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"Das ist mein hellstes Buch"

Dass Religion in die Kirche gesperrt wird und die Literatur in den Bücherschrank, will Martin Walser mit seinem neuen Roman "Muttersohn" überwinden. Die Hauptfigur Percy Schlugen reifte in Walser über Jahrzehnte.

Martin Walser im Gespräch mit Christoph Heinemann | 15.07.2011
    Christoph Heinemann: Menschwerdung ohne Vater, das kennen wir aus der Weihnachtsgeschichte. Heute erscheint Martin Walsers Roman "Muttersohn" offiziell im Buchhandel. Der Titel "Muttersohn" nicht im Sinne von Muttersöhnchen, sondern als Beschreibung einer exklusiven Beziehung, in der ein Vater nicht vorgesehen ist. Im Mittelpunkt steht der freundliche und redegewandte Krankenpfleger Percy Anton Schlugen und auch seine Mutter, die heißt Josefine, also gleichsam Maria und Josef in einer Person. Das weiß auch Percy, und der hält damit nicht hinterm Berg, wie die Leserinnen und Leser schon auf Seite 19 erfahren:

    "Fräulein Hedwig gegenüber sprach er es zum ersten Mal aus, dass er keinen Vater hatte. Sie meinte natürlich, er sei ein Halbwaise oder der Vater habe sich davongemacht. Er aber, ohne in einen rechthaberischen Ton zu verfallen: Nein. Meine Mutter hat es mir gesagt, dass sie mich geboren habe, ohne dass vorher ein Mann nötig gewesen sei. Dass Fräulein Hedwig dann kein bisschen staunte! Sondern seine Hände nahm und sagte, ihr sei Percy gleich so vorgekommen, als sei er nicht wie alle anderen. Pfarrer Studer kam, als Schwester Hedwig es ihm weitergesagt hatte, geradezu fröhlich auf Percy zu und sagte, auf so einen haben wir gewartet, und lachte."

    Heinemann: Vor dieser Sendung habe ich den Schriftsteller Martin Walser gefragt, wann und wodurch ausgelöst in ihm die Idee zu diesem Buch reifte?

    Martin Walser: Na ja, das ist ein so langer Prozess. Auf jeden Fall seit 50 Jahren sehe ich mich als Adressaten von traurigsten, elendesten Botschaften und Zeugnissen aus allen möglichen Quartieren der Gesellschaft und der Welt, in denen man es schwer hat: also Anstalten, Gefängnisse, aber auch sonstige Wohnungen. Und ich habe immer alles aufbewahrt und auch mit den Schreibern dann Briefwechsel gehabt und so weiter, und da wuchs natürlich allmählich mein Bedürfnis, ja einmal unabhängig von den gesellschaftlichen Bedingungen, vom Betrieb und vom Chef und von der Konkurrenz einfach menschliches Dasein als solches in seinen feineren, höheren, auch leidenden Frequenzen zu erzählen. Und da hat sich ganz allmählich eine Figur gebildet, von der ich noch nicht wusste, was es sein wird, aber eines Tages war halt dieser Percy dann da und hat sich gemeldet. Und nachdem ich dann auf der ersten Seite gleich schreiben konnte, Furcht und Ungeduld waren ihm fremd, da habe ich gewusst, was für eine Art von Figur es sein wird.

    Heinemann: Und der Autor hat eine Botschaft. Wie sollte "Muttersohn" gelesen, verstanden werden?

    Walser: Ich sage ja immer, jeder Leser liest sein Buch. Ich schreibe mein Buch, und ich weiß aus Tausenden von Leserbriefen, dass die Leser ihrgie Buch lesen, zum Glück. Verstehen Sie, die Gesellschaft kann mit ihren literaturbetrieblichen Anstalten noch so sehr Interpretation und Angebot und Verständnismache liefern. Zum Glück, zum Glück: Lesen ist so schöpferisch wie Schreiben. Lesen ist nicht wie Musik hören, sondern wie Musik machen. Und deswegen muss ich nicht sagen, wie das verstanden werden soll, sondern ich gebe es sehr, sehr, sehr vertrauensvoll an, gestatten Sie, meine Leser, und ich hoffe, die können dann etwas damit anfangen.

