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Das "Fünfer-Duell"
"Bewerbungsrunde für den dritten Platz"

Im ARD-Streitgespräch der Spitzenkandidaten von Linkspartei, Grünen, CSU, FDP und AfD sei es vor allem darum gegangen, ob die FDP oder die Grünen die Nase vorne gehabt hätten, sagte der Politikwissenschaftler Oskar Niedermayer im Dlf. Denn bei diesen beiden Parteien könnten zwei oder drei Prozent mehr über eine Regierungsbeteiligung entscheiden.

Mario Dobovisek im Gespräch mit Oskar Niedermayer | 04.09.2017
    Porträtaufnahme von Oskar Niedermayer im November 2015
    Politikwissenschaftler Oskar Niedermayer (dpa / Julian Stratenschulte)
    Mario Dobovisek: Kurz nach der Fernsehdebatte habe ich mit Oskar Niedermayer gesprochen. Er ist Politikwissenschaftler, Wahl- und Parteienforscher an der Freien Universität in Berlin. Und ihn habe ich gefragt, wer für ihn denn heute Abend der stärkste Spitzenkandidat war.
    Oskar Niedermayer: Das ist ein bisschen schwer zu sagen, weil das Format so verwirrend war, dass meistens jeder zu was anderem gefragt wurde, sodass man nicht themenweise wirklich vergleichen konnte. Ich fand, dass Herr Lindner gut war. Ich fand aber auch durchaus, dass Frau Wagenknecht einige gute Punkte gemacht hat – für ihre Klientel natürlich, das ist ganz klar. Und bei Frau Weidel denke ich mir, dass sie ein bisschen schlechter rübergekommen ist.
    Dobovisek: Gestern stand ja beim Kanzlerduell die Flüchtlingskrise im Vordergrund, die Außenpolitik. Und heute hatte ich ein bisschen den Eindruck, dass man ganz viel Innenpolitik in schon die ersten 15 bis 20 Minuten pressen wollte. Das ging dann ein bisschen hin und her, ein Pingpong-Spiel, Bildung, Digitalisierung, Rente, Arbeitslosigkeit. Und wie Sie schon angesprochen haben: Das Format, nicht jeder Politiker durfte zu jedem Punkt etwas sagen. Mich hat es verwirrt, Sie offensichtlich auch. Was macht das dann mit dem Wähler?
    Niedermayer: Ich glaube, dass das auch die Wähler verwirrt hat, denn man ist viel zu schnell zwischen den einzelnen Themen hin- und hergesprungen und man konnte nicht tatsächlich als Wähler mal in Ruhe sich anhören, wie die fünf Parteien ein bestimmtes Thema sehen. Und das wäre ja eigentlich das Wichtigste gewesen, damit man auch tatsächlich dann vergleichen kann und sagen kann, die oder jene Ansicht gefällt mir besser als die andere. Aber wenn das so durcheinander geht, dass jeder was anderes gefragt wird. Und man dann bei der zweiten, dritten Frage wieder auf die erste zurückkommt und dann die Diskussion wieder auf ein anderes Thema springt, dann war das doch, glaube ich, sehr verwirrend.
    Dobovisek: Wenn wir uns die Kandidaten angucken, ein bisschen haben Sie davon schon erwähnt. Was macht denn aus Ihrer Sicht einen starken Auftritt aus?
    "Probleme klar benennen"
    Niedermayer: Ein starker Auftritt sollte durchaus sein, dass man Probleme klar benennt, dass man differenziert argumentiert, dass man auch durchaus auf die anderen eingeht, aber ohne sie permanent zu unterbrechen, ohne rechthaberisch darauf zu bestehen, dass man jetzt alles zu allem sagen kann. Sondern ruhig, sachlich, inhaltlich betont, ohne zu aggressiv zu sein, seine Position darstellt. Und die anderen Positionen natürlich auch durchaus kritisiert.
    Dobovisek: Gab es da für Sie heute Überraschungen in dieser Hinsicht?
    Niedermayer: Es gab jetzt keine wirklichen inhaltlichen Überraschungen. Wenn man die Programme der Parteien kennt, dann hat man da natürlich viele Aha-Erlebnisse gehabt, denn es ist natürlich ganz klar, dass die Kandidaten jetzt nicht plötzlich was anderes sagen als das, was sie bisher gesagt haben. Das hat Martin Schulz gemacht gestern Abend mit der Türkei-Problematik. Aber das ist hier eigentlich nicht passiert, dass man sich hier jetzt plötzlich überraschend anders geäußert hätte als vorher.
    Dobovisek: Sie beschäftigen sich ja schon seit vielen Jahren mit der Wirkung von Auftritten wie diesen auch auf die Wähler, auf die Menschen, auf die Zuschauer. Was, denken Sie, bleibt bei den Wählern heute von diesem Abend hängen?
