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"Das kalte Jahr"
Gottverlassene Kälte

Roman Ehrlich schafft in seinem Roman "Das kalte Jahr" ein Dorf, in dem es ununterbrochen schneit und bitterkalt ist. Er habe einen Ort kreieren wollen, wo Hitze, Bewegung und Wärme hervortreten, sagte er im DLF-Interview.

Roman Ehrlich im Gespräch mit Lerke von Saalfeld | 21.02.2014
    Lerke von Saalfeld: Roman Ehrlich, Sie haben Ihren Debütroman vorgelegt, "Das kalte Jahr". Es ist ein Dorf, das irgendwie die Zeit verloren hat; es ist ein Ort, der in einem Niemandsland liegt und es schneit ununterbrochen und ist bitterkalt. Warum diese Kälte? Das ist ja auch der Titel Ihres Buches. Was drückt für Sie diese gottverlassene Kälte aus?
    Roman Ehrlich: Die Kälte ist einerseits ein Symbol für Bewegungslosigkeit und für Starre und andererseits war sie für mich beim Schreiben dieses Buches eine Art Chance, einen Ort zu kreieren, in dem einerseits alles, was Hitze, Bewegung oder Wärme ist, hervortritt und andererseits einen Ort zu kreieren, in dem alles so konzentriert ist, dadurch dass die Menschen beschränkt sind auf ihren Wohnraum und auch beschränkt in ihren Möglichkeiten, sich zu bewegen, dass eine Konzentration auf diesen kleinsten sozialen Raum möglich ist.
    Von Saalfeld: Nun geht dieser Ich-Erzähler, von dem wir nicht erfahren, wie er heißt, noch von woher er kommt, er wandert nach Norden, an einen Ort an der Küste, ich nehme an an der Ostsee, aber es bleibt alles namenlos. Dieser Ich-Erzähler wandert in das Haus seiner Eltern und findet dort einen kleinen Jungen, der etwa zehn Jahre alt ist, namens Richard, der hat einen Namen; aber die Eltern sind verschwunden. Es entsteht eine Situation, dass dieser Ich-Erzähler niemals nach seinen Eltern fragt. Das ist ja ein mythologisches Motiv oder auch ein Märchenmotiv - nicht zu fragen‚wo sind meine Eltern? Das bleibt ein Tabuthema zwischen den beiden, obwohl es ihm eigentlich auf den Fingern brennen müsste.
    Ehrlich: Ja.
    Von Saalfeld: Gehört das auch zu dieser Einsamkeits- und Kältemetapher?
    Ehrlich: Ja, das macht vor allem die Beziehung aus, die die beiden untereinander etablieren. Für Richard ist es wie selbstverständlich, dass er dort ist und für den Erzähler, er bricht ja auf in seinen Heimatort, um seine Eltern wiederzusehen. Er geht dorthin, um aus der Stadt zu entkommen, in der er wohnt, und sich dort, in den Verhältnissen, die ihm bekannt sind, einzurichten und eine Weile nachzudenken über den weiteren Verlauf. Er findet dort alles nicht so vor, wie er sich das vorgestellt hat, und muss darauf reagieren. Er erkennt aber auch ziemlich schnell, dass darin für ihn auch eine Chance liegt. Dadurch, dass dieser Junge da ist und nicht die Eltern, bekommt er sofort den Eindruck, er muss selbst eine aktive Rolle einnehmen. Und vielleicht ohne dass er sich das bewusst macht, fürchtet er sich davor, dass die falschen Fragen oder der falsche Umgang mit Richard dafür sorgen, dieses kleine sehr fragile Verhältnis zu Richard zerstört wird, an dem ihm im Laufe der Zeit schon etwas liegt.
    Therapeutische Funktionen
    Von Saalfeld: Es bleibt ein sehr fragiles Verhältnis, Sie haben es gesagt, ein sehr zartes Verhältnis, wo man nicht richtig weiß, ob Richard überhaupt zu Gefühlen fähig ist. Man könnte denken, er sei ein Ausreißerkind. Sie erklären nichts. Er kommt aus dem Nichts und lebt im Nichts, richtet sich ein im Kinderzimmer unseres Ich-Erzählers, schlüpft eigentlich in seine frühere Rolle hinein oder halten Sie das für eine Überinterpretation?
