Dienstag, 23. April 2024

Archiv


Das jüngste Kapitel des Castroismus

Der Historiker Michael Zeuske schildert in seinem Buch "Kuba im 21. Jahrhundert" die gesellschaftspolitischen Prozesse unter dem Regime von Raúl Castro. Dabei legt Zeuske die Finger in die Wunden der Revolution und zeigt, dass sie angesichts der unterentwickelten Reformen keine Zukunft hat.

Von Peter B. Schumann | 30.07.2012
    Vor gut einem Jahrzehnt hat der Kölner Historiker Michael Zeuske bereits "Die Insel der Extreme" veröffentlicht, eine Darstellung, in der er die Kubanische Revolution vor dem Hintergrund der Geschichte des 20. Jahrhunderts beschrieben hat: also den von Fidel Castro geprägten Teil und damit die Errungenschaften dieses ersten Sozialstaats in Amerika und das, was davon übrig geblieben ist. In seiner neuen Publikation geht es ihm um ein anderes Kapitel des Castroismus: das Kuba unter dem Regime von Raúl Castro.

    "Jetzt ist für meine Begriffe eine Reformphase eingetreten, die es notwendig macht, Kuba sozusagen aus der heutigen Gegenwart, aus dieser Reformgegenwart neu zu betrachten. Das heißt, die Regierung versucht die Kontrolle zu bewahren, aber unten auf der Straße verändert sich doch ganz schön viel. In den Straßen finden sie jetzt Garküchen, Restaurants, Cafés, Geschäfte aller Art. Die Leute fangen sozusagen aus dem Nichts an und versuchen eine neue Wirtschaftskultur von unten her zu schaffen."

    Nach gut 50 Jahren Revolution beginnt das, was in jedem anderen Land Lateinamerikas zur Normalität des Alltags gehört: die Privatinitiative, die freie Ausübung eines Berufs, eines Handels, eines Geschäfts. Doch Michael Zeuske ist nicht so naiv, die neue Farbigkeit in gewissen Straßen von Havanna kritiklos zu begrüßen, denn sie hat einen Preis: hohe Steuern, die nur wenig Gewinn ermöglichen. Das ist die Kehrseite der Reformwilligkeit der Regierung. Dennoch empfinden es viele Kubaner als einen Fortschritt, dass sie endlich das tun können, was sie möchten – und was sie über Wasser hält.

    Reformen dieser Art hat es auch in anderen Zeiten der Not gegeben, beispielsweise Anfang der 90er-Jahre, als die sowjetische Versorgungspipeline abgeschaltet wurde und das System zu implodieren drohte. Damals konnten die Kubaner endlich "auf eigene Rechnung" arbeiten und haben beispielsweise die berühmten "paladares" eingerichtet: kleine Restaurants in Vorgärten oder in Wohnungen. Doch was in der heutigen Krisenlage propagiert wird, wurde damals bald wieder abgeschafft, weil einzelne Kubaner sich "bereichert" hätten. Inzwischen ist die Situation umgekehrt – meint Michael Zeuske.

    "Das Problem der Gleichheit ist faktologisch ausgehöhlt, allerdings nicht so sehr sichtbar wie in anderen Gesellschaften. Also die Leute, die Geld haben, 15, 20 Prozent, die sind zwar in den Läden zu finden, aber das ist auf der Straße nicht so klar sichtbar, wenn man nicht direkt durch die Villenviertel geht. Ebenso verdeckt, wie ich das für die Reichen geschildert habe, gibt es verdeckt Hunger. Es gibt 30 bis 35 Prozent der Leute, die wirklich Hunger haben, die haben eine Mahlzeit am Tag."

    Damit die Menschen sich überhaupt versorgen können, duldet der Staat bis zu einem gewissen Grad den Schwarzmarkt. Die Bauern, deren freie Märkte vor zehn Jahren wegen angeblicher Bereicherung geschlossen wurden, bilden endlich eine der Stützen der Nahrungsmittel-Produktion. Kubanische Soziologen feiern sie heute als "Gewinner der Krise". Michael Zeuske verweist darauf, dass die Revolution nicht nur sie, sondern die gesamte "Markt- und Dienstleistungsgesellschaft beseitigt hat, ohne die keine Gesellschaft existieren kann". Andere, einst vorbildliche Errungenschaften sind längst verkommen.

