Donnerstag, 28. März 2024

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"Das ist unsozial und unsolidarisch"

Die Präsidentin des Deutschen Pflegerates, Marie-Luise Müller, hat die Lohnforderungen der Mediziner an den kommunalen Krankenhäusern kritisiert. Es werde eine " Erpressung zu Lasten des Pflegepersonals" vorgenommen. Durch die "überzogenen Forderungen" könnten bis zu 50.000 Stellen in der Pflege wegfallen. Wenn es nicht zu einem Ausgleich käme, seien Streiks von Krankenschwestern und -pflegern nicht auszuschließen.

Moderation: Doris Simon | 27.07.2006
    Doris Simon: Marie-Luise Müller ist die Präsidentin des Deutschen Pflegerates. Sie hat 45 Jahre lang als Krankenschwester und Pflegedirektorin gearbeitet und ist jetzt am Telefon. Guten Morgen!

    Marie-Luise Müller: Guten Morgen!

    Simon: Frau Müller, führen Sie eine Neiddebatte?

    Müller: Absolut nicht, sondern es geht uns darum, dass die Diskussion bei den Bürgerinnen und Bürgern anders ankommt. Nämlich nicht mit diesem Machtpoker der Ärzteschaft, sondern dass es darum geht, dass wir grundsätzlich in den Krankenhäusern gemeinsam, nämlich Ärzte und Pflege, für verbesserte Arbeitsbedingungen und sicherlich auch zukünftig für eine Vergütung, die angemessen ist, gegenüber den Leistungen, die beide Berufsgruppen erbringen, kämpfen wollen. Und wenn es so weitergeht garantiere ich Ihnen, dass es nicht mehr lange dauert, dann werden andere Gewerkschaften kommen und mit den Pflegekräften auf die Straße gehen. Denn das ist unsozial und unsolidarisch, was die Ärzteschaft hier treibt.

    Simon: Zu den Forderungen der Ärzte ist ja zu sagen, dass doch auch Sie gesehen haben, dass gerade die unteren Lohngruppen viele Jahre lang zu schlecht bezahlt worden sind. Das bestreiten Sie ja auch nicht.

    Müller: Ich denke, das lag nicht an uns, an den Pflegekräften, sondern das lag daran, dass sicherlich in den vergangenen Jahren der Prozess bei den Tarifverhandlungen möglicherweise, aus der Sicht der Ärzte, nicht so konsequent diskutiert worden ist, wie es hätte sein müssen. Auf der anderen Seite sage ich mal, liegen die Probleme der Ärzte, was die Arbeitsorganisation und die Arbeitszeit angeht, längst in der eigenen Organisation, in der eigenen Hierarchie. Die Ärzte haben über 20, 30 Jahre ihre Hausaufgaben dort nicht gemacht. Und nun, wo überall eingespart werden muss, wo die Knappheit an allen Enden da ist, wird eine überzogene Forderung versucht auszuhandeln. Nein, ich sage, es wird eine Erpressung vorgenommen. Und diese Erpressung geht zu Lasten des Pflegepersonals. Sie werden feststellen, dass wir in den kommenden Jahren bis zu 50.000 Pflegekräfte weniger in den Krankenhäusern haben werden. Unter anderem durch diese überzogenen Forderungen, wenn sie denn umgesetzt werden. Ich kann nur hoffen, dass die Arbeitgeberseite hier nicht nachgibt, denn aus meiner Sicht wird es zukünftig immer zu einer Erpressung kommen, wenn die Ärzteschaft - und zwar die gewerkschaftlich vertretene Ärzteschaft - hier ihre Forderungen zukünftig nicht zu den Bedingungen bekommt, die sie gerne haben möchte.

    Simon: Ist denn das Ende der Solidarität in den Krankenhäusern, wenn die je existierte, die Solidarität zwischen Ärzten und Pflegepersonal, derzeit schon erreicht?

    Müller: Es wird immer deutlicher. Ich habe gestern mehrere E-Mails erhalten. Ich kann Ihnen gerade aktuell eine E-Mail vorlesen, wo Kollegen schreiben: "Ich würde einmal einen Streik der Pflegekräfte anregen. Der Streik der Ärzte ist ja völlig überzogen. Auf die Pflegekräfte werden zunehmend sämtliche Arbeiten delegiert, die eigentliche Pflege geht immer mehr verloren. Man hat kaum mehr Zeit für Patienten, mit Patienten zu sprechen; ständiger Dauerstress." Und so weiter. Ich könnte Ihnen täglich die E-Mails, die zunehmen, nun berichten. Und ich glaube, dass ganz, ganz vorsichtig nun das Fass zum Überlaufen kommt und ich große Sorge habe, dass dann auch tatsächlich die Polarisierung stattfindet. Wir haben nie für eine Polarisierung das Wort geredet. Und ich möchte noch einmal sagen, es gibt keine Medizin ohne Pflege. Und darüber soll sich die Ärzteschaft im Klaren sein: Das bisher gute Arbeitsklima, was durchaus stattgefunden hat, dass das jetzt durch die Ärzteschaft kaputtgemacht wird.

    Simon: Was bedeutet das denn ganz konkret für die übrigen Klinikangestellten in den kommunalen Kliniken, wenn die Ärzte jetzt wirklich 15 Prozent mehr Lohn bekommen?

    Müller: Das heißt, dass dann innerhalb des Krankenhauses das Gesamtbudget - wie Sie wissen, wir haben 80 Prozent Personalkosten, und diese 80 Prozent Personalkosten bedingen hauptsächlich Pflege und Ärzteschaft - das heißt, es werden Köpfe rollen, sage ich ganz einfach. Es werden weniger Pflegekräfte in den Krankenhäusern zur Verfügung stehen, weil das Geld vom Pflegebudget verwendet werden muss, um die höheren Tarifabschlüsse der Ärzte zu finanzieren. Grundsätzlich heißt es, die Ärzte nehmen sich viel, viel mehr aus dem Gesamtbudget und das Restbudget bleibt dann für alle übrigen Beschäftigten des Krankenhauses. Und das kann doch wohl nicht zu einer Verbesserung des Klimas führen.

    Simon: Frau Müller, Sie sprachen eingangs davon, dass es schon erstes Gerede gibt, von Streiks unter den Pflegern. Wie ernst ist das denn gemeint?

    Müller: Ich glaube, das ist sehr ernst gemeint.

    Simon: Unterstützen Sie das als Präsidentin des Pflegerates?

    Müller: Wir werden positiv dazu stehen, wenn es nicht zu Ausgleichsmechanismen kommt. Das heißt, wenn die Politik weiter zuschaut, wie hier ein einseitiger Machtkampf um knappe vorhandene Budgets, die gedeckelt sind - wenn dieses von der Politik so mitgetragen wird und keine Ausgleichsmechanismen stattfinden. Das heißt, wenn nicht mehr Geld ins System kommt, damit hier vernünftig die Verteilung stattfinden kann, nämlich so, wie auch letztlich die Aufgabenstellung im Krankenhaus ist, dann glaube ich, werden wir uns der Sache nicht mehr verschließen.

    Simon: Das war Marie-Luise Müller. Sie ist die Präsidentin des Deutschen Pflegerates. Frau Müller, vielen Dank für das Gespräch.

    Müller: Bitteschön. Auf Wiederhören.