    Heinemann: Aber Sie haben wenigstens bei der Farbgebung eine kleine Vorlage geliefert. Sie haben dieses Buch als Ihr hellstes beschrieben. Worauf bezieht sich diese Helligkeit und Klarheit?

    Walser: Ja gut, es ist mein Buch. Verstehen Sie? Das ist mein hellstes Buch, weil das Gesellschaftliche … Ich habe auch einen Roman geschrieben, der heißt "Seelenarbeit". Der Chauffeur Xaver Zürn kann nachts nicht schlafen, er denkt an seinen Chef, und er weiß, sein Chef denkt nicht an ihn. So was kommt bei Percy nicht vor. Verstehen Sie, es gibt keine Konkurrenzsituation, keine gesellschaftlichen Bedingungen, es gibt nur das Wichtige: die Liebe und natürlich das Gegenteil auch, den Hass. Aber all das nicht als Produkt einer Gesellschaft, sondern als menschliches Leben.

    Heinemann: Herr Walser, die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung überschrieb eine Kritik mit den Worten, "Jesus am Bodensee". Ist dieser Percy für Sie ein, wie die FAS dann weiter schrieb, heiliger Muttersohn?

    Walser: Na ja, das ist eine ein bisschen lustige Bezeichnung, wie Sie ja gleich merken können. Das ist eine Zeitungs-Pointe. Also mein Percy, der natürlich aus verschiedenen Umständen gelegentlich auf so etwas Ähnliches angesprochen, weicht natürlich da aus und das ist grotesk. Nur es ist eben eine Figur, die die Fähigkeit hat zu lieben und die die Fähigkeit hat, sich den üblichen Umgangsweisen zu entziehen, sodass eine besondere Art von Existenz zustande kommt, und die ist dann nicht mehr vergleichbar mit Herrn X und Y, so, bitte schön, und dann greift halt jemand ganz weit und sagt, das hat was Jesushaftes schon, dass er auf die Welt gekommen sein will, ohne dass ein Mann nötig war, und so weiter und so weiter. Das ist die Atmosphäre dieses Buches, das ist die Atmosphäre dieser Figur, und die führt dann halt zu solchen Bildern.

    Heinemann: Sie haben im "Liebenden Mann" Goethe wieder auferstehen lassen. Ist dieser Jesus Schlugen jetzt die zwingende Steigerungsform?

    Walser: Ja, das ist natürlich von außen freundlich so gesehen. Aber ich weiß nicht, was das miteinander zu tun hat. Eines kann ich akzeptieren: Ich tendiere offenbar – das ist keine Wahl, kein Entschluss, aber das kommt halt von selbst -, ich tendiere zu, ich übertreibe es ein bisschen, zu größtmöglichen Figuren und zu möglichst hohen Frequenzen, das stimmt schon. Mir ist also die gesellschaftliche Bedingung, gestatten Sie, alles Politische ist mir immer unwichtiger. Der Unterschied von SPD und CDU interessiert mich als Autor überhaupt nicht.

    Heinemann: Der ist auch schwer herzustellen in einigen Punkten. Das hat vielleicht auch damit zu tun. – Stichwort hohe Frequenzen. Es geht um den Glauben auch. Sie haben ein kurzes Gedicht geschrieben, das Ihr Verhältnis zum Glauben beschreibt. "Ich bin an den Sonntag gebunden, wie an eine Melodie. Ich habe keine andere gefunden. Ich glaube nicht, aber ich knie."

    Walser: Ja, das stimmt.

    Heinemann: Wieso nicht glauben und doch knien?

