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Das Gedächtnis der Dinge

"Das Einnehmen eines Platzes, eines Territoriums, eines spezifischen Ortes spielt in der Erinnerungskultur der Menschen ein riesige Rolle. ... Und hier ist es ja nicht nur ein Ereignis, sondern es ist immer auch ein Stück Friedhof, der hier ist. Die Menschen sind hier umgebracht worden, und es sind etwas wie visuelle Stolpersteine gegen das allzu laxe Umgehen mit Menschenleben." Der Oldenburger Kunsthistoriker Detlef Hoffmann versucht etwas Nicht-Beschreibbares dennoch in Worte zu fassen. Zehn Jahre lang hat er mit seiner Forschungsgruppe in Konzentrationslagern in Polen, Frankreich und Deutschland nach Spuren der Erinnerung gesucht. Wie gingen die Menschen nach 1945 mit den Orten des Grauens um? Wie weit haben sie den Dingen die Spuren der Geschichte zugestanden? Was haben sie zu verwischen versucht, was überbaut und verändert?

Thomas Kleinspehn | 30.04.1998
    Das Ergebnis dieser intensiven Forschung liegt jetzt in einem eindrucksvollen Band vor, dessen Titel schon auf die Forschungsinteressen der Gruppe hinweist: "Das Gedächtnis der Dinge". Nicht Akten, Bilder oder Schriften haben die Wissenschaftler untersucht. Vielmehr ging es ihnen um Objekte und deren Spuren, die sich noch auf den Gelände der Lager befinden oder in der Nachkriegszeit hinzugefügt wurden. Die Autoren geben den Dingen so ihre Sprache wieder und dokumentieren den Wandel seit 1945 mit unzähligen Fotos, die schon einzeln und erst recht in der Gegenüberstellung im Buch eine ganz eigene Aussage enthalten, die den Text begleiten. Ziel war es, exemplarisch die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Neuengamme in Deutschland, Auschwitz in Polen und Gurs im Süden Frankreichs zu analysieren. "Wir haben sehr verschiedene Plätze vergleichen wollen", so Hoffmann. "Von Frankreich ahnten wir, wie es ist, von Polen wußten wir, wie es ist, und in Deutschland ahnten wir nicht, wie es ist. Wir haben in Deutschland gedacht, in der DDR ist es früher und bewußter gemacht worden, und wir haben auch gedacht, daß ein Unterschied zwischen dem konservativen Bayern und dem sozialdemokratischen Hamburg besteht. Und es ist herausgekommen ein gesamtdeutscher widerwilliger Umgang mit diesem Thema. In unserer Untersuchung ist wichtig, daß es immer wichtigere andere Maßnahmen gibt, als vor Ort die Erinnerung zu pflegen. Es gibt immer Ausreden, vor Ort alles verfallen zu lassen und nichts zu investieren. Das können wir immer wieder als Abwesenheit von Erinnerung und von Erinnerungswillen interpretieren."

    Weder in der Bundesrepublik noch in der DDR ist den Lagern als Gedenkstätten zunächst viel Aufmerksamkeit geschenkt worden. So mußten die sowjetischen Besatzungsmächte in Buchenwald die Pflege der Gräber einklagen, die ganz verwahrlost waren. Auf dem Gelände in Dachau war sehr bald nach dem Krieg ein Flüchtlingslager und in Neuengamme ein Gefängnis errichtet worden. Dadurch wurden viele Spuren des frühen Konzentrationslagers verwischt. In den 50er und 60er Jahren schließlich wurden viele Gelände planiert. Die Lager von Buchenwald und Dachau oder auch Bergen Belsen verwandelten sich in leere Plätze, Reste der Konzentrationslager blieben nur durch Zufall zurück. So ist das Gedächtnis der Dinge vielschichtig und verändert sich auch nach dem Tag der Befreiung der Konzentrationslager ständig. "Unsere Einstellung ist inzwischen so, daß wir bei jeder Form der Umformung einer Gedenkstätte skeptisch sind", so Hoffmann. "Wir würden am liebsten die alten Spuren, die ja immer auch das Vergessen thematisieren, erhalten. In Neuengamme war das Ziegelwerk lange vermietet, es waren die unterschiedlichsten Vereinigungen dort drin, und es gab noch Plakate, wo man sehen konnte, wer da alles drin war. Die hätten wir am liebsten konserviert hinter einer Glasscheibe, damit man diese Schichten des Erinnerns und Vergessens sehen könnte. Diese Verschichtung der Erinnerung würden wir gerne erhalten. Das ist ein Resultat unserer Arbeit, daß wir gelernt haben, diese Verschichtungen zu entdecken, und wir würden sie auch gerne durch besondere Markierungen dem Publikum stärker vor Augen führen."

