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Das Jamaika-Aus
"Normalität, die westeuropäischer Durchschnitt ist"

Minderheitsregierungen seien in anderen Ländern gang und gäbe, sagte der Historiker Martin Sabrow im Dlf. Stabile Koalitionen hätten hierzulande aber Tradition und daher komme vielleicht der "Wunsch nach Neuwahlen auf". Dahinter stehe die Hoffnung, "der Wähler würde sein Votum dann korrigieren".

Martin Sabrow im Gespräch mit Maja Ellmenreich | 21.11.2017
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    Die politischen Entwicklungen in Deutschland seien zwar vielleicht nicht gewollt, aber im europäischen Vergleich durchaus normal, sagte der Historiker Martin Sabrow im Dlf (Deutschlandradio)
    Maja Ellmenreich: Einmalig, historisch, noch nie zuvor dagewesen - es scheint mal wieder die Stunde der Superlativ-Liebhaber gekommen zu sein. Einmalig, historisch, noch nie zuvor dagewesen sei nämlich die gegenwärtige bundespolitische Situation, sagen und schreiben viele Kommentatoren: nach dem Ende der Jamaika-Verhandlungen am Sonntag, nach den mahnenden Worten des Bundespräsidenten gestern, im Sinne einer Regierungsbildung gesprächsbereit zu bleiben, und nach dem Appell von Bundestagspräsident Schäuble heute Vormittag: Einigung durch Nachgeben erfordere Mut.
    "Eine Normalität, die westeuropäischer Durchschnitt ist"
    Wie historisch sind die Ereignisse nun wirklich? Der Historiker Martin Sabrow ist Professor für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte an der Humboldt-Universität in Berlin und Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam. Herr Sabrow, wie großzügig sind Sie in der gegenwärtigen Situation mit dem Begriff "historisch"? Lassen Sie das Adjektiv gelten in diesen Tagen?
    Martin Sabrow: Na ja. Wir sind jetzt im Moment ja alle auf Orientierungssuche, und da sprechen dann auch Historiker mit, wiewohl es nicht ausgemacht ist, dass der Blick in die Vergangenheit tatsächlich den besten Weg in die Zukunft weist. Der Begriff historisch meint: einmal, einmalig in der strengen Auslegung des Wortes. Er meint bedeutsam und ungewohnt auf der anderen Seite. Und natürlich hängt es jetzt ein bisschen von dem Maßstab ab, den wir anlegen.
    Wir können als Historiker Entwicklungen immer diachron und synchron betrachten. Synchron heißt, wir gucken in der gegebenen Zeit unserer Gegenwart darauf, wie es in anderen Ländern bestellt ist. Und dann sieht es doch eher so aus, als ob wir in eine gewisse europäische Normalität zurückkehren, auch ein bisschen zur Schadenfreude anderer europäischer Nachbarn. Und wir stellen fest, dass Minderheitsregierungen anderswo durchaus gang und gäbe sind, von Holland bis Dänemark, und ein Prinzip des Handelns darstellen können, das gar nicht so ungewohnt ist. Und wenn wir weiterhin schauen, so sehen wir doch viele Entwicklungen, die in anderen Ländern auch stattfinden, hier in Deutschland jetzt auch gegeben: Das eine ist die Erosion der Sozialdemokratie. Wir haben zum anderen die Entwicklung des Liberalismus hin vom Linksliberalismus zum Rechtsliberalismus. Das wird in Österreich vorgemacht, auch in Holland sehen wir das. Eine Entwicklung, die Deutschland tatsächlich in eine Normalität zurückführt, in die wir vielleicht gar nicht hinein wollen, die aber tatsächlich westeuropäischer Durchschnitt ist.
    "Die Frage ist, warum nicht jeder mit jedem koalieren kann"
    Ellmenreich: Westeuropäischer Durchschnitt, sagen Sie gerade. Die anderen aus unseren Nachbarländern, die zum Teil ja auch mit langen Sondierungsgesprächen durchaus Erfahrung haben, wenn wir Richtung Westen mal schauen. Dann verstehe ich Sie richtig, dass es zwar historisch im Sinne einer Einmaligkeit und zum ersten Mal bei uns jetzt gerade so verstanden werden kann, dass aber auf der anderen Seite überhaupt kein Grund Ihrer Meinung nach zur Panikmache vor einer politischen, womöglich auch international politischen Instabilität gegeben ist.
