Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Das Leben ein Konjunktiv

Die Figuren der Schriftstellerin Yvette Z'Graggen sind vom Leben Verwundete. Sie alle tragen ihre Blessuren offen zur Schau. Und nicht selten müssen sie erst in die eigene Vergangenheit reisen, um sich endlich auszukurieren. Denn dort treffen sie auf Orte und Menschen, die ihnen erklären, wer sie eigentlich sind, und warum es ihnen nicht gut geht damit.

Von Shirin Sojitrawalla | 15.10.2004
    In ihrer im französischen Original schon 1971 erschienenen Erzählung Die Hügel schickt Yvette Z'Graggen ein gemeinsam grau und sich gram gewordenes Ehepaar in die Ferien nach Italien, in die Nähe von San Remo. Für die Ich-Erzählerin Marianne ist diese Reise eine in die eigene Erinnerung, hin zu ihrer ersten großen Liebe, zu dem Italiener Mauro, den sie dort vor Jahren kennen lernte und mit dem Beginn des II. Weltkriegs wieder aus den Augen verlor.

    Ihre Ehe mit Christophe befindet sich längst im Stadium der Auflösung, was sich nicht bloß an der Tatsache ablesen lässt, dass er eine Geliebte hat. Vielmehr spricht das Ehepaar gar nicht mehr miteinander, betreibt höchstens noch Konversation. Und, was womöglich schlimmer ist, sie sagen nicht mehr das, was gesagt werden müsste, sondern hüllen sich gemütlich in einen Mantel aus Schweigen. Auch die Autorin verschweigt in ihrem Buch vieles und sagt dennoch viel. Ihren beiden Protagonisten scheint die Liebe abhanden gekommen wie anderen ein Mantelknopf, den man ja auch immer erst vermisst, wenn er sich nicht mehr an dem ihm zugewiesenen Ort befindet.

    Doch das Buch widmet sich dem Zerfall dieser gewöhnlichen Ehe nicht mit psychologischem Hintersinn, sondern packt das Zweisamkeits-Drama in eine Erzählung über die allgemeine Schwierigkeit zu leben. Wie sich überhaupt die Figuren eher dadurch auszeichnen, dass sie vielerlei Gedanken im Kopf hin und her bewegen und sich nicht damit abmühen, hochtrabende
    Reflexionen anzustellen. So geraten der Ich-Erzählerin Marianne die drei Worte "Weißt Du noch?" zur Zauberformel und zum Beweis, dass das Leben einmal anders war und Liebe zumindest möglich.

    Dass die Erinnerung, das einzige Paradies ist, aus dem wir nicht vertrieben werden können, wie Jean Paul vermutete, weiß sie nur zu gut. Z'Graggen lässt sie in behutsamen Sätzen, die zuweilen nur hauchzart am Kitsch vorbeischlendern, davon erzählen. Manches Mal rutscht der Ton auch ins aufgekratzte Pathos, was die Autorin aber mit ihren präzisen Sätzen voll von Lebenserfahrung wieder ausgleicht.

    Yvette Z'Graggen weiß viel vom Alleinsein in der Welt und über Erinnerungen als die eigentliche Herausforderung. Ihre Ich-Erzählerin betritt die eigene Erinnerung wie ein fremdes Land. Das Gestern als unwegsames Gelände, das einen Straucheln lässt.

    Dabei ist der Autorin nichts Menschliches fremd, wobei sie sich mit Hingabe weiblichen Lebensläufen zuwendet. Nicht zufällig erschienen frühere Werke von ihr auf Deutsch beim Fischer-Verlag in der Reihe "Die Frau in der Gesellschaft". Ihr Roman Cornelia, auch unter dem Titel Zerbrechendes Glas publiziert, ist ein klassischer Emanzipationsroman, der sich heute ungeheuer altbacken liest und nicht überdauern wird.In ihrer Erzählung Die Hügel scheinen die alten Kämpfe gottlob gekämpft, oder noch nicht begonnen, Frauen sind nicht bloß Opfer und das Leben, wie es ist. Yvette Z'Graggen wurde 1920 in Genf geboren, wo sie auch heute noch lebt. Mit 24 Jahren veröffentlichte sie ihren ersten Roman La vie attendait. Dabei ist sie ihren Themen treu geblieben: immer wieder ist es die Erinnerung, aber auch der Tod und manch anderer Schicksalsschlag, die das Leben ihrer Figuren bestimmen. In ihren schlimmsten Momenten begreifen sie, dass sie allein sind. Die Erinnerung ermöglicht ihnen auch eine Art von Weltflucht, die sie aus dem Alltag fallen lässt, im Gestern vergessen sie das Heute.

    Die Erzählung Die Hügel könnte man auch als Novelle begreifen. Die unerhörte Begebenheit baut die Autorin geschickt in den Erzählfluss ein. Heraus kommt ein wehmütiger, aber doch nicht hoffnungsloser Abgesang auf die Jugend und das Leben, das man hätte führen können. Schlicht fügt die Autorin dabei kurzen Satz an kurzen Satz, verdichtet alles in eine knappe, lesenswerte Erzählung über die Fallstricke der eigenen Erinnerung. An einer Stelle spricht die Ich-Erzählerin einmal von "der Unzulänglichkeit der Realität angesichts des Imaginären". Ein Gedanke, der die Figuren dieser Autorin immer wieder umtreibt. Das "Es-könnte-so-schön-sein" ist ihr Fluch und ihre Rettung. Und die Erinnerung das einzige, was ihnen bleibt.

    Yvette Z'Graggen
    Die Hügel
    Lenos Verlag, 105 S., EUR 14,90