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"Das ist nicht soziale Marktwirtschaft"

Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Jürgen Rüttgers hat vom Nokia-Konzern weitere Aufklärung über die geplante Schließung des Werkes in Bochum verlangt. Die Argumentation, die Arbeitskosten seien dort zu hoch, sei fachlich nicht haltbar, sagte Rüttgers. Außerdem müsse der Konzern endlich zur Zukunft der Beschäftigten Stellung nehmen.

16.01.2008
    Müller: Nokia, die Werksschließung und die Folgen. Darüber sprechen wollen wir nun mit dem Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen Jürgen Rüttgers (CDU). Guten Tag!

    Rüttgers: Guten Tag Herr Müller.

    Müller: Herr Rüttgers, reden wir jetzt über Heuschrecken?

    Rüttgers: Wir reden darüber, dass eine Firma 88 Millionen Subventionen bekommen hat. Die Bindefrist ist abgelaufen und kurz danach kommt die Mitteilung, wir gehen jetzt nach Rumänien und anderswo hin. Ich finde da muss geklärt werden, ob das eigentlich die moderne Form des Wirtschaftens ist. Heuschrecke, Subventionsheuschrecke heißt ja, man greift Subventionen ab und sobald dann das erledigt ist, man das auch eingestrichen hat, geht man zum nächsten. Und da muss vor allen Dingen auch geklärt werden, Herr Müller, ob es denn für den neuen Standort auch noch weitere europäische Subventionen gibt. Das wäre natürlich noch das allergrößte, wenn wir jetzt dann mit unseren deutschen Steuergeldern auch noch die Verlagerung von Arbeitsplätzen aus dem Ruhrgebiet nach Rumänien finanzieren.

    Müller: Fühlen Sie sich, Herr Rüttgers, von Nokia betrogen?

    Rüttgers: Ich fühle mich zuerst mal auf den Arm genommen. Wenn der Aufsichtsratschef in seinen Erklärungen gestern darlegt, man müsse weggehen, weil hier die Kostenstruktur bei den Arbeitskosten im Ruhrgebiet nicht stimme, und gleichzeitig dann noch erklärt, dass der Anteil der Lohnkosten an den Produktionskosten unter fünf Prozent ist, dann fühle ich mich auf den Arm genommen. Das kann nun wirklich nicht sein! Das ist Unsinn!

    Ich finde gerade der Auftritt, den Nokia gestern da hingelegt hat, nicht begründen könnend, warum man jetzt diesen Beschluss gefasst hat, sondern sich nur auf die Frage der Optimierung der Betriebsergebnisse zurückziehend, der zeigt, dass dieses Unternehmen anscheinend nicht verstanden hat, dass die wichtigste Ressource eines Unternehmens das Wissen und das Können der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist. Mir kann keiner erzählen, dass die Arbeitnehmer in Rumänien genauso fleißig, genauso gut, genauso engagiert sind wie hier die Mitarbeiter bei Nokia in Bochum.

    Müller: Dann würde Nokia nicht die Wahrheit sagen?

    Rüttgers: Ja. Ich kann das ja nur so interpretieren. Bei einem Lohnkostenanteil von unter fünf Prozent zu sagen, die Arbeitskosten seien in Deutschland zu hoch, das ist nun wirklich von der fachlichen Seite, von der ökonomischen Seite, von der betriebswirtschaftlichen Seite nicht haltbar.

    Müller: Wir haben heute auch schon gehört und nachgelesen: am Ende entscheidet das Unternehmen. Nun sind, Herr Rüttgers, die Bindungsfristen ja abgelaufen. Warum soll Nokia nicht das Recht haben, autonom souverän zu entscheiden?

