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"Das ist kein demokratischer Vorgang"

Der in Stuttgart lebende Schauspieler Walter Sittler hat der Stadt vorgeworfen, den Umbau des Bahnhofs gegen den Willen der Mehrheit durchzusetzen. Die Protestierenden seien kompromissbereit, während die Verantwortlichen die Maßnahme als unumkehrbar bezeichnen und die Gegner als gewaltsame Demonstranten darstellten.

Walter Sittler im Gespräch mit Jasper Barenberg | 27.08.2010
    Jasper Barenberg: Seit mehr als zehn Jahren plant man in Stuttgart das gewaltige Bahnprojekt, damit aus dem Kopfbahnhof über der Erde ein unterirdischer Durchgangsbahnhof wird, zum Nutzen für die Bahn, für die Stadt und für ihre Bürger, sagen die Befürworter. Alle parlamentarischen Hürden sind genommen, alle Einsprüche vor Gericht gescheitert, doch der Widerstand, er wächst fast täglich, zumal seit Beginn von Abrissarbeiten in dieser Woche. Heute werden 50.000 Demonstranten in Stuttgart erwartet.

    Engagiert im Kampf gegen das Bahnprojekt "Stuttgart 21" ist auch der Schauspieler Walter Sittler. Er ist jetzt am Telefon. Einen schönen guten Morgen!

    Walter Sittler: Ja, guten Morgen!

    Barenberg: Herr Sittler, bis in die Nacht hinein waren Sie selbst bei den Protesten dabei.

    Sittler: Ja.

    Barenberg: Wie erleben Sie den Widerstand, die Situation vor Ort dort zurzeit?

    Sittler: Vor Ort ist es so, dass es sehr friedlich ist. Es wird gesungen, es wird Ball gespielt, es wird rumgesessen, man redet miteinander, man redet mit den Polizisten auch. Das ist ja das Schöne. Unangenehm ist, dass der Bauzaun durch einen weiteren Zaun abgesichert ist. Der Stuttgarter Innenminister schützt das Volk vor seiner eigenen Meinung, weil man kann den Bauzaun nicht mehr lesen. Wer den kennt, weiß, was für ein wunderbares Ding das ist. Es ist äußerst friedlich!

    Barenberg: Sind Sie, wenn Sie gegen das Projekt demonstrieren, ein Feind des Fortschritts?

    Sittler: Nein, im Gegenteil. Die Stuttgarter waren noch nie Feinde des Fortschritts. Das ist das Bild, was man von außen hat. In Stuttgart gibt es die größte Ingenieursdichte, es gibt die größte Architektendichte, es gibt unglaubliche Erfindungen hier. Nur: Die Stuttgarter zählen eins und eins zusammen und die Vorteile, die ihnen vorgegaukelt werden, sind mit keinem Gutachten zu belegen, und die Kosten, die ihnen vorgerechnet werden, werden mit jedem Gutachten mindestens verdoppelt.

    Barenberg: Heute zerschneidet ja ein breites Gleisbett das Stadtzentrum. Hunderte Hektar würden frei, sollte der neue Bahnhof gebaut werden. Fachleute sagen, dringend gebraucht, diese Fläche, für die Entwicklung der Stadt in dem engen Talkessel von Stuttgart, ein ganzes neues Stadtviertel könnte entstehen, 20 Hektar zusätzliches Parkland. Was spricht dagegen?

    Sittler: Die Stuttgarter Innenstadt wird nicht durchschnitten. Die Stuttgarter Innenstadt ist die Königsstraße aufwärts. Es würden auch nicht Hunderte Hektar frei, sondern exakt 104, von denen etwa 80 genutzt werden könnten. Die Kosten, um diese Bauflächen überhaupt baufähig zu machen, sind so enorm, dass die Verkaufspreise klar bestimmen werden, was dort gebaut wird. Man wird sehr dicht bebauen müssen, um nicht pleitezugehen, und wenn man sehr dicht bebaut, selbst wenn man Wohnungen bauen will in erster Lage, kann ich Ihnen sagen, wer da wohnen wird. Es geht um Event-Bauten hauptsächlich. Das ist das, was in den letzten Jahren mit wenigen Ausnahmen in Stuttgart gemacht worden ist.

    Barenberg: Also keine Entwicklungschancen für die Stadt?

    Sittler: Es gibt keinen Stadtentwicklungsplan, es gibt nicht mal einen Bebauungsplan. Also insofern: Die ganzen Versprechungen, wenn sie sagen, wir werden das ökologisch größer machen und so weiter; es stimmt, dass der Park größer werden soll, der wird aber vorne auch ein entscheidendes Stück kleiner. Und bei der Alternative, bei "K 21", die es ja auch gibt, wird der Park ebenfalls größer. Es bleiben nicht so viele Flächen für die Bebauung übrig. Das stimmt! Dafür kostet es auch nur einen Bruchteil.

