Samstag, 20. April 2024

Archiv


Das Modell Medellín

Lange Jahre galt Medellín als Gewalthauptstadt Lateinamerikas: Auf knapp 2,2 Millionen Einwohner kamen fast 7000 Morde pro Jahr. Jetzt bringt ein Schulprojekt Täter und Opfer zusammen. Doch die Gewalt kommt zurück.

Von Anne Herrberg | 16.01.2011
    Musik: Pido Perdón von José Samir:

    "Heute spüre ich Reue und großen Schmerz in mir, so schreibe ich dieses Lied, denn ich weiß nicht, wie ich sonst um Verzeihung bitten kann. Mein Leben hat sich geändert."

    José Samir heißt der Rapper. Er war Mitglied der Paramilitärs und gehörte damit zu den ultrarechten Todesschwadronen in Kolumbien. Jahrelang hat er Menschen gefoltert, vertrieben und massakriert. José Samir war einer von vielen Jugendlichen, die an den Fronten des längsten Bürgerkriegs der Welt kämpfen. Doch das ist nun Vergangenheit. José Samir hat die Waffen abgegeben und nimmt heute Teil an einem Wiedereingliederungsprogramm, das in Kolumbiens zweitgrößter Metropole organisiert wird: In Medellín.

    "Wir haben uns verteidigt. Wir wollten niemandem Leid zufügen. Ich will nicht länger Sklave sein. Eines solch absurden Krieges ... "

    Kolumbiens Bürgerkrieg: Seit jeher schürt die ungerechte Verteilung des Reichtums im Land Konflikte. In den 60er-Jahren bilden sich marxistische Guerillagruppen wie FARC und ELN. Sie beanspruchen für sich, gegen das Unrecht anzutreten. Dagegen standen die Großgrundbesitzer. Sie engagieren paramilitärische Milizen und setzen diese Todesschwadronen gegen die Guerilla ein. Verbindungen halten diese Milizen aber auch zu Militär, Wirtschaft und Politik.

    Ein schmutziger Krieg beginnt. Heute sind beide Seiten - Guerilla wie Paramilitärs und Militär - in Kriminalität und Drogenhandel verstrickt. Opfer dieses Krieges ist die Zivilbevölkerung: 200.000 Menschen starben, 50.000 sind spurlos verschwunden und vier Millionen auf der Flucht im eigenen Land.

    Der Rapper José Samir ist Ende zwanzig. Mit Hilfe des Wiedereingliederungsprogramms für Frieden und Versöhnung der Stadt Medellín hat er seinen Schulabschluss nachgeholt. Im Ausbildungszentrum CEPAR, das 2005 gegründet wurde.

    Das Schulprojekt ist weltweit wohl einzigartig. Denn hier sitzen nicht nur die einstigen Gegner sondern auch Täter und Opfer nebeneinander auf der Schulbank. Also ehemalige Paramilitärs, ehemalige Guerilleros, Mitglieder von Jugendbanden und auch die Leidtragenden der Gewalt. Das CEPAR soll ein Ort der Versöhnung sein. Doch zugleich ist es Spiegel all des Dramas, das sich in Kolumbien abspielt.

    Lange Jahre galt Medellín als Gewalthauptstadt Lateinamerikas: Auf knapp 2,2 Millionen Einwohner kamen fast 7.000 Morde pro Jahr - die meisten Opfer sind Jugendliche aus den Comunas, den Elendsvierteln Medellíns. Zufluchtsorte für Gestrandete. Armut und Chancenlosigkeit treiben vor allem Jugendliche in die Kriminalität. Als Sicarios, jugendliche Auftragskiller, erledigen sie die Drecksarbeit im Drogenkrieg, der Medellín seit Mitte der 80er-Jahre beherrscht.

    Musik: Muerte anunciada von Tigres del norte

    "Der Tod war vorauszusehen, seit er die Kontrolle übernommen hat. Er hat die Welt auf den Kopf gestellt, dieser Zar des Kokains."

    Eine Volksballade auf Pablo Escobar. Der berüchtigte Kopf des Medellín-Kartells legte nicht nur den Grundstein für das bis heute wichtigste Exportgeschäft des Landes: den Drogenhandel, mit etwa vier bis fünf Milliarden Dollar Umsatz jährlich. Mit dem Geschäft wuchsen auch Gewalt und Korruption. Eine Mafiastruktur entstand, die auch nach Escobars Tod 1993 intakt bleiben soll. Paramilitärs vom Land drängen in die Stadt und übernehmen die Kontrolle, wieder greifen sie auf die Banden zurück. Leon Valencia, Journalist und Direktor der Nicht-Regierungsorganisation "Nuevo Arco Iris":

    "Die Organisationsform änderte sich, nicht die Struktur. Und die neue Form war die des Paramilitarismus. Eines kriminellen, nationalen Netzwerkes, das den Drogenhandel kontrollierte, sich gewaltsam Ländereien und Besitztümer aneignete - dabei aber im ganzen Land Bündnisse mit den Provinzregierungen einging. Mit dem Argument, eigentlich gegen die Guerilla vorzugehen, erkaufte man sich die Legitimation."