    Rüttgers: Die Frage, wie das rechtlich zu betrachten ist, die prüfen wir zurzeit im Wirtschaftsministerium. Natürlich kann ein Unternehmen eine solche Entscheidung fällen, wenn sie dann rechtens ist. Das Ergebnis werden wir mal abwarten. Aber dann muss man auch die Konsequenzen tragen und die Konsequenzen sind, dass Nokia sich natürlich nicht vom deutschen Markt zurückziehen will. Deutschland ist der größte Handy-Markt, den es in Europa gibt. Die wollen weiter ihre Handys hier verkaufen. Und die deutschen Verbraucher, die haben schon ein feines Gespür dafür, was fair ist. Wenn ein Unternehmen so mit seinen Mitarbeitern umgeht, dann werden die sicherlich sich ihren Teil dazu denken. Ich glaube, wenn da nicht noch klar gesagt wird, was der wirkliche Grund ist und wie man übrigens auch dann gedenkt, mit den Mitarbeitern in Zukunft umzugehen, dass die Leute dann sagen, Nokia hat einen gravierenden Image-Schaden durch die Art, wie man sich verhalten hat, hier erzielt.

    Müller: Rund 90 Millionen sind geflossen. Das sind so die Zahlen, die wir im Moment dort zur Verfügung haben.

    Rüttgers: 88 Millionen.

    Müller: 88 Millionen, um das genauer zu beziffern. Herr Rüttgers, kann die Landesregierung, kann die Bundesregierung - es gab ja einen gemischten Subventions- oder Hilfstopf - Geld zurückfordern?

    Rüttgers: Das ist das, was wir zurzeit prüfen, wir für unseren Teil hier in Nordrhein-Westfalen im Wirtschaftsministerium. Ich gehe davon aus, dass die Bundesregierung das für ihren Teil auch macht.

    Müller: Was kann die Politik noch tun?

    Rüttgers: Das wichtigste ist jetzt zuerst einmal, dass wir sagen, dass wir solidarisch zu den Menschen stehen, die durch diese überraschende Mitteilung am gestrigen Tage natürlich in eine Situation gebracht worden sind, wo sie nicht wissen, wie es weiter geht. Ich werde zusammen mit der Wirtschaftsministerin und dem Arbeitsminister gleich nach Bochum fahren, um mit dem Betriebsrat zu reden. Wir wollen den Kampf noch nicht aufgeben, aber wir werden alles tun, damit die Menschen wissen, dass wir an ihrer Seite stehen und wir ihnen helfen. Das ist glaube ich das, was wir von Solidarität hier verstehen, so wie wir das sehen, dass wir helfen sollen, und wir wollen das auch tun.

    Müller: Nun gibt es ja auch Kritiker, die das gar nicht verstehen können, warum die Aufregung jetzt so groß ist. Deren Argument ist, warum wollen wir nicht verstehen, dass die Realität längst so ist wie sie ist.

    Rüttgers: Die Realität mag ja vielleicht so sein. Ich sehe das persönlich nicht so. Ich glaube, dass das trotzdem kein Grund ist, dass ein Unternehmen wie ich finde die betriebswirtschaftlich wichtigste Ressource, nämlich das Wissen und das Können der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, außer acht lässt.

    Müller: Funktionieren die Kontrollmechanismen beziehungsweise auch die Kommunikationsstränge? Nokia hat ja offenbar diese Entscheidung getroffen, ohne vorher Mitteilung davon zu machen. Niemand war eingebunden. Ist das fair?

    Rüttgers: Ich kann mir das eigentlich gar nicht vorstellen, dass das so gelaufen ist. Es muss ja doch dann entsprechende Entscheidungen gegeben haben. Falls das nicht etwa mit den Arbeitnehmervertretern erörtert worden ist, ist das noch ein besonders schlimmer Vorwurf, den sich Nokia gefallen lassen muss. Das ist nicht soziale Marktwirtschaft, so wie wir das hier in Nordrhein-Westfalen verstehen.

    Müller: Aber im Grunde ist die Politik mit Blick auf Nokia selbst - Sie haben von den Verbrauchern, Sie haben von den Kunden gesprochen - ohnmächtig?

    Rüttgers: Ob wir ohnmächtig sind wird sich herausstellen. Das muss ja eben jetzt erst geprüft werden.

    Müller: Jürgen Rüttgers (CDU), Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen. Vielen Dank für das Gespräch Herr Rüttgers und auf Wiederhören.

    Rüttgers: Bitte schön.