    Barenberg: Über die Alternative, das Alternativprojekt wollen wir gleich noch mal sprechen. Zunächst noch mal zu dem, was die Befürworter an Vorzügen geltend machen. Dazu zählt ja auch, dass es schnellere Züge und eine bessere Anbindung an den Flughafen gibt. Zählt das in Ihren Augen auch nicht?

    Sittler: Die schnellere Anbindung an den Flughafen bedeutet zwei Züge, im Höchstfall zwei Züge pro Stunde. Man könnte jetzt schon mit einer Express-S-Bahn, ohne einen Euro zu investieren, außer für zwei neue Züge, in 17 Minuten vom Hauptbahnhof zum Flughafen fahren und bräuchte nicht 15 Jahre Bauzeit. Das ginge jetzt schon. Man würde die Gäubahn erhalten, die entscheidend ist für den Güterverkehr von den Fildern herunter. Die wird übrigens bei "Stuttgart 21" aufgelöst. Man behindert also massiv den Güterverkehr von dort. Die Schnelligkeit nach Ulm würde gesteigert, das stimmt. Dafür müsste man eben viele Milliarden ausgeben.

    Barenberg: Nun haben ja der Gemeinderat in Stuttgart, es haben der Landtag, es haben der Bundestag, alle Parlamente haben für das Projekt gestimmt, wenn auch in umstrittenen Entscheidungen gewiss. Zehntausende Eingaben wurden bearbeitet, teils vor Gericht, alle Klagen gingen zugunsten des Projektes aus. Wie legitim ist der Protest jetzt?

    Sittler: Der Bundesrechnungshof hat 2008 festgestellt, dass die Entscheidungen ohne die erforderliche Faktenlage getroffen wurden. Das muss man vielleicht manchmal machen, das kann schon sein. Aber wenn die Fakten dann vorliegen und den Entscheidungen, die getroffen worden sind, so widersprechen und die geradezu infrage stellen, was der Bundesrechnungshof auch tut - übrigens der nicht dafür bekannt ist, dass er demonstriert auf den Straßen -, dann wäre es notwendig, diese Entscheidungen noch mal erneut einzuholen. Niemand bezweifelt, dass die bisherigen Entscheidungen demokratisch waren, aber wenn ich keine Fakten habe - und das ist das, was der Bundesrechnungshof auch sagt -, dann muss ich diese Entscheidung aufgrund der neuen Sachlage neu entscheiden. So ist das in der Demokratie.

    Barenberg: Sollen am Ende wenige gegen die Mehrheit entscheiden?

    Sittler: Wer, sagen Sie, ist die Mehrheit?

    Barenberg: Jedenfalls sind die Protestanten ja nicht die ...

    Sittler: Die letzte "Zeit"-Umfrage von der "Zeit" in Hamburg hat 80 Prozent Gegner ausgemacht. Also wer ist jetzt die Mehrheit?

    Barenberg: Ich frage mich nur, ob die Protestierenden derzeit die Mehrheit sind?

    Sittler: Die, die gegen "Stuttgart 21" sind in Stadt und Land, sind die Mehrheit, ja. Und deswegen fürchtet auch der Bürgermeister, die Bürgerbefragung durchzuführen, die er 2004 bei seiner Wiederwahl versprochen hat und durch sein eigenes Verhalten, durch die überschnelle Unterschrift 2007 mit Herrn Oettinger selbst torpediert hat. Und das ist das, was die Menschen auch verrückt macht: Einmal, dass die Kosten davonlaufen, dass gespart wird an Stellen, die den Menschen richtig wehtun, jetzt schon und in Zukunft noch viel mehr, und dass sie immer wieder nicht mit der vollen Wahrheit konfrontiert werden und im Regen stehen gelassen werden. Das lassen sich die Stuttgarter und Stuttgarterinnen im Moment nicht mehr gefallen.

    Barenberg: Ist das auch der Grund dafür, warum Sie zunächst Befürworter waren und dann zum Gegner wurden?

    Sittler: Ich war nie Befürworter. Ich habe es mir angeschaut, habe gesagt: Na ja, interessant, schauen wir mal. Dann war das Projekt gekippt, die Deutsche Bahn ist ausgestiegen, zweimal sogar, und wurde mit Millionen Zuwendungen seitens der Stadt und der Flughafen AG überhaupt dazu gebracht, wieder dabei zu sein. Das darf man nicht vergessen. Die Stadt Stuttgart hat dieses Gelände gekauft, kann es über die nächsten 20 Jahre nicht nutzen, hätte Anspruch auf Zinsen gehabt, die sie der Bahn erlassen haben, allein 202 Millionen jetzt schon.