    Walser: Ja. Sehen Sie, das ist dieses Paradox der menschlichen Existenz, das beschreibt, wie schwer es ist zu glauben. Wenn man kniet, das ist ja schon eine Tätigkeit, die Glauben verrät. Und trotzdem: Der da droben, das sind die Knie, und der Mund sagt, ich glaube nicht, und das ist der ganze Mensch. Aus diesem Widerspruch bestehe nicht nur ich, sondern aus dem bestehen seit 2000 Jahren Europäer. Das ist unsere Existenz. Und ich kann sagen, es gab eine Zeit, bitte, da haben wir alle nicht teilgenommen, da war, was wir Religion nennen, war damals genauso wie das, was wir Literatur nennen. Ich zitiere Psalmen. Psalmen ist höchste Literatur. Das Weihnachtsevangelium ist höchste Literatur. Leider haben sich die beiden Disziplinen getrennt, das ist ein Schaden für beide. Die Religion sperren wir in die Kirche, die Literatur in den Bücherschrank. Und ich in diesem Buch mache den schüchternen Versuch, Religion und Literatur einander auf eine erträgliche Weise anzunähern.

    Heinemann: Glauben setzt, das haben Sie einmal so beschrieben, eine religiöse Begabung voraus, und diese Anlagen nehmen gegenwärtig ab, oder sie werden nicht gefördert. Die europäische Religion, das Christentum, ist auf dem Rückzug. Sie sprachen gerade davon, dass die Religion in die Kirche eingesperrt wird. Wohin entwickelt sich denn eine Gesellschaft, die diese religiösen Begabungen verkümmern lässt oder, um es mit der Sprache von "Muttersohn" zu sagen, die weniger geleitet ist?

    Walser: Um eine solche Gesellschaft und Welt müsste man natürlich Angst haben. Aber ich glaube nicht, also ich habe keine Begabung zur Apokalypse. Natürlich begegne ich jetzt Menschen, Intellektuellen, die jetzt über mich oder mein Buch schreiben oder sprechen, und plötzlich merke ich, da schreibt einer über mich, der nicht die Spur von irgendetwas Religiösem in sich noch lebendig fühlt. Verstehen Sie? Für den bin ich eine Fremdsprache.

    Heinemann: Das heißt, der nicht mal mehr kniet?

    Walser: Ja, genau so ist es, der weder kniet noch diese alte Melodie singt. Und wissen Sie, dazu ist jetzt mein Buch, daran entscheidet es sich, da können sie ihre ganze Nicht-Religiosität, ihr Nicht-knien-Können, da können sie es jetzt also über Percy ausschütten. Mir kommt das so vor, als würden da Farbenblinde über Impressionismus schreiben, und da bleibt halt nichts anderes übrig als Striche. Aber ich glaube auch nicht an das Erlöschen dieser Begabung. Wissen Sie, es ist ja eine Begabung, die entsteht aus unserer Existenz, aus der Notwendigkeit. In dem Buch heißt es einmal, zum Glauben kommt man nur, wenn nichts anderes möglich ist. Wer sich da souverän erhoben glaubt und er glaubt, er hat das nicht nötig, das macht nichts, wenn dann und wann eine Biografie in Sackgassen endet. Die ganze Menschheit wird in diese tonlose Sackgasse nicht geraten für immer, da bin ich sicher.

    Heinemann: Herr Walser, Johann Sebastian Bach hat als letztes Werk die BACH-Fuge geschrieben. Wenn man B, A, C, H als Noten schreibt und die beiden äußeren und die beiden inneren Noten durch Linien verbindet, dann kreuzen sich diese Linien. Bach hat also beides notiert, ein Kreuzzeichen und eine Unterschrift unter sein Werk. Ist der Roman "Muttersohn" Ihr literarisches Kreuzzeichen, oder vielleicht auch ein Schlussstrich?

    Walser: Das muss ich leider Ihnen überlassen. Es ist auf jeden Fall mein Buch, durch das ich aus den sehr irdischen Verstrickungen, in denen ich mich auch als Autor schon bewegt habe, dass ich aus denen herausgefunden habe in eine hellere Welt, und jetzt schauen wir mal, wie lang sie hell bleibt.

    Heinemann: Das Gespräch mit Martin Walser haben wir aufgezeichnet. Heute erscheint sein Roman "Muttersohn".

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.