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Das Leid der Empfindsamkeit

Dass es Schüler und Studenten gibt, die hochbegabt sind und deswegen beim Lernen besonders gefordert werden müssen, hat wahrscheinlich jeder schon mal gehört. Aber hochsensibel? Die Wahrscheinlichkeit, dass im Hörsaal der eine oder andere hochsensible Kommilitone sitzt, ist durchaus hoch. Denn jeder fünfte bis sechste Mensch gilt nach neuesten psychologischen Forschungen als "sehr empfindsam" und unterscheidet sich durch sein deutlich dünneres Nervenkostüm vom Rest der Bevölkerung.

Von Nora Hertel | 13.10.2005
    Hochsensible verarbeiten Außenreize wie Licht, Geräusche oder Gerüche intensiver als andere - und sind daher auch schneller überfordert. Andere empfinden Kleidung schnell als kratzend oder machen sich über ganz normale Bemerkungen immer und immer wieder Gedanken. Die Dünnhäutigkeit macht den Sensiblen das Leben erst mal schwer. Ein Jurastudent aus Bochum hat jetzt die Flucht nach vorne angetreten und die erste Gruppe für Hochsensible ins Leben gerufen.

    Wenn das Gerangel um die besten Plätze im Hörsaal losgeht, ist für Michael Jack das Rennen schon längst gelaufen. Der 24-jährige Jurastudent aus Bochum sichert sich immer vorab einen Platz in der ersten Reihe. Dass ihn deswegen andere für einen Streber halten könnten, stört ihn inzwischen nicht mehr:

    " Wenn ich weiter hinten sitze, dann sind die diversen akustischen und sonstigen Eindrücke, die man so hat, durch Kommilitonen, die neben einem sitzen derart ablenkend , dass es sehr anstrengend ist, dem Dozenten zuzuhören. Aus diesem Grund sitze ich immer in der ersten Reihe."

    Dass normale Geräusche und normales Gerede ihn viel schneller aus dem Konzept bringt als andere, weiß Michael Jack schon lange. Das Gefühl, sich in vielerlei Hinsicht von anderen zu unterscheiden, begleitet ihn nicht erst seit dem Studium. Doch erst vor einigen Jahren stieß der Jurastudent im Internet auf Forschungsergebnisse über Hochsensibilität und wusste: Das ist es. 15 bis 20 Prozent aller Menschen, so erfuhr er, sind nach psychologischen Untersuchungen so konstruiert, dass sie Außenreize weniger gut filtern und folglich ständig von Eindrücken bombardiert werden, die sie erst mal verarbeiten müssen. Aber diese Eigenschaft birgt auch Vorteile. Michael Jack beobachtet an sich eine extrem gute Auffassungsgabe, die ihm unter günstigen Bedingungen einen Vorsprung verschafft:

    " Wenn ich vorne sitze und ich nehme den Dozenten intensiv wahr, dann brennt sich das zum Teil ein, was der sagt. Ich kann mich noch an Äußerungen erinnern von Dozenten, die liegen drei Jahre zurück. Das haben Kommilitonen vergessen."

    " Der Nachteil ist, dass meine Vorsicht in intellektuellen Dingen häufig aufprallt auf die starke Selbstsicherheit der Kommilitonen, was dazu führt, dass ich wahnsinnig leicht verunsichert bin. Die Konsequenz ist, dass ich Sachen, die man normalerweise in Teamarbeit macht, ganz gerne alleine mache. "

    Auch sonst muss Michael manchmal auf Gesellschaft verzichten. Wenn seine Mitstudierenden in Kneipen gehen oder sich auf Semesterpartys vergnügen, bleibt er lieber zu Hause. Denn laute Musik oder grell zuckende Disco-Kugeln, die andere in Partylaune versetzen, lösen in ihm einfach nur Panik aus. Doch diese Eigenart kann der 24-Jährige mittlerweile respektieren. Sein neues Selbstbewusstsein gibt Michael Jack an andere Studierende an der Ruhr Uni weiter. Einmal im Monat trifft sich ein Gesprächskreis von Hochsensiblen, manchmal kommen zu den Treffen bis zu zwölf Männer und Frauen. Gemeinsam arbeiten sie daran, ihre spezielle Gabe für sich als Bereicherung zu erleben. Michael Jack hat jedenfalls erlebt, dass seine Hochsensibilität auch von normalempfindlichen Kommilitonen als große Bereicherung erlebt wird:

    " Mir ist gleich am Anfang aufgefallen, dass Micha anders ist als andere. Also, vom Äußeren her und von der Art wie er redet, und wie viel er auch redet. Kommt sehr gebildet rüber. Wir haben ziemlich viel miteinander geredet. Und während der Gespräche ergibt sich halt auch, dass er sich besser in einen hereinfühlen kann, als viele andere Menschen."

    Der Eindruck, empfindsamer und empfindlicher zu sein als andere, führte bei Michael Jack schon früh zu dem Gefühl, anders zu sein. Zu Beginn seines Studiums hatte er das Bedürfnis, das auch durch seine Kleidung auszudrücken. Mitstudenten, denen Michael zunächst als Freak auffiel, haben ihre Ansicht inzwischen positiv revidiert:

    " Die Optik ist dermaßen krass zu Beginn des Studiums gewesen! Wenn jemand mit einem Hut und langem Bart in die Vorlesung kommt, dann ist das an der Ruhr Uni vielleicht nicht wirklich strange, aber wenn jemand anfängt, im Hörsaal vorne mit dem Prof. zu diskutieren, dann muss ich auf jeden Fall sagen, dass das abnorm ist. Ganz am Anfang habe ich das als unangenehm empfunden, aber dann habe ich gemerkt, dass viel mehr dahinter steckt."

    Mittlerweile hat Michael Jack den Hut abgesetzt. Er braucht ihn nicht mehr, weil er sich mit seiner Andersartigkeit ausgesöhnt hat. Jetzt will er zusammen mit anderen die Vorteile seiner Hochsensibilität auskosten - und wenn es sein muss, dann eben in der ersten Reihe.

    Literatur

    Georg Parlow: "Zart besaitet"
    Elaine Aron: "The Highly Sensitive Person"