    Ehrlich: Er richtet sich in dem Zimmer ein und der Erzähler sagt ja auch an einem Punkt, das Zimmer passt jetzt vielmehr zu Richard, weil er nun das Haus bewohnt und für ihn ist das Anlass zu glauben, wo er normalerweise als Kind hinkommt, jetzt eine andere Rolle einnehmen muss. In dem Fall ist es eine aktive Rolle, dem Richard, das was der Erzähler selbst von der Welt meint zu wissen, weiterzugeben und eine Ordnung zu schaffen, das hat für den Erzähler eine therapeutische Funktion, weil er dadurch einen Fokuspunkt gefunden hat, an dem er seine Wahrnehmung kanalisieren kann und durch das Erzählen scheinbar Ordnung schaffen kann.
    Von Saalfeld: Ich finde faszinierend an Ihrer Art zu schreiben, Sie sind einerseits sehr genau und dann wieder, wenn man genau hinschaut, merkt man, du erfährst aber ganz wenig, du weiß weder, wie der Ich-Erzähler heißt, du weißt nicht, wie alt er ist, du weißt nicht, was er vorher gemacht hat. Dasselbe trifft auf Richard zu, wie alt er genau ist, weiß man auch nicht. Sie spielen immer mit dieser Dissonanz zwischen äußerster Klarheit und großem Geheimnis, das sich um alle Personen herumlegt.
    Ehrlich: Ich denke, es ist ganz wichtig, nicht zu viel zu wissen von den Menschen, auch von der Situation, in der das spielt. Ich bin immer sehr enttäuscht, wenn ich Sachen lese, von denen ich das Gefühl habe, sie sind wie eine Gleichung, die sich nach einem bestimmten X auflösen lässt, es sei denn, dass diese Variable, das X, der Leser ist und dafür muss genug Raum bleiben, dass jeder, der es liest, die Möglichkeit hat, es für sich auszudeuten.
    Von Saalfeld: Sie haben ja noch eine andere Ebene eingeführt und zwar sind es Geschichten, die der Ich-Erzähler dem Richard abends erzählt. Sie nennen das "Geschichten aus der Welt", teilweise sind sie auch mit Fotos dokumentiert. Diese Geschichten, die Sie dort einmontieren, gibt es da für Sie einen gemeinsamen Nenner?
    Ehrlich: Ja, diese Geschichten bilden auch den Anfang der Arbeit an diesem Buch. Damals war mir schon klar, dass ich diese historischen Geschichten brauche, um dieses Buch zu erzählen, dass mir die Welt behilflich sein muss, das Buch zu erzählen. Für mich geht es in all diesen Geschichten um Menschen, die aufbrechen, oder die versuchen etwas in Bewegung zu setzen und die aus irgendeinem Grund mit ihrer Wirklichkeit unzufrieden sind und etwas zu verändern versuchen und denen sich dann die Welt in den Weg stellt.
    "Und es geht viel um Zerstörung"
    Von Saalfeld: Es endet ja viel in Zerstörung.
    Ehrlich: Genau, sie müssen entweder einen Weg finden, um diese Barrikaden herumzukommen, oder sie laufen eben dagegen. Und es geht viel um Zerstörung, aber auch um Wiederaufbau.
    Von Saalfeld: Ja, es geht viel um Auswandern, Neuanfangen, unter Umständen Scheitern oder Nichtscheitern. Zum Beispiel die Geschichte des Architekten Sullivan oder Frank Lloyd Wright, diese grässliche Geschichte seines Hauses, dass er dreimal sein abgebranntes Haus wieder aufbaut. Das ist so merkwürdig, weil ich sagte vorhin "Geschichten aus der Welt" - und ihre fortlaufende Geschichte, die Hauptgeschichte spielt in einem Nest, das kein Mensch auf der Welt zu kennen scheint, wo man sich manchmal sogar fragt, existiert das überhaupt. Die Welt, die Sie dann in den Geschichten beschreiben, das ist eine viel prächtigere, auch teilweise exotische Welt, die Großstadt wie Chicago oder Detroit. Da entwickeln Sie eine Spannung, die unglaublich reizvoll ist, um dieses Geschehen in dem Dorf, mit dem Schnee, noch krasser werden zu lassen. Ich habe den Eindruck gehabt, dass Sie dies bewusst gegeneinander gesetzt haben und dass nicht das eine die Fabulierlust ist und das andere der Kult der Kälte.
