Donnerstag, 28. März 2024

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Das Mädchen mit der Posaune

Eines Tages im Jahr 1944 steht es vor der Tür, das zweijährige Mädchen, Magdalena, die Waise aus Europa von der dalmatinischen Adriainsel Gema, das wie Moses in einem Binsenkorb außer Landes in den chilenischen Norden in Sicherheit gebracht worden ist. Und kaum betritt es den Lebensmittelladen ihres Landsmannes Stefano Coppeta, da springt es hoch, klammert sich ans Gestänge der blitzenden Posaune des Begleiters und setzt sich zur Musik wie eine Zirkusartistin in Schwung. Der Schwung ist der Jazz, der Schwung des Lebens, es beginnt eine weibliche Biografie in Chile.

Christoph Schmitz | 07.07.2003
    Ich wollte die Spontaneität der Stimme der Frauen meiner Generation Ausdruck geben. Ich wollte ihnen diese direkte Möglichkeit sich auszusprechen geben. Und meine Taktik war als Autor so ganz in der Nähe der Hauptfigur zu bleiben, als wäre ich der kleine Bruder von ihr. Oder einer dieser Jungen aus dem Park, der sie begleitet. Ich wollte keinen soziologischen Roman schreiben, und deshalb habe ich eine Sprache erfunden, die die Sprache dieser Mädchen ist.

    Der Begleiter zieht ab, der 40jährige Stefano Coppeta nimmt das Mädchen als Ziehvater bei sich auf, es nennt ihn Großvater. Erzählt wird zuerst, wie die beiden Fremden miteinander zurecht kommen. Eine liebevolle, aber von Verlustängsten und Überforderungen getrübte Beziehung. Eine ungleiche Beziehung allemal, weil Coppeta das Leben hinter sich hat. Aus seiner Heimat hatte er fliehen, seine Geliebte Alia Emar, die, wie es heißt, von den Besatzern später vergewaltigt und verrückt geworden ist, hat er zurücklassen müssen. Coppetas Vorgeschichte scheint aber zur bruchstückhaft durch, von ihr erzählt der erste Teil einer Trilogie, "Die Hochzeit des Dichters", "Das Mädchen mit der Posaune" ist der zweite Teil. Ohne die Lektüre des ersten Bandes, bleibt der zweite unverständlich.

    Stefano Coppeta lebt in Chile nur noch in den Träumen und der Trauer über die Vergangenheit. Das Mädchen, Magdalena, hat das Leben aber noch vor sich, weil sie jung ist, weil ihr mit dem Tod der Eltern eine eigene Geschichte genommen worden ist. So beginnt sie mehr und mehr aus der Zukunft zu leben, und die Zukunft sind die USA, das Land der Freiheit, des Swing, des Films, der Stars. Der Löwe von Metro-Goldwyn-Mayer brüllt bis in die Kinos des staubig-heißen Antofagasta im Norden Chiles, das Empire State Building ragt als schwarzweiße Abbildung bis aufs Ziffernblatt von Stefano Coppetas Taschenuhr.

    Meine Sprache ist die Sprache der Phantasie. Die USA haben diese Kultur weltweit verteilt. Jeder weiß was ein Hollywoodfilm ist, jeder weiß was Glamour und modern ist. (...) Hollywood als Symbol für alles das. Aber das ist eine Phantasie sozusagen des anderen. Wir, die Menschen, die klein sind, die in einem fremden Ort wohnen, ganz getrennt von den großen Metropolen, wir müssen auch eine eigene Phantasie entwickeln. Wenn man von den großen Phantasien etwas annimmt und dann anfängt mit der eigenen Phantasie diese große beherrschende Phantasie zu unterminieren, eine Satire aus diesen Lebensmöglichkeiten zu machen. Diese amerikanische Modell wird in Lateinamerika immer wieder pervertiert, degradiert. Die Spontaneität der Menschen bringt neue Energien. Und diese zweite Geschichte wird im Hintergrund in diesem Roman auch erzählt.

    Coppetas Zeit ist bald abgelaufen, er stirbt in Santiago, die Lungen voller Teer. Auch Magdalena, die eine Schönheit geworden ist und bei Jovana, der Lebensgefährtin des verstorbenen Coppeta lebt, fällt das Atmen im schäbigen Chile immer schwerer. Sie will die Luft von New York atmen und beschließt mit ihrem Freund Pablo Palacio die Flucht, die aber nicht glückt. Doch Magdalena lebt auch schon in Chile aus dem Vollen. Es ist viel von heißen Schenkeln und feuchten Höschen die Rede, von saftigen Knutschereien, wilden Motorradfahrten über die Klippen der Pazifikküste und immer wieder von Kino und Schauspiel und schließlich von Politik. Onkel Allende, kein geringer als der Präsidentschaftskandidat und zukünftige Retter, Salvador Allende geht bei Jovana ein und aus. Magdalena hilft ihm beim Wahlkampf, der Roman endet mit dem Wahlsieg Allendes.

    Die Frauen im Chile der 60er Jahre haben in dieser Befreiungsbewegung eine große Rolle gespielt. Als die Theorien über Feminismus aus Europa gekommen sind, haben die Frauen in Chile schon eine aktive Rolle in der Politik gespielt, das war nicht neu. Diese Ideen sind in die Universität gekommen, und viele intellektuelle Frauen haben mit diesem neuen Material gearbeitet, aber dieser Kampf nach Freiheit, diese Spontaneität und diese Lust am Leben, diese sexuelle Freiheit, das war schon alles da.

    Auch wenn die Politik ins Leben der Heldin und Erzählerin hineinspielt, so ist lange nicht das Zentrum des Romans. Der eigentliche Motor ist "diese Lust am Leben", die Lebensgier einer Frau, deren Maxime es ist, ihr Leben nicht zu einer Rochade ins Nichts zu machen, wie sie das ihres Ziehvaters bechreibt, Zitat: "Wo es kein Leben gab, würde ich es mir mit einer solchen Begeisterung vorstellen, daß es irgendwann Wirklichkeit werden mußte. (...) Es galt sich mit Reino Coppeta ins Wasser zu stürzen". Und Reino Coppeta ist der Bruder Stefanos, der sich, so will es die Legende, vom Exilantenschiff vor New York ins Meer geworfen hat und an Land geschwommen ist.

    Ich liebe sehr Figuren, die sich für Humor einsetzten, für Freundlichkeit, für Zukunft. Meine Helden werden aus diesem Stoff gemacht. Es interessiert mich sehr die Spannung zwischen dem, was die Menschen sind und dem was sie sein möchten. Ich glaube, das ist eine dramatische und interessante Spannung. Im Realismus sieht man die Menschen wie sie sind, und dann kann man ganz kritisch sein und distanziert bleiben und ein kritischer Intellektueller sein, gut, viele europäische Bücher wurden unter dieser Idee geschrieben. Wenn man nicht nur sieht, was die Menschen sind, sondern wohin diese Menschen gehen, was sie mit ihren Seelen machen, welches Projekt sie haben, also diese Spannung, was man ist und sein wird, das macht die Poesie. Das untersucht die Poesie und gibt dieser Spannung Ausdruck.

    Prall, drastisch, mitunter erotisch-frivol ist Skarmetas Sprache. Auch scheut er sich nicht vor Pathos und Klamauk. Er will unterhalten und er unterhält gut. Wir freuen uns auf den dritten Band der Trilogie.