Donnerstag, 28. März 2024

Archiv


Das Gleis ist das Ziel

Biberdämme und Gletscher, Wasserfälle und Goldgräberdörfer – seit über 20 Jahren ist der Rocky Mountaineer zwischen Pazifischem Ozean und Rocky Mountains unterwegs. Der Zug, der in British Columbia verkehrt, wurde schon mehrfach ausgezeichnet.

Von Michael Marek | 01.07.2012
    Pünktlich um 8 Uhr morgens verlässt der Rocky Mountaineer den Bahnhof von Jasper. In dem kleinen Dörflein wurden einst Tierfelle gehandelt, das war zur Zeit des Goldrausches. Heute, 150 Jähre später, ist vom Goldrush nichts mehr viel geblieben. Jetzt sind es Touristen, die zur Einnahmequelle geworden sind und den legendären Zug besteigen. Langsam setzen sich die schweren Eisenräder in Bewegung und die Reisenden rollen südwestlich in Richtung Vancouver.
    Die Strecke in der kanadischen Provinz British Columbia verbindet drei landschaftliche Extreme: Es geht durch Gletscher-, Wüsten- und Regenwaldgebiete. Rasch bekommt man ein Gefühl für die Weite dieser dünnbesiedelten Gegend: British Columbia ist zwar zweieinhalb mal so groß wie die Bundesrepublik, aber nur ganze vier Millionen Menschen leben hier. Während draußen die Rockies vorbeiziehen, erklären drinnen die Zugbegleiterinnen im dunkelblauen Hosenanzug, was so alles während der Fahrt an den großen Panoramafenstern zu sehen ist: Schwarzbären und Grizzlies, Fischadler, Elche, Wapitihirsche, Pumas und Luchse. Ahs und Ohs wechseln im Großraumwagen einander unentwegt ab, Kameras und Fotohandys werden kollektiv gezückt: digitales Shooting für die private Fotosofashow zu Hause! Immer wieder ertönt über das Mikrofon die Stimme von Natalie McCall. Und dann weiß jeder: Aufpassen! Es geht vorbei an atemberaubenden Schluchten, Canyons oder türkis schimmernden Seen:

    "Ich bin hier im Zug dafür verantwortlich, dass alles reibungslos verläuft. Ich kümmere mich um die Gäste, die sich bei uns hoffentlich wohlfühlen. Und ich sorge dafür, dass wir pünktlich an den einzelnen Stationen ankommen."

    Draußen herrscht absolute Stille, durchbrochen nur von den Dieselelektromotoren der zwei Lokomotiven. 6.000 PS sind nötig, um den Rocky Mountaineer von über 1.000 Meter auf Meereshöhe herunterzubringen.

    Es geht vorbei an einer wunderbar urzeitlichen Landschaft - ohne Strommasten, bunte Werbeplakate und Autoschlangen. Alles garantiert staufrei. Der Rocky Mountaineer verkehrt meist alleine auf der eingleisigen Strecke. Vereinzelt kommen Güterzüge der staatlichen Bahngesellschaft entgegen. Die Orte und Sehenswürdigkeiten tragen vielversprechende Namen wie Hell’s Gate, Boston Bar, Batchelor oder Blue River – gemächlich mit durchschnittlich 50 Stundenkilometern geht es entlang der 1.000 Kilometer langen Strecke. Den Japanern ist das entschieden zu langsam, unruhig hüpfen sie hin und her, die anderen Gäste sind dagegen dankbar für die neue Langsamkeit des Seins, die einer längst vergangenen Epoche entsprungen ist.

    Es waren chinesische Auswanderer, die die Eisenbahnschienen im 19. Jahrhundert quer durch Kanada verlegen haben – von Toronto im Osten bis nach Vancouver, der Hafenmetropole im Westen. Nachlesen lässt sich das in der Zugzeitung des Rocky Mountaineer, die überhaupt alle Details der Fahrt verzeichnet: jede Geisterstadt, jedes Fischadlernest, jeden Zugüberfall. Und natürlich auch den allerletzten Nagel, der vor über 100 Jahren zur Fertigstellung der Strecke eingeschlagen wurde:

    "1885 wurde diese Eisenbahnstrecke fertiggestellt. Damit entstand zugleich Kanada als Nation. Nur mit dem Zug konnte man das riesige Land durchqueren. Heute geht es uns nicht darum, Menschen so schnell wie möglich von Punkt A nach Punkt B zu bringen. Wir stellen das touristische Erlebnis in den Vordergrund,"

    erklärt Stuart Coventry, verantwortlicher Direktor für den Gästeservice. Die Reaktionen der Reisenden jedenfalls sind unüberhörbar:

    Die Stimmung ist gut, es wird viel gelacht - und getrunken. Das Publikum ist international, die meisten Gäste kommen aus den USA, sagt Coventry, etwa 10 Prozent aus Deutschland. Das Alter liegt zwischen 50 und 70 Jahren - Menschen, die bereits viel gereist sind und den Zug als Transportmittel lieben. Seit 1990 ist der Rocky Mountaineer unterwegs auf verschiedenen Strecken innerhalb Westkanadas:

    "Wir sitzen hier in einem zweistöckigen Panoramawagen: Oben gibt es 70 Sitze; das Dach ist aus Glas und bietet einen 360 Grad Ausblick auf die wunderschöne Landschaft. Hier unten befindet sich der Speiseraum."