    Erst vor Ort, in den Räumen mit ihrer vielfältigen Geschichte, mit den Versuchen, Geschichte zu eliminieren, zu schleifen oder mit Gedenksteinen oder Losungen oft hilflos Erinnerung wachzuhalten, erst dort können Nachgeborene in Ansätzen erahnen, was der Holocaust bedeutet hat. "Das nennen wir Gedächtnis der Dinge, weil in den Dingen auch die Brechungen sichtbar sind. Das heißt auf dem Gelände sehe ich Spuren von 1945, und ich sehe Eingriffe aus späterer Zeit und aus ganz später Zeit. Sie sind nur noch nicht kenntlich gemacht in ihrer zeitlichen Verschichtung. So werden auch zukünftige Generationen in irgendeiner Weise ihre Spuren hinterlassen, aber sie gehen in das Gelände als Engramme ein. Das ist das wichtige, daß man bei sorgfältiger Untersuchung immer auch diese Spuren findet, also sie sind im Gelände real vorhanden."

    Diese Art der Spuren werden an einem künstlich geschaffenen Denkmal, das außerhalb historischer Orte entsteht, nicht sichtbar und vor allem nicht erfahrbar. So hat die Arbeit an der Studie über das Gedächtnis der Dinge auch eine sehr aktuelle politische Dimension: "Dieses Sich-Einprägen - Einschreiben in die Erde ist das beste Argument gegen ein deutsches Holocaust-Museum. Inzwischen glaube ich, daß das eine zentrale Entsorgungsstelle ist. Man möchte gerne an diesem Platz sagen, wir haben doch was getan, jetzt ist es da. Nein, und das zeigen wir auch mit diesem Buch, dieses Land, das deutsche Territorium ist von diesem Verbrechen kontaminiert, das heißt dieser Boden ist geprägt, und deshalb soll es kein zentrales Denkmal und auch kein zentrales Museum geben."

    Denkmäler, Erinnerungen an die Verbrechen der Deutschen in der Zeit des Nationalsozialismus sind an vielen Stellen in Mitteleuropa zu finden. Was sie noch immer aussagen, das zeigen eindrucksvoll die Einzel-Untersuchungen des Bandes, etwa von Detlef Hoffmann über Dachau oder von Volkhard Knigge über Buchenwald, wo er heute die Gedenkstätte leitet. Die Autoren graben sehr detailliert Erinnerungen und Fragmente aus. Dabei wird erkennbar, daß die Geschichte dieser Orte nach 1945 in Ost wie West eine Geschichte der Vernichtung von Relikten ist - unter jeweils anderen Vorzeichen aber mit gleichen Ergebnissen. Ganz anders als ein mit viel Pathos errichtetes zentrales Denkmal können die Überreste und Spuren dagegen die Geschichte und den Umgang mit ihr deutlich machen und sie damit gerade nicht museal einfrieren lassen. "Diese großen, betretbaren Bilder müssen erhalten bleiben, weil sie nicht auszuwechseln sind. Während alles andere über Fernsehschirme und simulierte Bilder auszuwechseln ist. Aber der einmalige unverwechselbare Ort ist nicht auszuwechseln, und uns liegt daran, vieles zu erhalten, was nicht auszuwechseln ist."