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"Das friedliche Denken ist ins Stocken geraten durch diese Tat"

Die Anschläge vom 11. September 2001 und der darauf folgende "Krieg gegen den Terror" haben nach Ansicht der palästinensischen Publizistin Sumaya Farhat-Naser die Kluft zwischen den Religionen und Kulturen vertieft. Misstrauen und Angst hätten die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen bestimmt.

Sumaya Farhat-Naser im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 09.09.2011
    Tobias Armbrüster: Auf der ganzen Welt erinnert man in diesen Tagen an den 11. September 2001, an die Anschläge von New York und Washington am Sonntag vor ganz genau zehn Jahren. Dass man auf der ganzen Welt an dieses Datum denkt, das muss aber nicht heißen, dass die Erinnerung überall die gleiche ist, denn die Konsequenzen, die dieser 11. September nach sich gezogen hat, die waren eben äußerst unterschiedlich.

    Wir wollen in den kommenden Minuten darüber sprechen, was dieser Tag für die arabische Welt bedeutet hat. Am Telefon ist Sumaya Farhat-Naser, sie ist Buchautorin und Publizistin, lebt im Westjordanland und ist auch als Vermittlerin tätig im Nahost-Friedensprozess und dort als Vermittlerin bekannt geworden. Wir erreichen Sie heute Morgen in Amman. Schönen guten Morgen, Frau Farhat-Naser.

    Sumaya Farhat-Naser: Guten Morgen, Herr Armbrüster.

    Armbrüster: Frau Farhat-Naser, zunächst mal: Erinnern Sie sich noch an Ihre ersten Reaktionen, als Sie von den Anschlägen in New York und Washington gehört haben?

    Farhat-Naser: Ja, ich erinnere mich ganz genau und ich wusste, das ist eine Katastrophe, nicht nur für die Menschen in den USA, sondern für die gesamte Welt, und gerade für uns Palästinenser wusste ich, das kann nicht gut sein, auch wenn manche gedacht haben, jetzt ist es ein Akt, der das politische Rollen in Wege setzt, und in der Tat hat es in die Wege gesetzt, aber leider so negativ, so schrecklich, gerade für Palästina, den Nahen Osten und die ganze Welt.

    Armbrüster: Das heißt, war der 11. September 2001 für die arabische Welt ein Rückschritt?

    Farhat-Naser: Ganz sicher! Ein Rückschritt, eine Katastrophe und etwas, weil dadurch auch die Menschlichkeit und Verletzung der Menschlichkeit einfach so politisch klar geworden ist.

    Armbrüster: Das müssen Sie genauer erklären. Woran lag das?

    Farhat-Naser: Zum einen konnte ich sehen, dass manche dachten, jetzt werden die USA mit diesen Mitteln vielleicht das politische Handeln ändern. Aber es waren auch genügend Menschen in Palästina und überall, die das als Verbrechen angesehen haben und wussten, das wirkt auf alle Menschen.

    Armbrüster: Blickt man denn in der arabischen Welt heute grundsätzlich anders auf dieses Datum als im Westen?

    Farhat-Naser: Ganz sicher, denn jeder hat gesehen, dieses Ereignis hat den Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt ins Rollen gebracht, und diese Gewalttat hat es als politisches Mittel gerechtfertigt angesehen und hat das Umgehen mit Problemen sehr bestimmt. Also Feindseligkeiten zwischen Religionen und Kulturen gewannen Oberhand, anstatt gegenseitiger Akzeptanz, Anerkennung und Versöhnung. Fanatismus und Radikalismus sind die Folge und jeder kann das spüren, nicht nur als Kollektiv, sondern individuell. Das spürt man, egal wo man hingeht. Werte der Demokratie und Freiheit wie auch soziale Gerechtigkeit konnten leichter infrage gestellt [werden], diktatorische Regime billigten Unterdrückung und Diskriminierung als Rechtfertigung, und zwar unter der Fahne von Kampf gegen Terror, und jeder spürt es: Misstrauen, Angst bestimmten die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen, egal wo man geht. Das spürt man in jedem Land.

    Armbrüster: Aber zunächst mal, wenn wir auf diesen Tag, den 11. September blicken, dann ist es ja eigentlich relativ überschaubar. Ein paar Männer verüben einen Terroranschlag. Das ist sehr grausam, aber es passiert in diesem Rahmen. Wie ist es dann passiert, dass aus diesem Akt des Terrors eine solche Kluft entsteht zwischen dem Westen und der arabischen Welt, so wie Sie sie schildern?

    Farhat-Naser: Zunächst einmal, weil auf diesen Akt nicht auf diese individuelle Weise oder eine politische Gruppe hingeschaut wurde, sondern es wurde pauschal gesagt, es geht um religiöse Zugehörigkeit, die Religion hat das gemacht, und das ist übergegangen, als wären alle, die Moslems sind, von hier begonnen, die hinter dieser Tat stecken, und das stimmt nicht. Deshalb: Pauschalisierung war der Fehler bei der Betrachtung dieses Verbrechens.

    Armbrüster: Aber wir erinnern uns doch noch genau an die Worte von Präsident Bush damals, der gesagt hat: Wir jagen hier nicht die gesamte arabische Welt, wir jagen hier nicht den Islam, sondern wir wollen Terroristen jagen.