    Mit viel Liebe zum Detail wurden ehemalige Wagons der kanadischen Bahngesellschaft umgebaut und erhielten ihren letzten Schliff einschließlich technischer Verbesserungen und neuer Klimaanlagen. Modernes Design umgibt den Rocky Mountaineer, anders als jener opulente Plüsch, der für die Luxuszüge der viktorianischen Ära und der Belle Époque so charakteristisch ist. Goldene Dekorationen eines Orient Express’ sucht man hier vergeblich.

    "Der Service im Zug ist prima und die Landschaft wirklich extrem unterschiedlich. Mal gibt es herrliche Kiefern, dann kommt plötzlich Wüste, und am Ende der Reise erreicht man den Ozean. Wir durchqueren also ganz verschiedene Klimazonen,"

    erzählt Gale, eine ältere US-Amerikanerin aus dem sonnigen Palmsprings.

    Mitte des 19. Jahrhunderts bezeichnete der französische Politiker und Historiker Adolphe Thiers die Eisenbahn als ein "Spielzeug des Amüsierens". Und das Medizinische Institut des Königreichs Bayern befürchtete damals sogar, dass Zugreisen zu Hirnstörungen bei den Reisenden führen würden. Darüber können die Gäste des Rocky Mountaineer heute nur noch schmunzeln. Und wenn es doch einmal Probleme gibt, ist Chefmechaniker Maurice Murren allgegenwärtig:

    "Ich bin für die Wartung des Zuges verantwortlich. Die größten Probleme? Manchmal spinnt die Klimaanlage, eine Toilette oder irgendetwas mit der Elektrik funktioniert nicht. Das Zauberwort heißt also:…"

    Maurice Murren ist die gute Seele des Zuges. Mit Schraubenzieher und Notebook bewaffnet weiß er, welchen Hebeln er zuleibe rücken muss, um Abhilfe zu schaffen - im Falle eines Falles, sollten irgendwelche Schaltkreise ein temperamentvolles Eigenleben entwickeln. Und um überall in dem 150 Meter langen Zug präsent zu sein, hat er einen neuen Sport eingeführt…

    "Zugwandern! Pro Arbeitstag bin ich etwa 18 bis 25 Kilometer unterwegs."

    Zugunfälle? Fehlanzeige, sagt Murren. Seit dem Bestehen des Zuges habe es noch keinen einzigen Unfall gegeben. Dagegen sind Verspätungen durchaus an der Tagesordnung, weil man zwischendurch auch mal anhält, wenn eine Bärenfamilie auf oder neben den Gleisen unterwegs ist.

    Brian Pigar arbeitet sind seit sieben Jahren beim Rocky Mountaineer – als Chef bereitet er mit seinem Team die Mahlzeiten zu. Durchaus kein Kinderspiel auf kleinstem Raum. Und man braucht dafür mehr als nur Fingerspitzengefühl:

    "Übung ist ungemein wichtig! Viele Köche arbeiten in normalen, sozusagen festen Küchen. Aber hier braucht man Kraft, denn es schaukelt manchmal ganz schön, wenn wir fahren. Alles bewegt sich, und man muss ganz schön aufpassen, um sich nicht zu verletzten."

    In den Speiseabteilen kommen Rocky Mountaineer-Reisende in den Genuss von Drei-Gänge-Menüs und á-la-carte-Gerichten. Gleichwohl sei die Kunst so zu kochen, dass es jedem schmeckt – unabhängig von Kultur und Nationalität. Alles wird frisch im Zug zubereitet. Steaks stehen bei den Nordamerikanern oben auf dem Speisezettel. Nicht fehlen dürfen aber auch Lachs, Rot- und Weißweine aus Kanada, aus dem Okanagan Valley. Aber auch an Bord eines Luxuszuges dominiert die kulinarische Allzweckwaffe: Chicken - Hühnchen.

    Die Gäste jedenfalls sind begeistert am Ende der zweitätigen Tour. Und ein stimmbegabter Thailänder sorgt mit seinem Abschiedslied für wehmütige Erinnerungen.