    "Trotz der Aushöhlung des Sozialstaats, also Gesundheitswesen: die Krankenhäuser, die ich gesehen habe, sind meist schlecht, und es fehlen viele Ärzte, und im Bildungswesen gibt es auch eine Reihe von Problemen, ist das für die Masse der Bevölkerung immer noch das Beste Angebot. Also ich wünsche mir kein Kuba, das weiter in Richtung Haiti geht."

    Die Insel muss ja nicht gleich zum Armenhaus der Karibik werden, aber der Niedergang der Revolution ist evident und in diesem Buch nachzulesen. Es ist doch schwer zu begreifen, warum diese fruchtbare Insel heute "fast alle Devisen für Lebensmittelkäufe" ausgeben muss – sie werden sogar größtenteils in den USA, dem Land des Erzfeindes, getätigt. Und warum "rund die Hälfte des Bodens ungenutzt ist und immer stärker von Unkraut überwuchert wird" - wie Zeuske schreibt. Das soll ja nun alles geändert werden. Selbst Raúl Castro musste 2011 auf dem VI. Parteitag der Kommunistischen Partei bekennen, dass "Kuba am Abgrund steht" und also 'ein Ruck' durchs Land gehen müsste. Aber erst einmal wurden die reformwilligen jüngeren Kräfte um Wirtschaftsminister Lage abserviert und die Uraltgarde remobilisiert, sodass heute eine Gerontokratie an der Spitze von Partei und Staat herrscht.

    "Jeder wundert sich, warum die alten Herrschaften da immer noch drankommen. Aber das ist sozusagen die oberste Absicherung der Reformen und muss wahrscheinlich in dieser legitimierten Machtgruppe stattfinden. Und wenn die Reformen kontrolliert und erfolgreich verlaufen, sagen wir mal noch vier oder fünf Jahre unter einigermaßen günstigen Bedingungen, dann sehe ich auch den politischen Ausgleich, wenn das in den USA gewünscht wird."

    Den "politischen Ausgleich", also politische Veränderungen, eine Demokratisierung – das wünschen die USA schon lange. Vor allem fordert ihn die innere Opposition. Sie hat in den beiden Jahrzehnten der Krise erheblichen Zulauf erhalten und ist heute stärker und aktiver als je zuvor. Sie stellt allerdings noch keine wirkliche Bedrohung für das Regime dar.
    Über diesen für die Einschätzung der weiteren Entwicklung unerlässlichen Bereich finden sich bei Michael Zeuske nur ein paar dürre Anmerkungen, doch immerhin auch der Verweis, dass die Revolution von ihrem totalitären Anspruch her von Anfang an auf die Ausschaltung oppositioneller Kräfte ausgerichtet war.

    Die kubanische Opposition ist offensichtlich kein Forschungsgegenstand des Historikers, obwohl er sich sonst sehr ausführlich mit Formen der Unterdrückung in der Karibik beschäftigt, allerdings in der Sklavenhalter-Gesellschaft früherer Jahrhunderte. Sie finden auf andere Weise ihren Niederschlag in diesem Buch: in dem Kapitel über die Alltagskultur, über die bis in die Sklavenzeit zurückreichende Ess- und Kochkultur. Von solcher Tradition werden die Kubaner, die demnächst auf die "libreta", die Lebensmittelkarte, verzichten sollen, sich nichts kaufen können.
    Michael Zeuske mäandert ein bisschen zwischen seiner früh entwickelten Begeisterung für die Kubanische Revolution und der kritischen Aufarbeitung ihres Niedergangs. Dennoch ist sein Buch ein großer Gewinn, denn es gelingt ihm durch seine ausgezeichnete Detailkenntnis, viele Aspekte zusammen zu denken, die sonst nur isoliert betrachtet werden. Hier ringt einer um Verständnis für das Kuba der Castro-Brüder und macht zugleich klar, dass ihre Revolution angesichts der unterentwickelten Reformen keine Zukunft hat.

    Michael Zeuske: Kuba im 21. Jahrhundert.
    Revolution und Reform auf der Insel der Extreme.

    Rotbuch Verlag, 224 Seiten, 14,95 Euro
    ISBN: 978-3-867-89151-6