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Das Individuum und seine Sehnsucht nach einem mündigen Leben

Schon Platon oder Aristoteles haben darüber nachgedacht, wie ein gutes Leben aussehen könnte. Ein Leben in einer freien und gerechten Welt ohne Angst und Gewalt. Doch abschließend geklärt ist diese Frage noch lange nicht. Wie das Essay des Schweizer Philosophen Peter Bieri zeigt.

Von Niels Beintker | 02.01.2012
    Der Gedanke ist keineswegs neu. Schon die ersten Zeilen von Peter Bieris Essay eröffnen eine Spur zu dem heute wohl populärsten Text von Immanuel Kant, der Antwort auf die Frage "Was ist Aufklärung?". Kants Bestimmung ist berühmt geworden: "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit." Und: "Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen." Die Parole der deutschen Aufklärung. Bei Bieri klingt das, fast 230 Jahre nach der Veröffentlichung von Kants kleiner Schrift ähnlich. Ausgehend von der Frage, was ein selbstbestimmtes Leben ist, schreibt er:

    Wir wollen im Einklang mit unseren Gedanken, Gefühlen und Wünschen leben. Wir möchten nicht, dass uns jemand vorschreibt, was wir zu denken haben, zu sagen und zu tun haben. Keine Bevormundung durch die Eltern, keine verschwiegene Tyrannei durch Lebensgefährten, keine Drohungen von Arbeitgebern und Vermietern, keine politische Unterdrückung.

    In insgesamt drei Kapiteln - hervorgegangen aus einer Vortragsreihe in Graz - richtet der Schweizer Philosoph den Blick auf das Individuum und seine Sehnsucht nach einem selbstständigen, mündigen Leben. Es geht vor allem um innere Selbstständigkeit, die Reflexion des eigenen Handelns, die Spiegelung durch Mitmenschen, den Versuch, eine Sprache für das eigene Empfinden zu finden. Dass der Mensch ein soziales Wesen ist und für ein Leben in der Freiheit auch eine entsprechende gesellschaftliche Ordnung benötigt, wird nicht eigens thematisiert. Peter Bieri bleibt ganz und gar beim Ich und seinen Möglichkeiten, eine mögliche eigene innere Verfassung zu ergründen. Selbst beim Reflektieren über kulturelle Identitäten steht der einzelne Mensch im Fokus seiner Ausführungen. Bildung etwa wird verstanden als "Versuch, sich darüber klar zu werden, wer man sein möchte", zum Beispiel beim Nachdenken über ein Leben in Würde. Und, kaum überraschend, als lebenslanger Prozess, in dem sich der Einzelne beständig in einen kommunikativen Dialog mit seinen Mitmenschen stellen muss. Bieri spricht von Erwachen. Auch das wäre eine Analogie zum Projekt der Aufklärung, die im angelsächsischen Raum als 'Enlightenment' beschrieben wird. Wörtlich übersetzt: als Erleuchtung.

    Bildung als die aktive, reflektierende Beschäftigung mit Kultur wird sich immer auch mit Vorstellungen davon beschäftigen müssen, was als eine würdige und eine würdelose Einstellung zu anderen und zu sich selbst gilt. Was für Lebensumstände gelten als entwürdigend, welche nur als leidvoll und beschwerlich? Welche Arten des Bestrafens nehmen jemandem die Würde, und welche lassen sie ihm? Was spielen Arbeit und Geld für eine Rolle bei der Erfahrung von gewahrter und verlorener Würde?

    Eine jede dieser Fragen eröffnet, genau besehen, einen großen Raum für sich. Sie werden aber nur gestellt, nicht weiter vertieft oder gar erörtert. Peter Bieri erweist sich als Meister der Andeutung - und das ist das Problem dieses Essays über das richtige Leben. Als öffentlicher Vortrag, etwa vor dem höflich-interessierten Publikum einer Sonntagsmatinee mag er funktionieren. Als Buch aber, mit der Möglichkeit, im Text jederzeit innezuhalten und das Gelesene im Inneren zu bewegen, nicht. Bieri stellt unendlich viele Fragen, verstrickt sich aber zuweilen in einem Geflecht aus Thesen über die Selbstbestimmtheit des Menschen und die Schwierigkeit, in einer globalisierten und krisenreichen Welt, überhaupt als politisch mündiger Mensch handeln und etwas bewirken zu können, zum Beispiel im Kampf gegen Armut und Hunger. Immerhin verweilt der an der Freien Universität Berlin lehrende Philosoph einen Augenblick bei der Moral. Aber auch da fehlt, genau besehen, die von Bieri für das Denken über sich selbst geforderte genaue Differenzierung. Er bleibt eher im Allgemeinen, Unverbindlichen, wenn er schreibt:

    Moralische Urteile sind keine Geschmacksurteile; es gibt keine moralische Großmut. Wenn ich Folter, Todesstrafe, die öffentliche Bloßstellung Unschuldiger oder krasse Formen von Ungerechtigkeit für moralisch indiskutabel halte, dann sind sie für mich genau das: indiskutabel, nicht verhandelbar. Moralisches Handeln ist genau das: Sich einmischen, wenn man von Grausamkeit erfährt.

    Das ist schon einer der politischsten Gedanken in einem Essay, der eigentlich eine zutiefst politische Frage stellt. Eben die, wie wir leben wollen. Es sollte dabei aber nicht nur um die Selbstbestimmtheit des einzelnen Menschen gehen, sondern auch um die politische und soziale Ordnung, die diese Mündigkeit ermöglicht, um die Staats- und Gesellschaftsform, aus der die Freiheit erst erwachsen kann, eben zum Beispiel in einer modernen Demokratie. Darüber nachzudenken, gerade in einer Zeit von großen weltpolitischen und auch wirtschaftlichen Umbrüchen, wäre ein großes Projekt. Peter Bieri gibt aber allenfalls eine Skizze. Insofern ist sein Essay - klug komponiert, schön geschrieben, manchmal eher eine Poetikvorlesung - kein erschöpfender Beitrag für das Nachdenken über eine politische Kultur der Freiheit, da eben gerade die politische Dimension viel zu kurz kommt. Vielmehr bietet Bieri eine Gedankensammlung, die immerhin einen Bogen für die Auseinandersetzung mit wichtigen philosophischen Zeitfragen zu eröffnen vermag. Der Philosoph selbst empfiehlt am Schluss des kurzen Büchleins seine sehr viel umfangreichere Studie "Das Handwerk der Freiheit" aus dem Jahr 2001. Dieser Anregung zur weiteren Lektüre möchte man gerne folgen.

    Peter Bieri
    Wie wollen wir leben? Unruhe bewahren. Residenz Verlag, 93 Seiten, 16,90 Euro
    ISBN: 978-3-701-71563-3