    Ehrlich: Das sehe ich auch so. Es ist ja auch so, dass aus diesem Ort heraus der Wunsch greift nach Welt und dass es für mich auch wichtig war, einen Ort zu finden, an dem so viel Konzentration möglich ist und so wenig Bewegung und so wenig tatsächliche Reize vorherrschen, dass dem die Geschichten aus der Welt wie ein Kontrast gegenüberstehen können.
    Von Saalfeld: Ich wollte zum Schluss des Gesprächs auf das Ende kommen. Ich habe mich gefragt, warum lassen Sie Ihre Geschichte nicht mit dem Hausbrand von Helbig enden, sondern Sie kleben noch ein Kapitel hinten dran. Der Erzähler kommt zurück in die Stadt, aus der er wahrscheinlich aufgebrochen ist, lebt da fort, man weiß nicht warum. Sie hätten ja auch mit einem größeren Aplomb aufhören können mit dem Haus von Helbig, auf den der Ich-Erzähler seine Hoffnung gesetzt hat, mit ihm zusammenarbeiten zu können, und alles brennt nieder und alle stehen da, hilflos.
    Ehrlich: Ja das stimmt, das wäre auch eine Möglichkeit gewesen, da das Buch enden zu lassen. Da ist es in meiner Wahrnehmung konsequent gewesen, die letzte Klammer zu schließen, mit der auch das Buch beginnt. Es fängt ja an in diesem Büro und es umschließt dann in dem Fall - wenn man dieses letzte Kapitel noch hat - das ganze Buch wie eine Klammer. Und es macht dann auch alles, was zwischen diesen beiden kurzen Eingangs- und Endkapiteln steht, zu einer Erzählung.
    Unzuverlässige Wahrnehmung
    Von Saalfeld: Bei mir ging die Fantasie so weit, dass ich dachte, vielleicht ist das Ganze nur eine Fantasie des Ich-Erzählers, er ist immer noch an dem Ausgangspunkt, von dem er am Anfang aufbricht.
    Ehrlich: Es ist definitiv so, dass am Ende noch mal klar wird, dass die Wahrnehmung dessen, der da erzählt, ihm selbst auch unzuverlässig geworden ist. Also dass er auch am Ende aus diesem Büro geht und dann im Foyer dieses Bürogebäudes steht und nach draußen guckt, denkt er ja, das sieht so aus, als wäre es komplett eingeschneit, aber wahrscheinlich ist es nur das Licht und seine Augen haben sich noch nicht an die Helligkeit gewöhnt. Für mich sind diese beiden Klammern ein Indikator dafür, dass das Dazwischen auch eine Geschichte ist, die einem erzählt wird. Für mich war es auch wichtig auf die Art, wie es in dem Buch passiert, mit der Zeit umzugehen. Dadurch, dass er das erzählt und das es eine andere Ebene gibt als nur die Zeit, in der es spielt, war es für mich einfacher, diese Sprünge zu machen zwischen Gegenwarts- und Vergangenheitsform, in der das ganze Buch erzählt ist.
    Von Saalfeld: Würden Sie mir zustimmen, wenn ich sage, Ihr Roman oszilliert zwischen Realismus und Surrealismus, nicht im Sinne von Metaphysik oder Science Fiction, sondern wo die Wirklichkeit verrückt wird.
    Ehrlich: Ja, da würde ich Ihnen gerne zustimmen. Mir war beim Schreiben sehr wichtig, eine Position einzunehmen, die ein Stück außerhalb der Wirklichkeit sich befindet. Also dass man von einer leicht verrückten Warte aus auf die Wirklichkeit schaut und dadurch auch ihre Grenzen irgendwie erkennbar werden.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    Roman Ehrlich: "Das kalte Jahr". Dumont Verlag, 248 Seiten. 19,99 Euro.