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"Das hat es so noch nie gegeben"

Bayerische Hausärzte drohen mit dem Ausstieg aus dem Kassensystem. Dadurch wollen sie die Macht der Kassenärztlichen Vereinigungen brechen, die laut Gesetz die Honorare aushandeln. Medizin-Journalist Nikolaus Nützel bewertet diesen Vorstoß als "hoch riskant".

Nikolaus Nützel im Gespräch mit Christian Bremkamp | 22.12.2010
    Christian Bremkamp: Bayerns Hausärzte proben die offene Rebellion. Heute wollen sie über einen massenhaften Ausstieg aus dem Kassensystem abstimmen. Das Ziel: die Mediziner wollen die Macht der Kassenärztlichen Vereinigungen brechen, die laut Gesetz die Honorare aushandeln. Die Folge eines solchen Ausstiegs hätte weitreichende Folgen weit über die bayerischen Landesgrenzen hinaus. Am Telefon begrüße ich jetzt den Autor und Fachjournalisten Nikolaus Nützel. Er ist ein Kenner der bayerischen Ärztelandschaft. Guten Tag nach München.

    Nikolaus Nützel: Guten Tag!

    Bremkamp: Herr Nützel, Bayerns Hausärzte proben den offenen Aufstand. Sind die Mediziner im Freistaat nur aufs Geld aus?

    Nützel: Nein. Das wäre ein bisschen boshaft, wenn man ihnen das unterstellt. Natürlich geht es um Geld. Es geht um Bezahlung, es geht um die Frage, wie viel Geld kriegen die Ärzte von den Krankenkassen. Aber die bayerischen Hausärzte sagen jetzt immer, wir wären sogar mit weniger Geld, als wir die letzten zwei Jahre bekommen haben, zufrieden. Das hängt damit zusammen: Wir haben ja einerseits diese Grundhonorierung über die Kassenärztlichen Vereinigungen. Da haben die Hausärzte in ganz Deutschland, aber auch die bayerischen schon seit langem gesagt, das reicht uns eigentlich nicht aus, um unsere Hausarztpraxen zu finanzieren. Da kann man schon mal drüber diskutieren, da gibt es andere Meinungen auch dazu. Aber die Hausärzte sagen, ist so, das allgemeine Kassenhonorar reicht nicht. Dann haben sie vor zwei Jahren vor allem hier in Bayern einen relativ sehr gut dotierten Sondervertrag, einen Hausarztvertrag mit der größten Kasse, der AOK abgeschlossen. Der war nach Angaben des Verbandes um ein Viertel höher dotiert. Da waren sie zufrieden, war Ruhe erst mal. Dann kam aber der Bundesgesundheitsminister Rösler und hat im Spätsommer dieses Jahres ganz klar gesagt, ich finde eigentlich diese Sonderverträge nicht gut, erstens sind die zu teuer, das Geld fehlt anderswo, sagt er, und überhaupt, meiner Vorstellung von einem liberalen Aushandeln von freien Verträgen entspricht das auch nicht so ganz, da lege ich mal die Axt an. Und das ist das, was die bayerischen Hausärzte auf die Palme bringt, dass sie sagen, diese Verträge, wo wir hofften, jetzt langfristig Planungssicherheit zu haben, die werden uns wieder weggenommen, und deswegen sehen wir nur noch den Ausweg außerhalb des Systems, außerhalb der Reichweite des Bundesgesundheitsministers auch sozusagen.

    Bremkamp: Sie können das Anliegen der Ärzte also in gewisser Weise nachvollziehen?

    Nützel: Jein. Da muss man sagen, es hat was leicht Wahnsinniges an sich, dass man so komplett rausgeht aus dem System. Das hat es so noch nie gegeben. Das haben mal in Niedersachsen ein paar Kieferorthopäden probiert, aber das waren nicht mal 60 Stück. Dass Tausende Ärzte auf einmal rausgehen und sich letztlich ja ihre wirtschaftliche Existenz aufs Spiel stellen, denn die Hausärzte behandeln ja zu 90 Prozent Kassenpatienten, ihre Umsätze sind im Wesentlichen Kassenumsätze, und die Krankenkassen sagen, wenn ihr draußen seid aus dem Spiel, seid ihr draußen, dann gibt es keine Kassenhonorare mehr, das ist hoch riskant. Also ich glaube, dass der Hausärzteverband sehr, sehr hoch pokert. Er hat auch teilweise eine Wortwahl, die wirklich geradezu ans Hysterische herangeht. Da muss man den Stil schon sehr mögen. Ich persönlich mag ihn, wenn man mich nach meiner Meinung fragt, nicht so sehr, den Stil.

    Bremkamp: Warum sind es eigentlich gerade die bayerischen Hausärzte, die jetzt den Aufstand proben?