    Die Provinz Antioquia, mit der Hauptstadt Medellín, gilt als Keimzelle des Paramilitarismus. Schon das Medellín-Kartell sicherte sich mit solchen Milizen neue Drogenanbaugebiete und Transportrouten gegen die Guerilla. Und die Regierung selbst regte Mitte der 90er-Jahre die Gründung paramilitärischer Sicherheitskooperativen an. So entstand das Modell eines "Mikro-Militärstaates". Mit einem System, in dem staatliche und private Institutionen zunehmend miteinander vernetzt wurden.

    In jenen Jahren war Álvaro Uribe Gouverneur der Provinz Antioquia. Vorher war der Sprössling einer einflussreichen Viehzüchterfamilie Bürgermeister Medellíns gewesen. 2002 wird Álvaro Uribe zum Präsidenten Kolumbiens gewählt. Er verspricht den Menschen in seinem Land, die Integrität und die Autorität des Staates wieder herzustellen.

    "Wir werden dafür sorgen, dass die demokratischen Institutionen über die Bedrohungen, die von der Kriminalität ausgehen, triumphieren." (O-Ton Álvaro Uribe)

    Direkt nach Amtsantritt geht Uribe mit ausgesprochener Härte gegen die Guerilla vor. Sein militärischer Kampf ist bedingungslos. Zugleich führt er Verhandlungen mit dem Dachverband der Paramilitärs. Daraufhin geben 2003 die ersten Gruppen in Medellín ihre Waffen ab - dank großzügiger Amnestieangebote vonseiten der kolumbianischen Regierung und dank dem Versprechen Uribes, keinen der Kommandanten wegen Drogenhandels an die USA auszuliefern.

    Seit 2005 muss sich nun allein die oberste Befehlsriege in einem Sondergerichtsverfahren für ihre Verbrechen verantworten. Das Gros der Kämpfer jedoch gilt als "Handlanger" und soll wieder in die Gesellschaft eingegliedert werden. Sie sollen eine Ausbildung erhalten, psychologisch betreut und finanziell unterstützt werden.

    Eine Belohnung also für Verbrecher - um damit Frieden und Versöhnung zu erkaufen? Paulo Serna, Direktor des Wiedereingliederungsprogramms der Stadt Medellín:

    "Würde man all diese Leute hier ins Gefängnis stecken, würde das den Staat doppelt so viel kosten wie die Wiedereingliederung. Mit dem Ergebnis wahrscheinlich, dass noch größere Verbrecher aus ihnen werden als vorher. Unser Modell dagegen gibt Hoffnung. Wir haben auch Anfragen aus anderen Städten, aus Mexiko oder Venezuela zum Beispiel, die heute erleben, was Medellín bereits hinter sich gelassen hat."

    Das Modell Medellín - das auch Kämpfer von Gruppen aufnimmt, die noch kein zentrales Demobilisierungsabkommen mit der kolumbianischen Regierung geschlossen haben. Das die Opfer mit einbezieht. Und das insgesamt neue Wege beschreitet.

    "Gewalt erzeugt große Armut und die Armut ist der beste Nährboden für neue Gewalt. Uns geht es daher um soziale Gerechtigkeit. Während der letzten beiden Amtszeiten in der Kommune haben wir wahr machen können, was wir uns immer wünschten: Wir haben mehr als ein Drittel des Haushaltes in die Bildung gesteckt, in Soziales, in Kultur und in die Infrastruktur der Armenviertel. Dadurch wurde das Miteinander und die Demokratie gestärkt."

    Sagt Alonso Salazar. Als Regierungssekretär im Bürgermeisteramt hat er 2004, gemeinsam mit dem damaligen Bürgermeister Medellíns, Sergio Fajardo, umfassende Sozialreformen eingeleitet - dazu gehören auch Versöhnungs-programme wie das im Ausbildungszentrum CEPAR. Sie zielten darauf ab, der Gewalt den Nährboden zu entziehen statt, wie im Rest des Landes, den Militäretat an die erste Stelle zu setzen. Ein Konzept, das erst einmal aufzugehen schien: Die Mordrate sank um 90 Prozent, die Wirtschaft holte auf und auch die Zahl der Touristen stieg um das Zehnfache. Medellín wurde wieder die "Stadt des Frühlings" genannt - auch wegen ihres milden Klimas.

    Von der Alpujarra, dem spitzen Regierungsturm, blickt Salazar hinunter auf seine Stadt: Was er sieht, sind quirlige Geschäftsviertel voller Bars und Boutiquen, dann der neu gebaute "Park der Lichter", auf dem sich bis spät in der Nacht Straßenkünstler und Liebespaare treffen. 2008 ist Salazar selbst zum Bürgermeister Medellíns aufgestiegen - und seitdem feiert ihn die internationale Presse als "Vorzeige-Reformer", und titelt: "Medellin - von der Angst zur Hoffnung und zur Gleichheit" - das ist auch der Slogan der Regierung.

