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Das Massaker von Tlatelolco

1968: Die Olympischen Spiele in Mexiko stehen bevor. Die autoritäre Regierung des Landes will dabei keine störenden Studentenproteste und verstärkt die Repression. Zehn Tage vor Beginn der Spiele eskaliert die Lage: Mindestens 300 Menschen sterben am 2. September 1968 beim Massaker von Tlatelolco, als die Staatsorgane das Feuer auf friedliche Demonstranten eröffnen.

Von Peter B. Schumann | 02.10.2008
    Tlatelolco, der Platz der Drei Kulturen in Mexiko-Stadt, in den frühen Abendstunden des 2. Oktober 1968. Schüsse auf rund 5000 Studentinnen und Studenten, die sich hier zu einer friedlichen Demonstration für die Durchsetzung demokratischer Rechte und die Freilassung politischer Häftlinge versammelt haben. Das autoritäre Regime der Regierungspartei PRI lässt Polizei und sogar die Armee mit aufgepflanzten Bajonetten, Maschinengewehren und Panzern gegen sie vorrücken. Hunderte von Demonstranten sterben im Kugelhagel.

    Das Massaker von Tlatelolco wirkte wie ein Schock auf das Bewusstsein der Mexikaner. Sie waren zwar von ihren Staatsorganen in den letzen Wochen vor den Olympischen Spielen jede Form von Gewalt gewohnt, aber die Brutalität des militärischen Einsatzes an diesem Abend überstieg alle bisherigen Erfahrungen. Tlatelolco war der blutige Höhepunkt einer Eskalation, deren Ursprung im Juli 1968 völlig harmlos war. Elisa Ramírez studierte damals Politologie an der staatlichen Universität UNAM.

    "Es gab den jährlichen Streit zwischen den universitären Vorstufen des Polytechnikums und der staatlichen Universität. Gleichzeitig demonstrierten wir wie seit Jahren gegen den Krieg in Vietnam und für die Kubanische Revolution. Aber anders als früher mischte sich die Polizei ein und zwar mit ständig stärker werdenden Repressionen. Es gab immer mehr Verhaftete und Verletzte. Dann Streik auf unserer Seite, Repression von der anderen, wieder Streik und neue Repression, dann Protest gegen die Brutalität der Polizei, welche die Lage eskalierte. Ohne diese Eskalation hätte es wahrscheinlich die ganze Bewegung nicht gegeben."

    Damals herrschte in Mexiko bereits seit Jahrzehnten die PRI, die Partei der institutionalisierten Revolution, ein nur am Machterhalt interessiertes autoritäres Regime. Es hatte revolutionäre Errungenschaften wie die Landreform längst zunichte gemacht und jede demokratische Entwicklung verhindert. Gegen die versteinerten politischen Verhältnisse richteten sich die studentischen Demonstrationen, angefacht durch den Terror der Staatsorgane.

    "Wir lebten in einem Mexiko mit einer Einheitspartei, mit gefälschten Wahlen, mit minimaler Meinungsfreiheit außerhalb der Universitäten. Wir Studenten waren zuerst nur eine kleine Gruppe innerhalb der Gesellschaft, die ganz konkret anfing, gegen dieses System, die wachsende Unterdrückung und für die Freiheit der vielen politischen Gefangenen zu protestieren."

    Für die Regierung von Präsident Díaz Ortaz waren Proteste dieser Art ein ungewohntes Phänomen. Sie mobilisierte ihre Gewaltmaschinerie, denn schließlich standen die Olympischen Spiele bevor, und Mexiko sollte sich der Welt als ein friedliches Land präsentieren. Als 200.000 Studenten einen Schweigemarsch quer durch die Hauptstadt unternahmen, ließ der Präsident die staatliche Universität durch ein Heer von 10.000 Soldaten besetzen - ein beispielloser Bruch der Autonomie dieser größten Hochschule Lateinamerikas. Erst zwölf Tage später, am 30. September, zog sich die Armee zurück, damit die sogenannte Olympische Waffenruhe beginnen konnte.

    Doch als sich am 2. Oktober erneut Studenten und Professoren, Arbeiter und Angestellte auf dem Platz der Drei Kulturen versammelten, wurde ihr friedlicher Protest von Polizei und Armee mit brutaler Gewalt beendet.

    Die Bilanz erschütterte Mexiko: Wenigstens 300 Tote - die genaue Zahl wurde nie bekannt; Hunderte von Verletzten; mehr als 1500 Verhaftete: Viele von ihnen mussten für Jahre hinter Gitter, viele tauchten nie wieder auf. Das Vertrauen der Mexikaner in die Partei der institutionalisierten Revolution war durch dieses Massaker von Tlatelolco für immer erschüttert. Aber es sollte noch gut drei Jahrzehnte dauern, bis die PRI im Jahr 2000 endlich abgewählt und vorläufig aus ihrer Machtposition verdrängt wurde.