    Sabrow: Nicht alle Katzen sind gleichermaßen grau. Wir haben neben dieser räumlichen Achse ja auch eine zeitliche Achse, und dann zeigen sich politische Traditionen in den verschiedenen Ländern Europas sehr unterschiedlich, und da trifft der Begriff des Historischen vielleicht eher zu. Wir haben in der Geschichte der Bundesrepublik noch keine Situation gehabt, in der eine Bundesregierung als Minderheitsregierung angetreten ist. Wir haben wohl Phänomene von Minderheitsregierungen im Moment der Auflösung, wie wir das 1966 etwa erlebten mit dem Rücktritt der FDP-Minister im Kabinett Erhard und wieder mit dem Rücktritt wiederum der FDP-Minister 1982 im September in der Regierung Schmidt. Und auch Brandt hat einmal, nämlich 1972 im Mai, die Mehrheit verloren, eine Vertrauensfrage auch noch verloren und dadurch damit dann Neuwahlen ausgeschrieben. Aber immer waren das ganz temporäre Ereignisse, die dann zu neuen stabilen Koalitionen führten, und aus dieser Denkhaltung heraus kommt vielleicht auch der Wunsch nach Neuwahlen auf in der Meinung, der Wähler als Gesamtwähler würde sein Votum dann korrigieren.
    Das ist aber eigentlich nur in Situationen, wo große Gesellschaftsentwürfe gegeneinanderstehen, gegeben, während sich unsere Zeit ja dadurch auszeichnet oder geprägt ist, dass gerade keine Gesellschaftsvisionen gegeneinanderstehen, sondern eher die Frage ist, warum nicht jeder mit jedem koalieren kann, und dann die Sozialdemokratie als Figur in der Mitte dieses politischen Spiels sich aus Gründen aus der Regierung zurückhält, die überwiegend außerhalb jedenfalls des sozialdemokratischen Wählermilieus als nicht zureichend anerkannt werden, denn die Abwahl der Großen Koalition betraf ja nicht nur die SPD, sondern prozentual noch viel stärker die CDU und ohne beide Parteien wären gar keine Regierungsbildungen möglich. Insoweit ist das ein etwas vordergründiges Argument.
    "Vergleiche mit Weimar sind relativ weit hergeholt"
    Ellmenreich: Daran kann man aber auch feststellen, dass sich durchaus die Zeiten geändert haben. – Nun haben Sie gerade verschiedene Epochen beziehungsweise Ereignisse der vergangenen Jahrzehnte erwähnt. Wenn wir noch mal ein paar Jahrzehnte weiter zurückschlagen und darauf achten, dass im Moment häufig die Parallele zur Weimarer Republik und den Instabilitäten damals gezogen wird: Inwiefern lassen Sie diese Parallelen gelten?
    Sabrow: Die Weimarer Situation ist in vieler Hinsicht eine grundsätzlich andere. Insoweit sind Vergleiche mit Weimar relativ weit hergeholt und greifen nicht. Wir haben keine Fünf-Prozent-Klausel damals gehabt und wir haben deutliche Unterschiede, was die Koalitionsfähigkeit der einzelnen politischen Lager angeht. Jetzt erleben wir geradezu einen Schulterschluss von den Grünen bis hin zur CSU. Das ist in der Weimarer Republik eigentlich ganz unvorstellbar. Aber wir haben natürlich auch schon manche Ähnlichkeiten, so zum Beispiel die Entwicklung der Deutschen Demokratischen Partei, die Vorläuferpartei der FDP, wenn man so will. Sie verliert kontinuierlich an Einfluss während der Weimarer Republik und sie rutscht nach rechts, wird zur deutschen Staatspartei, fusioniert mit dem Jungdeutschen Orden, einer rechtsradikalen Organisation, die sich etwas verbürgerlicht hat, und hier sehen wir möglicherweise ähnliche Parallelen, aber doch in einem Randbereich, der es nicht erlaubt, jetzt Weimar und Berlin zu parallelisieren.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.