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"Das menschlichste Herz der modernen französischen Literatur"

So kennt man die alte Colette von Fotos der fünfziger Jahre: Schwer arthritisch, aber hoch diszipliniert in ihrem "Bettfloß" sitzend, vor dem speziell angefertigten Bettschreibtisch, auf dem neben dem blass blauen Papier auch das Schminktöpfchen nicht fehlte. Wuscheliges Kraushaar, von schwarzem Khol umrandete funkelnde Augen, der Blick einer Füchsin im dick zugepuderten Gesicht. Keine schöne Frau, eher fremd. Auf Mutter Sidos Seite gab es mulattische Vorfahren auf den Antillen. Colette umgeben von ihren Katzen, deren Anzahl vielleicht ihren zweiten Mann, den Baron Henri de Jouvenel, in den zwanziger Jahren mehr in die Flucht schlagen würden, als die Tatsache, dass sie fünf Jahre lang ein Liebesverhältnis mit dem Stiefsohn unterhielt.

Von Ariane Thomalla | 03.08.2004
    Sie hat das menschlichste Herz der modernen französischen Literatur. Ich, der ich durch viele Jahre hindurch nicht geweint habe, brach in Tränen aus, als ich die Briefe Mitsous an ihren Leutnant las.

    Schrieb Marcel Proust nach der Lektüre des kleinen Romans "Chérie", der 1920 erschien. Wie Proust waren auch Colette die Literatur und die Suche nach dem Kindheitsparadies früh zur Zuflucht geworden. Aber war denn die Kindheit im westburgundischen Saint-Sauveur-en-Puisaye, wo sie als Sidonie Gabrielle Colette 1873 auf die Welt kam, ein Paradies? War man nicht eine geradezu skandalumwitterte Außenseiterfamilie, die einen freiem Lebensstil ganz im Geiste des Sexualrevolutionärs Charles Fourier pflegte? Jedoch beging die älteste Schwester Selbstmord. Ein Bruder blieb zeitlebens ein Kind. Der andere, ein Landarzt, grämte sich zu Tode über den Verlust der alle umklammernden Mutter. Auf keinem Foto je lächelt Colette.

    Je peux etre optimiste, mais je ne suis pas gaie. Je ne désire pas , jen'ai pas désiré etre plus gaie que je suis.

    Zwar könne sie optimistisch sein, aber niemals fröhlich und habe es auch nie sein wollen. Das Leben habe sich ziemlich früh angewöhnt, ihr ein bisschen hart zuzusetzen. Hart setzte ihr zu, dass die große Liebe der Sechzehnjährigen zum Verlegersohn Henry Gautier-Villars, der sich als Literat "Willy" nannte, und schließlich die Ehe mit ihm sich als Unglück erwies. Willy, der eine bekannte Größe von "Tout Paris" der Belle Epoque war, machte zwar aus der Provinzlerin eine mondäne Pariserin - sie galten als exzentrisches Paar. Aber Nacht für Nacht schleppte er sie mit durch die Halbwelt der Boites und der skandalumwitterten Künstler, viele äther- und opiumsüchtig und von Syphilis und Alkoholismus gezeichnet wie Marcel Schwob, Catulle Mendes, den Halbgöttern der Décadence, oder Alfred Jarry, Verfasser des "Roi Ubu". Schlimmer noch - er betrog sie permanent, was die junge Frau in Depressionen stürzte und in eine Syphiliserkrankung, an der sie fast starb. Das verzieh sie Willy nie. Ein Schurke denn doch, der, weil nicht selbst kreativ, andere für sich schreiben ließ: seine "Neger". Perfektes Medien-Marketing avant la lettre. Colette wurde bald sein bester "Neger". So hielt er sie an, ihre Schulmädchenzeit in Saint-Sauveur-en-Puisaye zu Papier zu bringen. Möglichst pikant natürlich:

    Quand j'ai fini ma copie, Mr. Willy a pris connaissance des manuscrits. Il a dit toute de suite, mais non, non.

    Als er das fertige Manuskript gesehen habe, habe er gleich gesagt. Ach nein, nein, um ein Jahr später beim Wiederfinden und Lesen der Hefte gleich zum Verleger loszurennen mit den Worten: "Um Gottes willen, ich bin ein Idiot!". "Claudine" wurde nicht nur ein Riesenerfolg, auch ein Kult. Willys Frechheit und ihre Unterwerfung gingen so weit, dass die ersten "Claudine"-Romane unter seinem Namen erschienen.

    Bis Colette, bald dreißig Jahre alt, ausbrach und selbst Skandal machte als wenig begabte, aber offenherzige Varieté-Tänzerin. Als kleine stämmig-stramme Schönheit ließ sie sich im Stück "La chair", "Das Fleisch", vom Partner das Kleid vom Leibe reißen. Die Ausstrahlung des darob in volle Freiheit wogenden Busens war so groß, dass auch der junge Maurice Chevalier in Verliebtheit erglühte. Er gestand es der Siebzigjährigen, als er den männlichen Part in "Gigi" sang, dem Roman, der mehrfach verfilmt, auch als Musical um die Welt ging:

    Maurice Chevalier: I am remembering everything ...

    Übrigens gab den Mann in "La Chair" Marie de Morny, eine Freundin. Eine der lesbischen Affären der Colette. Konkurrentinnen, gegen die der Herausgeber der Tageszeitung "Le matin", wo Colette als Journalistin übrigens hervorragend und sogar in Männer-Ressorts wie Parlament und Justiz tätig war neben der obligatorischen Musik- und Literaturkritik, Henri de Jouvenel anzukämpfen hatte.

    Sie heirateten 1913. Eine Ehe, die wiederum durch die zynische Untreue des Mannes zerbrach. Umso glücklicher war Colettes dritte Ehe mit dem sechzehn Jahre jüngeren Maurice Goudeket, einem Perlenhändler. Ein Glück bis zu ihrem Tod 1954, das nur während der deutschen Okkupation getrübt war, als sie ihren jüdischen Mann immer wieder verstecken und retten musste.

    "Claudine", "La Vagabonde" "Chérie", "Gigi", "Erwachende Herzen" und "Die Fessel" - Colette erschuf sich ihre eigene Sprache, ihren eigenen Ton, auch die eigene Umwertung im Verhältnis der Geschlechter und zeigte erstmals in aller Natürlichkeit die bis dahin boykottierte initiative Sinnlichkeit der Frau. 1945 wurde sie als zweite Frau in der Geschichte ohne Gegenstimme in die Académie Goncourt gewählt. Jean Cocteau kommentierte:

    Colettes Leben. Skandal auf Skandal. Und dann nimmt alles eine neue Wendung, und sie wird zum Idol.