    "Sehr viel lebhafter als das Duell gestern"
    Niedermayer: Ich glaube, dass bei den Wählern hängen bleibt, dass er sehr viel lebhafter war als das Duell gestern, dass auch die Unterschiede, die im deutschen Parteiensystem in sehr vielen Bereichen bestehen, sehr viel deutlicher wurden. Und dass deswegen, glaube ich, auch trotz des etwas seltsamen Formats ich sagen muss, dass es immerhin für die Wähler doch eine Entscheidungshilfe war. Denn man darf ja nicht vergessen: Es hängt sehr, sehr viel davon ab, wer dritte Kraft im deutschen Parteiensystem wird, denn das wird dann die Regierungsbildung auch bestimmen. Insofern war es, glaube ich, durchaus schon eine Möglichkeit, auch die Unterschiede noch mal zwischen den einzelnen Parteien kennenzulernen.
    Dobovisek: War das heute sozusagen im übertragenen Sinne die Bewerbungsrunde der Kleinen für eine Koalition mit den Großen?
    Niedermayer: Ja, es war auf jeden Fall die Bewerbungsrunde für den dritten Platz im deutschen Parteiensystem. Das ist ganz klar. Und der bedeutet ja dann auch die Teilnahme an einer möglichen Zweier- oder Dreierkoalition mit derjenigen unter den beiden großen, die gewinnt. Und die Gewinnchance hat sich ja gestern im Duell jetzt nicht dramatisch verändert gegenüber dem, was vor dem Sonntag in den Umfragen deutlich wurde.
    Dobovisek: Und am Ende gibt es dann doch eine Fortsetzung der Großen Koalition. Danach sah es gestern jedenfalls stellenweise aus.
    Niedermayer: Na ja. Ich glaube schon, dass wir auch mit einer anderen Regierung rechnen können, wenn die Wählerinnen und Wähler dies rechnerisch möglich machen. Und so wie die Umfragen jetzt aussehen, genügen dazu zwei, drei Prozentpunkte, die eine der kleineren Parteien zulegt. Und das ist durchaus drin. Insofern war das jetzt sehr wichtig, auch zu sehen, wer könnte denn der kleinere Partner einer der beiden Großen sein.
    Dobovisek: Was könnte denn diese ein, zwei Prozentpünktchen, die Sie erwähnen, ausmachen, auch wenn Sie auf die Fernsehdebatte heute Abend blicken?
    Niedermayer: Ausmachen könnte es, dass die Leute das Gefühl haben, dass eine bestimmte Partei dann auch mit einer der großen kann. Die Bewerbungsregeln waren ja relativ klar, wenn man weiß, dass eigentlich tatsächlich nur zwei von den vier Parteien wirklich große Chancen haben, an der Regierung teilzunehmen. Das ist die FDP auf der einen Seite und das sind die Grünen auf der anderen Seite. Die Unterschiede zwischen FDP und Grünen sind ja durchaus an vielen Bereichen deutlich geworden. Deswegen ist es, glaube ich, auch durchaus eine Entscheidungshilfe für die Wähler gewesen, zwischen diesen Parteien, die die größten Chancen haben, dann tatsächlich mitzuregieren, dann auch wählen zu können.
    Dobovisek: Anfangs wurden Fernsehdebatten wie die heutige oder das Kanzlerduell, das wir gestern gesehen haben, ein bisschen als Phänomen aus den USA belächelt. Nun haben wir schon seit vielen Jahren auch die Fernsehdebatten bei uns in Deutschland in dieser Form. Welche Bedeutung haben diese Debatten heute für den Ausgang der Wahl?
    "Wer von zwei Parteien dann die Nase vorne hat"
    Niedermayer: Ich glaube, die Debatte gestern hatte keinen wesentlichen Einfluss auf die Frage, wer als erster durchs Ziel gehen wird bei der Wahl, denn die SPD liegt so weit hinter der Union, dass es schon eines strahlenden Sieges von Martin Schulz bedurft hätte, um das noch drehen zu können. Und da ist man sich eigentlich einig, dass dies kein strahlender Sieg von Martin Schulz war, obwohl sich dann die Bewertungen durchaus unterscheiden, ob er sich nur gut geschlagen hat. Oder ob er Frau Merkel auf Augenhöhe begegnet ist. Aber ein strahlender Sieg, der jetzt so einen dramatischen Umschwung nach sich ziehen könnte, war eigentlich nicht da. Heute ging es darum, wer von zwei Parteien dann letztendlich die Nase vorne hat, die sehr nahe beieinander liegen. Und da ist es durchaus wichtiger, glaube ich, wie sie sich hier präsentiert haben, denn wenn eine der beiden zwei, drei Prozentpunkte zulegt, dann kann das schlicht und einfach die Regierungsbeteiligung bedeuten.
    Dobovisek: Der Wahl- und Parteienforscher Oskar Niedermayer von der Freien Universität in Berlin. Ich danke Ihnen für diese Analyse.
    Niedermayer: Bitte schön.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.