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Das mangelhafte Musterdorf

Am Tigris werden rund 50.000 Menschen umgesiedelt. Der Grund ist der Bau des Ilisu-Staudamms. Die ersten 300 Bewohner haben einen Blick auf ihre künftiges zu Hause geworfen. Doch Neu-Ilisu wird nicht all ihren Bedürfnisse gerecht.

Von Susanne Güsten | 29.10.2010
    Hausbesichtigung in der neuen Heimat: Die Bewohner des kurdischen Dörfchens Ilisu werden durch das neue Dorf geführt, das die staatliche Wohnungsbaugesellschaft für sie errichtet hat. Hoch am Berghang liegt die neue Siedlung über dem Tigris, der das alte Dorf verschlucken wird, wenn der Staudamm fertig ist. Etwas klinisch mag Neu-Ilisu im Vergleich zum alten Dorf wirken, das aus krummen Gassen und windschiefen Lehmhütten besteht, in denen Mensch und Vieh unter einem Dach hausen. Der türkische Umweltminister Veysel Eroglu übertreibt aber nicht, wenn er die Vorzüge der neuen Siedlung aufzählt:

    "Ich will von hier aus der ganzen Welt sagen: Seht, welch ein schönes Dorf wir gebaut haben! Die Häuser sind regelrechte Villen auf 1000-Quadratmeter-Grundstücken, mit Kanalisation und fließendem Wasser, mit Gemeindehaus, Moschee, Grünflächen und sogar einem Spielplatz. Es ist das schönste Dorf der Türkei, wenn nicht der ganzen Welt. Wir sind stolz, das geschafft zu haben."

    Viel Mühe haben sich die Behörden mit dem Dorf gegeben, das ist den schmucken Bungalows anzusehen. Neu-Ilisu ist schließlich der Prototyp für viele weitere Dörfer, die noch folgen sollen. Denn Ilisu ist nur eine von fast 200 Ortschaften, die im Stausee versinken werden, wenn der Damm fertig ist - die 300 Einwohner von Ilisu nur die Ersten von rund 50.000 Menschen, die in den nächsten Jahren umgesiedelt werden sollen. Sie alle werden gespannt auf dieses Musterdorf blicken, wenn Ministerpräsident Erdogan es am Sonntag offiziell übergibt.

    Die Hausfrauen von Ilisu sind jedenfalls beeindruckt von den neuen Häusern, in denen sie nicht nur erstmals fließendes Wasser haben werden, sondern auch moderne Einbauküchen und Badezimmer. Jahrelang haben sich die Dörfler gegen die Umsiedlung gewehrt, doch nun ist auch Bürgermeister Mehmet Nezi Celik versöhnt:

    "Wir sind sehr zufrieden mit den Häusern. Anfangs waren wir ja gegen dieses Projekt, aber diese Häuser haben unsere Bedenken zerstreut. Alle Dörfler finden die Häuser gut."

    Geschenkt bekommen die Dörfler den Komfort allerdings nicht. Mahmut Dündar, zuständiger Abteilungsleiter bei der federführenden Behörde, erläutert die Zahlungsmodalitäten für Neu-Ilisu:

    "Die Einwohner bekommen diese Häuser zu wirklich günstigen Konditionen. Die ersten fünf Jahre lang müssen sie überhaupt nichts bezahlen für diese schönen, modernen Häuser, danach zahlen sie die 70.000 Lira über 20 Jahre in monatlichen Raten von je 291 Lira ab."

    70.000 Lira, das sind rund 35.000 Euro – eine märchenhafte Summe in diesem entlegenen Tal am Tigris. Die Monatsraten entsprechen der Hälfte des türkischen Mindestlohns, den hier in Südostanatolien ohnehin kaum jemand verdient. Die Einwohner von Ilisu fragen sich, wovon sie die Raten bezahlen sollen – sind sie doch bitterarme Bauern, die von ihren Äckern leben und von ihrem Vieh. Denn bei allem Luxus fehle im neuen Dorf noch etwas Wesentliches, sagt der Bürgermeister, Mehmet Nezi Celik:

    "Mit den Häusern sind wir schon zufrieden. Aber wir brauchen noch Ställe, denn in diese schönen Häuser können wir unser Vieh ja nicht mitbringen. Und wir brauchen neue Felder und Weiden, denn unsere alten Anbauflächen werden ja geflutet."

    Umweltminister Eroglu hat angekündigt, dass den Einwohnern von Neu-Ilisu staatliches Forstland zur Verfügung gestellt werden soll, um Mandeln und Walnüsse anzubauen. Die Dörfler wissen davon aber noch nichts – ebenso wenig wie von den Umschulungen und Ausbildungen, die ihnen seit Jahren in Aussicht gestellt werden. Neu-Ilisu ist schön geworden – doch ob es seinen Bewohnern eine Zukunft bieten kann, das ist noch offen.