    Nützel: Hat natürlich einerseits damit zu tun: Man hat viel erreicht, man ist auf einem hohen Niveau, und wer macht schon gerne Abstriche von einem Niveau, das relativ gut ist. Im bundesweiten Vergleich haben die bayerischen Hausärzte schon immer relativ gute Honorare. In München sagen sie, brauchen wir auch, weil wir extrem hohe Praxismieten haben, oder auch unsere Arzthelferinnen übertariflich bezahlen müssen. Das gilt natürlich in anderen Teilen Bayerns nicht so sehr. Es gibt eigentlich wenig wirtschaftliche Gründe, warum jemand in Oberfranken wesentlich mehr Honorar bräuchte als in Thüringen. Aber sie haben eben einiges erreicht, das wollen sie verteidigen. Und das zweite ist: Der Hausärzteverband in Bayern ist dank seines sehr charismatischen Chefs, dem Herrn Hoppenthaler, unglaublich gut organisiert. Die haben einen Organisationsgrat von 75 Prozent. Es gibt keinen ärztlichen Berufsverband in keiner Fachrichtung und in keinem Bundesland, der annähernd so gut organisiert ist und so schlagkräftig ist und auch so mehr oder minder treu dem folgt, was der Vorsitzende sagt.

    Bremkamp: Liegt es vielleicht genau daran, dass sich die Mediziner im Freistaat so stark, so sicher fühlen können?

    Nützel: Ob sie sich sicher fühlen können, das ist die Frage. Sie haben sich eine Zeit lang sicher gefühlt, weil sie eben auch mit Kampagnen während des Landtagswahlkampfes 2008, wo einige sagen, deswegen hat die CSU ihre Jahrzehnte alte absolute Mehrheit verloren, wegen der Hausärzte, da haben sie die CSU wieder hinter sich gekriegt. Es gab lange Zeit durchaus ein gewisses Einverständnis zwischen bayerischer Staatsregierung und CSU und den Hausärzten. Aber das ist jetzt nicht mehr. Das Tischtuch ist auch zerschnitten. Insofern im Moment sagen sie, wir gegen den Rest der Welt, wir sind überhaupt nicht mehr sicher.

    Bremkamp: Mal angenommen, heute Abend fällt wirklich die Entscheidung, ja, wir verlassen das Kassensystem, welche Auswirkungen hätte das? Worauf müssten sich die Menschen in Bayern einstellen?

    Nützel: Da gibt es zwei völlig unterschiedliche Lesarten. Der Hausärzteverband sagt, wir steigen ja nicht aus, um nicht mehr zu behandeln, wir steigen ja nicht aus, um irgendwie unseren Lebensabend auf Ibiza zu verbringen, sondern wir wollen ja unsere Praxen weiter betreiben, auch mit unseren Kassenpatienten. Und die Hausärzte sagen, wir werden einfach die Krankenkassen zwingen, auch unter neuen Regeln uns weiterhin gegen Vorlage der Chip-Karte die Behandlung der Patienten zu bezahlen. Der Hausärzteverband sagt, für die Patienten ändert sich nichts. Die Krankenkassen sagen, völliger Unsinn, wir dürfen bei euch keine Honorare mehr zahlen, wenn ihr keine Kassenzulassung mehr habt. Das heißt, wenn ein Patient zu euch geht, ist er bei euch Privatpatient, er kann sich eine Privatrechnung stellen lassen, aber die bekommt er nicht erstattet. Und wenn Patienten das nicht wollen oder können, dann müssen sie zu anderen Ärzten gehen, sagen die Krankenkassen, oder in Krankenhausambulanzen, und das ist der Weg, den die Kassen aufzeigen. Also zwei völlig unterschiedliche Lesarten, was hinterher passiert.

    Bremkamp: Was käme denn auf den Rest der Republik, auf ganz Deutschland zu?

    Nützel: Das wird sicherlich von vielen Ärzten mit großer Aufmerksamkeit beobachtet. Das ist ja so ein Modell, das immer mal wieder verschiedene Ärztegruppen diskutiert haben, gemeinsam die Zulassung zurückgeben. Wie gesagt, in Niedersachsen haben es Kieferorthopäden schon mal probiert, auch anderswo. Wenn den Bayern das jetzt gelänge, dann würde das sicherlich für große Aufregung sorgen und einige würden sagen, Mensch, das könnten wir auch mal probieren, in Nordrhein, in Westfalen-Lippe, diesen Kassenbezirken, oder auch in anderen Teilen Deutschlands. Auch Facharztgruppen würden sagen, Mensch, wir sind doch ein kleiner geschlossener Haufen, wenn wir als was weiß ich, Urologen jetzt gemeinsam die Zulassung zurückgeben, das wäre doch was. Wenn Herr Hoppenthaler hingegen scheitert mit seinem Ausstieg, dann ist dieses Instrument des Protests erst mal für Jahre und Jahrzehnte verbrannt.

    Bremkamp: Die bayerischen Hausärzte drohen mit einem Ausstieg aus dem Kassensystem. Im Gespräch dazu war das der Autor und Fachjournalist Nikolaus Nützel. Herzlichen Dank!

    Nützel: Bitte schön!