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Das Leben, ein Provisorium

Hans-Ulrich Treichels langzeitpubertierender Protagonist Paul ist ein Träumer, der zwar realitätsnah auf Lehramt studiert hat, aber dennoch den verpassten Chancen hinterhersinniert - am liebsten am titelgebenden Grunewaldsee.

Von Anja Hirsch | 04.05.2010
    Paul fehlt die Mauer als spannende Joggingstrecke.
    Paul fehlt die Mauer als spannende Joggingstrecke. (Deutschlandradio)
    Glück ist gefährdet. Sobald es ins Leben tritt, scheint es sich aufzubrauchen. Langzeitehen pendeln sich deshalb oft resignativ etwas unterhalb des großen Glücks ein. Und wer dann aufhört, von Besserem wenigstens zu träumen, gilt gemeinhin als erstarrt.

    Hans-Ulrich Treichels stets männliche, langzeitpubertierende, leidenschaftliche, an der dauernden Liebe aber meist scheiternde Figuren haben im Lauf der Zeit die Begabung entwickelt, die gute Zukunft trotzdem zu fantasieren. Und das trägt wesentlich bei zu unserem Leseglück.

    Man taumelt mit ihnen um Widrigkeiten herum, manchmal auch mitten hinein, immer aber mit tröstendem Blick auf das große Versprechen: Irgendwann wird es mit der Liebe schon klappen. Und bald kommt auch der tolle Beruf. Einstweilen begnügen wir uns - wie Paul aus dem jüngsten Roman - mit sporadischen Ausflügen ins Paradies, etwa mit einem gepflegten Spaziergang in Berlin um den titelgebenden "Grunewaldsee", der freilich auch nicht nur glänzt.

    "Das hängt natürlich auch mit Berlinerfahrung zusammen, und ich teile da ein bisschen Pauls Wahrnehmung gelegentlich, ich lebe ja schon seit dreißig Jahren in Berlin, und das ist ein sehr rauer und harter Ort meiner Erfahrung nach gewesen - der Grunewaldsee repräsentiert für mich immer auch einen Fluchtort, eine Idylle, aber eben auch eine beschädigte Idylle. Das ist Hundeauslaufgebiet in Berlin - also die Idylle ist schwer beschädigt."
    Pauls Innenleben ist auch beschädigt: Trotz seiner Neigung nicht nur zum See, sondern insbesondere zur nahe gelegenen Pfaueninsel, hat er seinem verbleibenden Realitätssinn vertraut und Geschichte studiert. Lieber wäre er zwar als Ingenieursbiologe und damals auch gerne mit Birgit auf der Liebesinsel beschäftigt gewesen, entschied sich dann aber doch für "Preußens Autobahnen" statt "Preußens Arkadien". Jetzt wartet er in Berlin auf ein Referendariat. Sein Leben, ein Provisorium, passt zu Kreuzberg, wo er wohnt. Er wäre den Schwänen gerne nachgeflogen. Aber es reichte nur zu einer Affäre in Malaga, wo er, um die Wartezeit zu überbrücken, als Sprachlehrer arbeitete. María hatte ihn verzaubert und kurz nach seiner Rückkehr sogar einen Liebespfand nach Deutschland geschickt: "Permanecemos juntos!", mehr nicht, aber mit Ausrufezeichen, was für Paul nur heißen kann: "Wir bleiben zusammen!" Offenbar weiß sein Unbewusstes mehr: Er heftet den Zwei-Wort-Brief in einem Leitzordner unter der Aufschrift "Archiv" ab. Das große Versprechen bildet trotzdem den Spannungsbogen des Romans, den Eros und die tragische Komik der spezifischen Welten, die Treichel schon in früheren Romanen wie "Der irdische Amor" oder "Tristanakkord" leichtfüßig beschritt.