    Barenberg: Der Oberbürgermeister Wolfgang Schuster, Sie haben ihn erwähnt, er hat jetzt abermals betont, das Projekt sei unumkehrbar, die Entscheidung für dieses Projekt. Was kann sinnvollerweise das Ziel der Proteste jetzt sein?

    Sittler: Eine Entscheidung in einer Demokratie als unumkehrbar zu bezeichnen, ist nicht sehr klug, weil Gesetze und Bauvorhaben können gestoppt, aufgegeben, geändert, neu geplant und alles Mögliche kann damit passieren. Also das ist kein demokratischer Vorgang, den er da sagt. Wir erleben gerade, wie der Atomausstieg mit der Unterschrift der Bundesregierung und allen Energievertretern gerade geschreddert wird. Also das stimmt nicht, was er sagt.

    Was wir erreichen können, ist durch den massiven Protest der Bürgerinnen und Bürger, dass darüber nachgedacht wird, dass man das Projekt einstellt und dass man die sinnvolle Alternative, die es gibt, mit sehr viel weniger Geld, mit viel größeren Sicherheiten - man hat diese ganzen Unsicherheiten wegen der Tunnelbaus alle nicht, und man ist sehr viel schneller fertig und man behält den Kopfbahnhof, weil 80 Prozent der Fahrgäste, die nach Stuttgart kommen, in Stuttgart ankommen, steigen aus oder um. Es gibt kaum welche, die durchfahren. Und da sind wir wieder bei der Mehrheit. Soll man für die 20 Prozent einen Durchgangsbahnhof bauen, damit die kein Licht sehen? Muss man nicht.

    Barenberg: Nun halten Kritiker des Alternativkonzepts wiederum dagegen, dieses Konzept sei nicht billiger und es würde auch bedeuten, zum Beispiel zwei Brücken müssten über den Neckar gebaut werden und große Teile des Zugverkehrs würden dann durch dicht besiedelte Wohngebiete führen. Ist das wirklich die bessere Alternative?

    Sittler: Stuttgart hat im Moment noch überhaupt keinen Engpass, was den Zugverkehr nach Süden, nach München anlangt. Man kann die bestehenden Anlagen, die jetzt da sind, einfach renovieren. Man hat die fahrlässig verrotten lassen über 20 Jahre, wodurch die Fahrzeit nach München gestiegen ist, um über 20 Minuten übrigens. Man könnte das schrittweise machen und dann kann man sehen, wenn man eine neue Trasse baut, ob man nicht zum Beispiel dann doch die Neubaustrecke nach Ulm entlang der Autobahn baut und mit dem Übergang hinter Esslingen zwischen Esslingen und Plochingen. Das geht.

    Barenberg: Und in der Stadt würde es dabei bleiben, dass eine große Fläche mitten in der Stadt von Gleisen belegt wird, die weiter überirdisch laufen?

    Sittler: In der Stadt würde der Güterbahnhof frei werden. Es würden etwa 40 Hektar frei werden, die bebaut werden können. Da sind keine Flächen dabei, die nicht bebaut werden können. Und der Park bliebe erhalten, er würde sogar noch erweitert werden, weil der vordere Schlossgarten direkt am Hauptbahnhof, das ist ein ganz entscheidender Teil der Naherholung für die Stuttgarter. Alle, die in Stuttgart sind, wissen das. Und es ist ein ganz wichtiger Teil für das Klima in Stuttgart. Es ist auch so, dass diese Gleisflächen - Stuttgart liegt ja in einem Tal - im Sommer einen Teil der nächtlichen Kühlung ausmachen, die verloren geht, wenn man es mit Bebauung versiegelt.

    Barenberg: Kurz zum Schluss, Herr Sittler. Wie groß schätzen Sie die Chancen ein für eine sachliche Auseinandersetzung und einen Kompromiss in der Sache?

    Sittler: Von Seite der Protestierenden ist die Kompromisswilligkeit zu 100 Prozent da. Von den Verantwortlichen sehe ich es im Moment nicht, weil sie eigentlich die Unumkehrbarkeit darstellen wollen, indem sie Baumaßnahmen durchführen. Entgegen ihren eigenen Aussagen machen sie es ganz anders als geplant, und weil sie Polizisten, die nichts dafürkönnen, aufmarschieren lassen, als wären wir gewaltsame Demonstranten, was wir nicht sind. Sogar die friedlichen Demonstranten vom Dach wurden von vermummten Polizisten runtergeholt. Das ist kein Angriff auf die Polizisten, wohlgemerkt, sondern ein Angriff auf die Verantwortlichen, die so etwas machen und so tun, als würden wir eskalieren.

    Barenberg: Der Schauspieler Walter Sittler heute Morgen im Deutschlandfunk. Danke schön für das Gespräch.

    Sittler: Bitte.