anhänger der Neuen Sachlichkeit.

    Für Leonce und Lena hebt sich 1895 in München erstmals der Vorhang. Es folgt 1902 Dantons Tod in Berlin. Und vor hundert Jahren - und hundert Jahre nach Büchners Geburt 1913 - der Woyzeck. Seitdem ist der Name Büchner nicht mehr von den Spielplänen verschwunden - und wird es auch nicht. Als ein Triptychon moderner Klassiker sind sie offene Projektionsflächen für die Lesarten jedes neuen Regisseurs. Die Konjunkturen, die ein vielseitig lesbares Stück wie Dantons Tod in den politischen Hakenschlägen des 20. Jahrhunderts hatte, sind einfach nachzuvollziehen. Wer ist der Held? Robespierre, Danton oder St. Just? Erich Kästner schrieb mit Blick auf das Stück:

    "Der größte Nachteil historischer Dramen besteht darin, dass sie keinen Schluss haben. Sie hören nur auf. [...] In jedem historischen Drama ist der Schlussvorhang nur provisorisch. Es endet offen. Die Zeit schreibt in einem fort daran weiter, und damit wandelt sich, von Stichtag zu Stichtag, das Stück. [...] Nur wenigen historischen Dramen gereicht dieser Nachteil fast zum Vorteil, und eines dieser wenigen Stücke ist Büchners Danton."

    Doch Büchners anhaltende Aktualität liegt nicht nur begründet in der Offenheit seiner Stücke. Oder dem kaleidoskopartigen seines Werkes, das in beschämender Virtuosität, in lauter ersten Versuchen, meisterliche Solitäre jedes Genres vorweist. Vielmehr in seiner Vorahnung der Zerrissenheit des modernen Bewusstseins. Der Literaturwissenschaftler Heinz Schlaffer fasst es so zusammen:

    "Die schweren Kränkungen, welche die revolutionären Geister des 19. Jahrhunderts der Menschheit nicht ersparen konnten, sind in Büchners Werk vorgebildet: die Erkenntnis, dass der Mensch vom Tier abstammt (Darwin), dass die Ökonomie das Bewusstsein bestimmt (Marx) und dass das Ich vom Trieb regiert wird (Freud)."

    Friederike Biron lebt als freie Publizistin und Dramaturgin in Berlin. Sie arbeitete am Berliner Ensemble und am Schauspielhaus Zürich.