    "Generell steckt in dieser Ironie immer ein Aufstand gegen einerseits das Sentimentalwerden, das Überwältigtwerden, dann auch das Sich-selbst-zu-wichtig-Nehmen, und dann natürlich auch - das ist so eine objektive Ironie für die komischen Seiten - der Tragik des Lebens. Aber trotzdem hat der Leser sein eigenes Leben und muss seine eigene ironische Kraft aufbringen, diesem Leben standzuhalten. Die Entlastung gibt es während der Lektüre."
    Die Fallhöhe zwischen Ideal und Wirklichkeit, die Treichel so entspannt abschreitet und nutzt wie selten, ist dabei nur das ästhetische Beil, mit dem er alles wohlgelaunt in lauter kleine schmackhafte Episoden zerschneidet. Seine Technik ist eigentlich schlicht: Er lässt den Leser immer etwas früher das Scheitern ahnen, während Paul noch wie ein heroenhafter Adonis, bevorzugt triebgesteuert, im heißen, schmutzig-grauen Grunewaldsand liegend oder anderswo vom Paradies träumt. Trotzdem wird daraus nie nur Slapstick, was eine große Kunst ist. Die Zwischentöne, welche dieses vom Absturz bedrohte Leben gebiert, biegt der Erzähler gerne in Pauls Sinne ab. Gerade deshalb erreichen sie den Leser mit voller Wucht: Er sieht mit an, wie Paul sich ständig mit allem arrangiert, wie er ein fensterloses Zimmer in Malaga durchaus genießt, wie er nach trotzigem Klagen lebenspraktischere Studienabgänger an sich vorbeischießen sieht, auf Arbeitsstellen, die er angeblich gar nicht haben wollte, die er ihnen aber doch neidet. "Grunewaldsee" ist vordergründig ein komischer, humoristischer Roman. Hintergründig erzählt er die Geschichte einer kleinen bis mittleren Wahrnehmungsverzerrung, von der man am Ende nicht zu sagen weiß, ob sie ein Patentrezept gegen unglückliche Lebensumstände ist oder Abwehr oder beides.

    "Er ist eigentlich jemand, der eine Therapie gefunden hat gegen Einsamkeit und Liebeskummer, weil er sich nämlich einbilden kann, dass dort eine dauerhafte Zusammengehörigkeit auch über viele Kilometer hinweg besteht, und das erlaubt ihm eigentlich, sich selbst in dieser Kreuzberger Isoliertheit - am Ende weiß man: auf imaginärer Grundlage - zu stabilisieren."
    Kunstvoll und unaufdringlich erwächst Pauls sehnsuchtsgeschwängerte Wartestandexistenz ganz Treichel-typisch aus der Schamkultur der Eltern, die nie auffallen wollten. Seine schwankende, phlegmatische Alltagspraxis umfasst die Probleme einer ganzen Generation, was erst das Romanganze zeigt. Da sind zunächst die Erzählorte, die geschichtsträchtige Linien ziehen und mit Pauls Lebensverwirrung geradezu sinnlich korrespondieren. Das Berlin nach der Wende etwa trägt entschieden dazu bei. Plötzlich, oh Wunder, fließt alles zusammen, gibt es keine klaren Ränder mehr, keinen Schutzwall gegen die früh abgelegte Heimat. Treichel selbst dürfte das nicht unbekannt sein. 1990 dichtete er sogar mal ein "halbes Liebeslied" auf Berlin. Noch heute erinnert er sich an dieses Gefühl, das nun auch in seinen Roman eingewandert ist und die Heimatlosigkeit seines aus der Provinz bei Braunschweig stammenden Protagonisten beschreibt:

    "Und diese Zeile habe ich sogar im Kopf, obwohl ich meine Gedichte sonst nicht so im Kopf herumtrage: es endet mit der Zeile 'hier leb ich halb/ woanders wär ich tot'. Und das ist insofern ein Liebesgedicht, dass ich gern in dieser geteilten, kalten, irgendwie auch tragisch umflorten, von Stacheldraht eingezäunten Stadt gelebt habe, weil die Alternative, die mir zur Verfügung standen, das war westdeutsche Provinz, zum Beispiel, und da hab ich mich eher tot gefühlt."
    Die nunmehr fehlende Mauer, vormals spannende Joggingstrecke, beschert seinem Westberlin liebenden Paul am Ende sogar die kaum denkbare Möglichkeit einer Neuausrichtung: In Niedersachsen warten ein halbes Elternhaus und sogar eine Referendariatsstelle. "Grunewaldsee" erzählt auch sanft vom Großstadtabschied eines Provinzflüchtlings. Und vielleicht erlangt Treichels neuer Roman bei allem vergnüglichen Charme auch deshalb einen besonderen Echoraum, weil nicht mehr nur die Opferperspektive in den Blick rückt, die Hans-Ulrich Treichel seit der Aufarbeitung seines eigenen Familientraumas, des auf der Flucht verloren gegangenen Bruders, beschäftigt. Jetzt gibt es erstmals eine sehr vorsichtige Konfrontation mit Tätern:

    "Die Schuldproblematik, mit der hab ich mich nie beschäftigt. Aber manchmal gibt es so eine Vision: Was wäre denn, wenn zu der Opferproblematik noch eine Verstrickung auf der Schuldseite hinzukäme - wie das ja immer wieder auch in der Literatur und in der Realität gewesen ist. Und diesen Schrecken, den muss Paul für einen Moment lang erleben."
    Einem Mitläufer oder Täter nicht der eigenen, sondern Marías Familie rückt Paul sogar ganz nah: Er wohnt in Spanien zeitweilig im Landhaus von Marías Onkel, der offenkundig ein Guardia-Civil unter dem Diktator Franco war, jetzt aber ein alter, pensionierter Mann, der ohne große Scham belastende Fotos zeigt. Zu allem Überfluss entdeckt Paul auch noch seine gewisse "Onkelneigung", seine angesichts eines schwachen Vaters eingetretene Vorliebe für autoritäre Persönlichkeiten, die es ihm verbietet, mit deren möglicher Schuld hart ins Gericht zu gehen. Das Beste an diesem Roman sind überhaupt die Stellen, an denen vermeintlich gar nichts geschieht, in denen Paul nur immerzu denkt, hin und her, her und hin, sich aber nichts wirklich bewegt. Pauls Konflikte mit sich und der Welt werden unter der existenziellen Leichtgewichtsfeder Treichels zu grandiosen Aushalteübungen.
    "Dieser Spannungszustand, der sich aufbaut, wird aber jetzt nicht dramatisch gelöst, indem man den nun als Täter entlarven könnte oder er in einen großen ideologischen oder moralischen Diskurs hineinkäme, sondern er muss diese Nähe zu diesem Onkel, von dem er nicht genau weiß, wie böse und schuldhaft, wie monströs oder harmlos der ist, muss er aushalten."
    Man möchte diesen Paul bisweilen ins Leben stupsen. Zugleich entsteht zwischen ihm und dem spürbar reiferen Erzähler jenes produktive Gedankenreich der Literatur, das Hans-Ulrich Treichel ausschöpft, weiterspinnt und verzwirbelt wie kaum einer. "Idyllenkrank" ist eines dieser schönen Worte, die am Rande fallen und hängen bleiben. Und man fragt sich, ob man nicht selbst darunter leidet: am Drang, das eigene Leben überzudekorieren, um die zerfallende, innere Welt zu bedecken. "Schreiben - das ist: Am Bahnhof sein und auf die flirrenden Gleise schauen", kann man einmal bei Treichel lesen - ein Satz, der diese Melancholie beschreibt, die Treichels Romane unter einer glänzend unterhaltenden Oberfläche grundieren.

    "Der ist natürlich ein bisschen geboren aus der Süderfahrung, weil da die Gleise viel öfter flirren, wenn man auf einem Provinzbahnhof irgendwo in Süditalien sitzt oder auch Sardinien, aber es hat auch was zu tun, noch stärker wahrscheinlich, mit heißen Sommern in der westfälischen Provinz, der Kleinstadtbahnhof, wo drei Mal am Tag ein Zug vorbei fuhr, und da sitzt man dann, und die Gleise flirren, und ich glaube, dass der Schreibwunsch mit dieser noch gar nicht gefüllten Sehnsucht, die da entsteht, das ist ja so ne Mischung aus Trauer und Sehnsucht, man weiß gar nicht ganz genau, es sind ja so gemischte Gefühle, dass der Schreibimpuls, der sich da in einem aufbaut, was mit dieser im Wortsinne Schwellensituation zu tun hat."

    Hans-Ulrich Treichels Roman "Grunewaldsee" ist 2010 im Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, erschienen. Er hat 237 Seiten und kostet 19,80 Euro.