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"Das große Heft" am Schauspiel Dresden
Abhärtung zur Unmenschlichkeit

Ágota Kristóf hat mit ihrem Roman "Das große Heft" ein erschreckendes Protokoll des Zivilisationsverlusts im Krieg geschrieben. Kurz vor dem 78. Jahrestag der Zerstörung Dresdens inszenierte Ulrich Rasche den Text auf der Bühne des Dresdner Staatsschauspiels – wie immer mit chorischen Einlagen.

Von Thilo Koerting | 12.02.2018
    Johannes Nussbaum und Moritz Kienemann in Ulrich Rasches Inszenierung von "Das große Heft" nach Ágota Kristóf am Schauspiel Dresden
    Johannes Nussbaum und Moritz Kienemann in Ulrich Rasches Inszenierung von "Das große Heft" nach Ágota Kristóf am Schauspiel Dresden (Schauspiel Dresden / Foto: Sebastian Hoppe)
    Laute, brutale Klänge eines Schlagwerks machen gleich zu Beginn klar, dass es kein sanfter Abend wird. Der Vorhang hebt sich und offenbart eine riesige Drehscheibe, die sich auf einem schrägen Podest unentwegt dreht. Links davon sitzen eine Violinistin und ein Cellist, rechts ein E-Bassist und ein Drummer. Auf der rechten Seite der rotierenden Scheibe laufen zwei Schauspieler: Die gleiche Frisur, die gleiche kurze Hose und die gleichen schwarz-glänzenden Schuhe. Genau wie die Drehscheibe sind auch sie permanent in Bewegung. Die Zwillinge erzählen davon, wie die Mutter sie zu ihrer Großmutter in eine kleine Stadt bringt, in Sicherheit vor dem Krieg. Sie zerstückeln die kurzen Sätze, pressen die Wörter einzeln heraus. Immer mehr Schauspieler betreten das Podest, jetzt nur noch barfuß. Schreiend berichten sie von den Übungen, mit denen sie sich härter machen wollen, um zu überleben. So beschimpfen sie sich, damit die Wörter sie nicht mehr verletzen.
    "Wir setzen uns einander gegenüber an den Küchentisch und sagen uns, uns in die Augen sehend: Mistkerl, Arschloch…"
    Simple Sätze, wenige Bilder
    Für die Adaption von Ágota Kristófs Roman "Das große Heft" nutzt Ulrich Rasche seine erprobten Mittel: Er hat sich eine Bühne geschaffen aus zwei Podesten, die in sich und umeinander kreisen. Darauf lässt er seine Schauspieler ständig schreiten, in einem angespannten, fast schon angriffslustigen Gang; mal vorwärts, mal rückwärts, oft seitwärts, manchmal nur auf der Stelle. Gemeinsam rezitieren sie Kristofs Romantext. Der besticht vor allem durch seine Schlichtheit: In kurzen und simplen Sätzen erzählt Kristóf – fast schon beiläufig – von den Grausamkeiten, die den namenlosen Zwillingen widerfahren oder die sie sich selbst auferlegen, um das Überleben zu üben. Diese Art des Erzählens lässt sich kaum bebildern. Rasches körper- und sprachbetonter Stil schafft stattdessen passenderweise einen Sog, der den Text eindringlich macht.
    "Man muss töten, wenn es nötig ist. Wir werden es tun."
    Rasche kürzt den Roman "Das große Heft", schneidet ihn collageartig zusammen. Er verzichtet auf Nebenfiguren und deren Geschichten, konzentriert sich vollkommen auf die Zwillinge. Doch auch hier wird keine Geschichte erzählt, sondern einzelne Situationen, die von Sprache, vom Zerfall der Zivilisation, von Gewalt und Sexualität berichten, beispielsweise wie ein Offizier die Zwillinge dazu bewegt ihn bis zum Orgasmus zu prügeln. Darüber hinaus deutet Rasche den Text jedoch kaum, sondern lässt Ágota Kristófs Erzählung für sich sprechen und schafft dafür den entsprechenden Raum.
    "Wir schreiben: "Wir essen viele Nüsse" und nicht "Wir lieben Nüsse". Denn das Wort "lieben" ist kein sicheres Wort, es fehlt ihm an Genauigkeit und Sachlichkeit. Nüsse lieben und unsere Mutter lieben, kann nicht dasselbe bedeuten."
    Musik als Takt für Schritt und Sprache
    Die riesigen Scheiben rotieren weiter und schaffen immer wieder neue Bilder: Mal sprechen die Schauspieler wie von einer Klippe herab, mal schieben sich die beiden Podeste auseinander und zwei Gruppen von Schauspieler schreien sich den Text entgegen.
    Auch mit den Darstellern entstehen unterschiedliche Konstellationen. Das chorische Sprechen bildet dabei eher eine Ausnahme, die den Höhepunkt von Grausamkeit markiert. Viel öfter wird der Text unter einzelnen Sprechern aufgeteilt. Er wandert zwischen den unzertrennlichen Zwillingen, die dann auch den anderen Figuren ihre Stimme leihen und so etwas wie einen Dialog entstehen lassen. Insgesamt variiert die Spielweise allerdings kaum: Durchgängig der gleiche federnde Gang, die gleiche abgerungene Sprechweise. Die Leistung mag dabei zwischen den 16 männlichen Schauspielern schwanken, doch die Intensität bleibt bis zum Ende bestehen. Den Takt für Schritt und Sprache gibt die repetitive Musik von Monika Roscher vor, die mit reduziertem Material gekonnt eine düstere Stimmung erzeugt und den Abend in die Nähe des Musiktheaters rückt.
    "Wir sehen unsere Mutter am Boden, die Eingeweide hängen ihr aus dem Bauch."
    Die Produktion "Das große Heft" verlangt Ausdauer vom Publikum, das sich trotz aller Bewegung mit einem letztlich statischen Theaterabend konfrontiert sieht. Aber es mangelt an nichts: Musik, Licht, Bühne und Schauspiel greifen perfekt ineinander. Und vor allem in den Text, der in Ulrich Rasches Ästhetik sogar an Intensität gewinnt. Es ist ein langer Theaterabend am Dresdener Staatsschauspiel, doch der Zuschauer bereut kaum eine Minute dieser – auch fordernden – vier Stunden.