    Farhat-Naser: Das stimmt. Dennoch, praktisch gesehen haben so viele Muslime und Araber und Orientalen, gerade in den USA, ganz, ganz schlimme Erfahrungen gehabt, wie man mit ihnen umgegangen ist. Aber auch egal wo wir hingehen, wo Moslems hingehen, man schaut auf sie in erster Linie mit dem Stempel, als seien sie Terroristen, und das hat alles durcheinandergebracht. Man fühlt sich angegriffen. Auch ich fühle mich angegriffen, wenn ich höre, es ist Kampf gegen Terror, obwohl ich total Terror ablehne. Aber irgendwie [ist] man mit dem Ereignis falsch umgegangen.

    Armbrüster: Das heißt, allein bei der Erwähnung des Begriffspaares Kampf gegen den Terror fühlt man sich in der arabischen Welt bereits angegriffen und diskreditiert?

    Farhat-Naser: Ganz sicher! - Ganz sicher! - Und wir sehen, durch diese gewaltigen Verbrechen wurden auch unser Bemühen um Befreiung, um Unabhängigkeit nicht ernst genommen beziehungsweise haben keine Prioritäten mehr, sondern sind Mittel zur Sicherheit und Stabilität vorgetäuscht. In unserer Sache Palästina merken wir, das hat den gesamten Friedensprozess blockiert. Das friedliche Denken ist ins Stocken geraten durch diese Tat.

    Armbrüster: Ich verstehe jetzt, dass Sie da sehr stark westliche Politiker und möglicherweise auch westliche Medien beschuldigen. Trägt denn die arabische Welt, tragen Vertreter des Islam auch eine Schuld an der Entstehung dieser Kluft nach dem 11. September?

    Farhat-Naser: Zunächst einmal: Ich beschuldige nicht die Medien, sondern die Art und Weise, wie Politik gemacht wird. Und natürlich hat die arabische Welt beziehungsweise auch Religionsgemeinschaften eine Verantwortung, dass man zugelassen hat, dass so schlimm Fanatismus entsteht, dass man blind wird beziehungsweise die Menschlichkeit verliert. Natürlich, wir alle haben bei der Betrachtung von Politik ... statt Religionen zu nutzen, um Lösungen zu finden, Versöhnung zu finden, konnten solche Gruppen entstehen, und diese Gruppen sind weiterhin da und die Befürchtung ist immer noch da, dass solche radikalen fanatischen Gruppen weiter bestehen. Die Angst ist da!

    Armbrüster: Wir haben in den vergangenen zehn Jahren nun auch immer wieder gehört, dass genau das ein Ziel von Osama Bin Laden war, die arabische und die westliche Welt zu spalten. Ist ihm das gelungen?

    Farhat-Naser: Nein, Gott sei Dank nicht. Das konnte man sehen, auch in der Revolution in den arabischen Ländern, dass die fanatischen Islamisten nicht Oberhand gewonnen haben, beziehungsweise das Bewusstsein in Ägypten, in Tunesien, im Jemen, in Bahrain, egal wo, auch in Syrien, wir wissen, dass die Mehrheit der Menschen solche fanatischen radikalen Richtungen ablehnen. Und es wird keinen Erfolg geben, denn die Menschen wollen nur in Frieden leben, in Sicherheit leben, sie sind gegen die Art und Weise, wie sie regiert werden, wie sie entrechtet werden. Dagegen sind sie!

    Armbrüster: Heißt das, dass sich diese Nachwirkungen von 9/11 langsam abschwächen?

    Farhat-Naser: Es wird immer bewusster, klarer, dass das eine Katastrophe für die positive Entwicklung in dem ganzen arabischen Raum war. Die Leute sehen es mehr und mehr.

    Armbrüster: In den vergangenen Tagen liest man nun häufig Artikel aus der arabischen Welt, in der es heißt, der arabische Frühling, den wir derzeit erleben, seit einigen Monaten, der sei quasi verzögert worden durch den 11. September 2001. Dieser Aufruhr, dieser Aufstand der Massen, der hätte auch sehr viel früher stattfinden können, aber es hat nicht funktioniert, weil 9/11 quasi dazwischen kam. Ist da etwas dran, Ihrer Meinung nach?

    Farhat-Naser: Ganz sicher! - Ganz sicher, weil diese diktatorischen Regime haben ihre Unterdrückung und Diskriminierung gerechtfertigt, indem sie sagen, sie bekämpfen Terror. Und jegliche Kritik, jegliche Stimme, die zur Freiheit, zur positiven Änderung rief, wurde einfach als Terrorakt, Terroristen abgestempelt und die Leute sind verstummt worden. Und das ist eine Auswirkung von dem 11. September. Es wurde in der Welt legal gesehen, als wäre es normal, jede Stimme zu verstummen.

    Armbrüster: Heute Morgen hier bei uns im Deutschlandfunk war das Sumaya Farhat-Naser, die palästinensische Autorin und Publizistin. Besten Dank, Frau Farhat-Naser, für dieses Gespräch.

    Farhat-Naser: Danke schön.


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