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Das Kammermusikfestival in Lockenhaus
Klassiker und Raritäten

2012 übernahm Nicolas Altstaedt die Leitung des Kammermusikfestivals in Lockenhaus von Gidon Kremer. Seither hat der deutsch-französische Cellist eine eigene Handschrift ausgeprägt und zugleich die Tradition von Lockenhaus fortgeführt. Das diesjährige Festival – das fünfte in der Ära Altstaedt – steht unter dem Motto "Terra Nova".

Von Marcus Stäbler | 12.07.2016
    Der Cellist Nicolas Altstaedt blickt auf ein Cello vor ihm
    Cellist, Dirigent und Intendant: Nicolas Altstaedt (Marco Borggreve)
    Die Bratsche singt eine warme Melodie – grundiert von pastellfarbenen Harmonien des Klaviers. Ein betörender Beginn. Das späte c-Moll-Klavierquintett von Gabriel Fauré zieht den Hörer vom ersten Takt an in seinen Bann und lässt ihn bis zum Schluss nicht mehr los. Kaum zu glauben, dass das Stück im normalen Konzertbetrieb keine Rolle spielt. Eine echte Entdeckung, auch für die Musiker wie die Geigerin Vilde Frang.
    "Ich bin sehr glücklich, dass es mir hier vorgestellt wurde. Es hat etwas sehr Zeitloses an sich. Eine große Transparenz und Innigkeit. Es ist schwer zu beschreiben. Es hat eine abstrakte Leidenschaft."
    Musik: Fauré, Klavierquintett
    Mit der packenden Aufführung von Werken wie dem Fauré-Klavierquintett oder einem Nonett von Olli Mustonen bekannte sich das Eröffnungskonzert am vergangenen Donnerstag zur Lockenhauser Tradition: Wie sein Vorgänger Gidon Kremer nutzt auch Intendant Nicolas Altstaedt das Festival im Burgenland oft und gern, um gemeinsam mit befreundeten Kollegen unbekanntes Repertoire zu erkunden.
    "Ich sehe das Festival als Versuch, dass man hier hinkommt, um Dinge zu hören, die man woanders nicht hört. Und ich programmier auch nicht immer nur Werke, von denen ich sage, das sind die großen Meisterwerke, davon bin ich hundertprozentig überzeugt. Wenn ich merke, das passt ganz gut rein, das öffnet die Ohren, dann ist das auch wunderbar, wenn die Leute nachher rausgehen und sagen: Das hat mir überhaupt nicht gefallen, oder man streitet drüber. Es ist ein Programm, was Fragen aufwirft, wo sich Leute dran reiben oder drüber nachdenken."
    Die Diskussionen des meinungsfreudigen Publikums in Lockenhaus sind willkommen und einkalkuliert - so wie bei der Aufführung des umstrittenen Stücks "drei goldene Tiger" von Klaus Lang aus dem Jahr 2007, das sich beharrlich jeder Dramatik verweigert und mit seinen statischen Klängen viel Reibungsfläche bietet.
    Musik: Lang, drei goldene Tiger
    Der Blick aufs klangliche Neuland von lebenden und selten gespielten Komponisten bildet eine wichtige Facette des diesjährigen Festivalmottos "Terra nova" – eine andere ist der generelle Zugang zur Musik. Nicolas Altstaedt möchte mit seinen Kollegen grundsätzlich allen Werken so begegnen, als wären sie gerade frisch gedruckt.
    "Wenn die nächste Aufführung für mich nicht etwas ganz Neues und keine Uraufführung ist, würde ich kein Musiker sein. Deshalb finde ich "Terra nova" für uns Musiker wichtig als Bewusstsein, dass wir, wenn wir Musik machen, ganz rein und unschuldig sind, egal, ob wir etwas zum ersten oder zum hundertsten Mal spielen."
    Musik: Bach, Goldberg-Variationen
    Diese Haltung offenbarte sich exemplarisch in der Aufführung von Bachs Goldberg-Variationen in einer Fassung für Streichtrio. Mit dem Geiger Pekka Kuusisto und der Bratscherin Lily Francis – zwei der prägenden Persönlichkeiten der ersten Festivalhälfte - formte Altstaedt dort eine ebenso stilsichere wie eindringliche Interpretation. Die Musiker lauschten den Charakteren der Musik nach und entfernten sich mit der radikalen Schlichtheit des Beginns vom gängigen Schönheitsideal.
    "Man kann auch der Musik dienen, indem man sich traut, Dinge, die man spürt und sieht, zu durchleben. Dazu gehört auch, ein Volkslied so zu spielen, wie es gesungen wird, und das nicht zu verschönern und zu verfälschen."
    In Momenten wie diesen ist die Nähe spürbar, die durch Kammermusik entstehen kann – gerade in einer familiären Umgebung wie im burgenländischen Dorf Lockenhaus, weit weg vom Tempo und Lärm der Großstadt.
    Dass die Kammermusik eine starke menschliche Dimension hat, war in diesem Jahr auch abseits des Hauptprogramms zu spüren. Nicolas Altstaedt widmete das Festival laut Website ausdrücklich "allen Menschen, die furchtlos neue Wege beschreiten", und spielte am gestrigen Montag in einem SOS-Kinderdorf in der Nähe von Lockenhaus, in dem minderjährige Flüchtlinge aus Afghanistan leben. Auch das ist ein Aspekt des Themas "Terra Nova", der dem Intendanten sehr am Herzen liegt.
    "Ich sehe das als eine Möglichkeit zu sagen: Fantastisch, toll, das sind so viele neue Leute da. Ich bin neugierig, die kennen zu lernen und ich hoffe, die sind neugierig uns kennen zu lernen, weil sie kommen ja hier hin. Und ich finde es wichtig, dass man sich austauscht und dass man Hallo sagt. Weil ich das wichtig finde, ein Zeichen zu setzen für die Leute, dass sie willkommen sind."