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Das Innenleben einer Stadtneurotikerin als Comic

Der New Yorker Stadtteil Williamsburg ist eines dieser Szeneviertel mit Künstlern und Kreativen. Die Zeichnerin Gabrielle Bell zeigt in ihrem Comictagebuch, wie sich viele dieser Menschen mit der Suche nach dem richtigen Leben schwer tun.

Von Dirk Schneider | 12.12.2012
    Wenn ich alle paar Tage mal vor die Tür gehe, sehe ich, wie draußen das Leben pulsiert, es ist so intensiv. Manchmal geht mir das so nahe, dass meine Depression unerträglich wird. Dann werde ich gemein und paranoid, bis nicht mal mehr mein Freund mich aushält.

    Die New Yorker Zeichnerin Gabrielle Bell führt ein Comictagebuch, das sie im Internet veröffentlicht.

    "Für mich ist das einfach ein psychologisches Bedürfnis. Irgendwann habe ich so viel Zeit in das Tagebuch gesteckt, dass meine übrige Arbeit als Comiczeichnerin liegen geblieben ist. Da habe ich beschlossen, das Tagebuch als eigene Kunstform zu pflegen."

    Dass diese zurückhaltende Person, die einen aus großen blauen Augen unter ihrem braunen Pony schüchtern anschaut, ihr Privatleben öffentlich macht, ist erst einmal gar nicht so leicht vorzustellen. Weite Teile von Gabrielle Bells Tagebuch handeln von ihren Selbstzweifeln und ihrem Wunsch, sich einfach nur zuhause einzuschließen. Doch sie bekommt gerade dafür Bestätigung:

    "Die Leute schreiben mir oft, dass sie sich mit meinen Geschichten identifizieren. Und häufig sagen sie, dass eine Sache sie besonders berührt, weil sie ganz ähnliche Dinge durchmachen."

    Gabrielle Bell lebt im New Yorker Stadtteil Williamsburg. An wohl kaum einem anderen Ort der Welt ist die Dichte von jungen Menschen, die an einem kreativen Lebensentwurf basteln, so hoch wie hier. Dabei kommen viele von ihnen noch nicht mal mit ihrem Alltag zurecht. Gabrielle Bell kann man wohl eher zu denen rechnen, die sich schwer tun. Doch wer in Williamsburg wohnt, bleibt dann natürlich doch nicht tagelang zuhause.

    "Es geht viel darum, in Cafés und Bars herumzusitzen, um Jugendkultur, um Fahrrad fahren. Ja, das urbane Leben. Ich fühle mich da wohl. Es sind natürlich vor allem weiße, privilegierte Menschen, die in Cafés sitzen und auf Laptops ihre Drehbücher schreiben. Aber vielleicht muss man privilegiert sein, um etwas zu schaffen."

    Tatsächlich ist Gabrielle Bell überzeugt, dass all die anderen in den Cafés von Williamsburg produktiv sind, während sie selbst vor allem damit beschäftigt ist, ihre Arbeit aufzuschieben. Der Aufschub, die Verzögerung: ein zweites großes Thema ihrer Chroniken, die Monologe der Einsamkeit sind. Oder Dialoge unter Freunden über Angst, Hoffnung und die Absurdität unserer Welt.

    Wir wünschen uns Geld und Ruhm, weil wir glauben, dass wir dann respektiert werden, und dass uns das glücklich macht. Dabei bekommen wir echten Respekt nur von guten Freunden.

    Geld hat Gabrielle Bell nicht viel, Ruhm erntet sie aber in der amerikanischen Comicszene, und zunehmend darüber hinaus. Der französische Regisseur Michel Gondry hat sogar einen ihrer Comics verfilmt. Mit Gondry war Belle eine Weile liiert, auch ein Teil von Bells neuer Geschichtensammlung "The Voyeurs" erzählt davon – selbstverständlich war es keine einfache Beziehung:

    Er: "Du hörst mir ja gar nicht zu! Sag es doch das nächste Mal, dann spare ich mir meinen Atem."
    Sie: "Entschuldige bitte, ich war gerade in Gedanken."
    Er: "Schon okay. Du interessierst dich halt für andere Sachen. Und vielleicht fehlt es mir einfach an Charisma."
    Sie: "Spinnst du? Du fließt geradezu über vor Charisma."
    Er: "Aber ich habe auch die Gewohnheit, immer weiter zu reden, und irgendwann fangen die Leute an, zu gähnen oder mit ihrem Handy zu spielen. He, du hörst mir schon wieder nicht zu!"
    Sie: "Natürlich höre ich zu! Aber dein fehlendes Charisma macht es einfach schwer, sich auf dich zu konzentrieren."

    Diese Alltagsberichte sind so komisch wie melancholisch - und oft sehr poetisch. Bells Bilder sind feine Beobachtungen ihrer unmittelbaren Umgebung, aber auch der Gesellschaft, in der sie lebt. Dabei zeigt sich Bell als eine Art Stadtneurotikerin: Wie Woody Allen in den 70er-Jahren über das Leben in Manhattan erzählt hat, entlarvt Bell die Macken junger Großstadtbewohner der 2010er-Jahre. Sie sind auf der Suche nach dem richtigen Leben und scheinen dabei doch so viel falsch zu machen. Dass Bell ihre Onlinetagebuch "Lucky" nennt, mag sarkastisch erscheinen. Aber das Glück, oder zumindest so etwas Ähnliches, lauert dann am Ende doch irgendwo, wo man es vielleicht nicht vermutet. Auch für Gabrielle Bell:

    "An einem Comic zu arbeiten und dabei ein Hörbuch zu hören, das ist das Schönste, was es gibt. Darum trägt mein Comictagebuch auch den Titel "Lucky"."

    Buchinfos:
    + Gabrielle Bell: "Lucky", unter gabriellebell.com
    + Gabrielle Bell: "The Voyeurs", Uncivilized Books, ISBN 978-0-9846814-0-2