    Der Slogan, aufgenommen von Anwohnern des berüchtigten Elendsviertels Comuna 13. Das Elendsviertel, das an den westlichen Hügeln der Stadt liegt, stellt einen strategischen Korridor dar - zu den Schmuggelrouten in Richtung Golf von Panamá. Die Comuna 13 wurde damit zum besonders grausam umkämpften Terrain. 150.000 Menschen leben hier dicht gedrängt in selbst gezimmerten Backsteinhäusern, die sich abenteuerlich an die steilen Berghänge klammern. Darüber schwebt das Metrocable. Besonders diese Seilbahn ist zum Symbol der Hoffnung geworden, denn sie verbindet das Elendsviertel mit dem Zentrum und den Arbeitsplätzen.

    Dort oben wohnt auch Chuly, 26, allein erziehend. Acht Mal wurde sie von Bandenkriegen aus verschiedenen Vierteln vertrieben, nun wohnt sie mit ihren zwei Töchtern in einer modernen Betonplatte der Comuna 13. Die neu gebaute Sozialwohnung liegt direkt hinter der Endstation des Metrocable.

    Und genau hier endet denn auch der Traum vom wundersamen Neuanfang Medellins. Im Elendsviertel Comuna 13, hinter der Endstation des Metrocable. Denn der Slogan der Regierung hat hier keine andauernde Befriedung nach sich gezogen. Der viel beschworene Wandel entpuppt sich als Illusion.

    "Die fordern Schutzgeld für die Wohnung, also die Paracos. Wer nicht zahlt, muss gehen. Aber die Wohnung ist gut, die Wände sind aus Beton, da kommen die Kugeln nicht durch, wenn es Auseinandersetzungen gibt mit der Bande aus dem Nachbarviertel. Die sind eigentlich okay, aber klar, wenn geschossen wird, dann kann niemand Rücksicht nehmen. So ist das halt, ich kenne das auch nicht anders."

    In den Comunas herrscht wieder die Gewalt - entgegen aller Jubelmeldungen der Regierung. Etwa 150 Banden seien derzeit in den Comunas der Stadt aktiv, heißt es, die meisten Mitglieder seien minderjährig, über 2.000 Morde habe es im letzten Jahr gegeben, die Zahl der Binnenvertriebenen sei um 10 Prozent gestiegen ...

    Medellíns aktueller Menschenrechtsbericht fasst Chulys Alltag in Zahlen. Paramilitärs soll es in Kolumbien nicht mehr geben. So lautete die Botschaft von Präsident Uribe. Und auch sein Nachfolger Juan Manuel Santos, heute Präsident Kolumbiens, ist dabei geblieben. Die Integrität und die Autorität des Staates sei wieder hergestellt.

    Doch wie begründet sich dann die Welle der Gewalt, die Medellín heute wieder heimsucht? Und welche Rolle spielt dabei die Regierung?

    Auf nationaler Ebene läuft seit 2005 das Sondergerichtsverfahren "Gerechtigkeit und Frieden": Hohe Paramilitärs legen dabei Geständnisse ab und müssen auch für grausamste Verbrechen mit nicht mehr als acht Jahren Gefängnis rechnen. Ihre Aussagen aber belasteten auch enge Vertraute und Verwandte des damaligen Präsidenten Uribe: wegen ihrer Verbindungen zu den Paramilitärs. Was Uribe dazu veranlasste, im Mai 2008 die Reißleine zu ziehen. Um weiteren Enthüllungen vorzubeugen, ließ er - gegen alle Absprachen - insgesamt 14 Kommandanten an die USA ausliefern.

    Auf die Stadt Medellín hatte das direkte Auswirkungen. Bayron Góngora von der Menschenrechtskanzlei Corporación Jurídica Libertad:

    "In Medellín wird der Kampf um die Kontrolle eines der wichtigsten Knotenpunkte des Drogenhandels ausgefochten. Daran sind auch verschiedene Gruppen der Paramilitärs beteiligt. 2002 konnte die Gruppe des Kommandanten alias 'Don Berna' den Machtkampf für sich entscheiden. Er aber wurde zusammen mit anderen großen Capos 2008 an die USA ausgeliefert. Damit wurde sozusagen der Kopf gefällt. Und was passierte? Die kriminelle Ordnung kam durcheinander und die Gewalt in der Stadt eskalierte erneut."

    Der berüchtigte Kommandant und Drogenhändler Murillo Bejerano alias "Don Berna" war so etwas wie der zweite "Pablo Escobar" Medellíns. Er räumte alle Konkurrenten aus dem Weg - mit Duldung beziehungsweise Unterstützung von ganz oben. Diego Herrera vom Medellíner Sozialforschungsinstitut IPC:

    "Das beste Beispiel dafür ist die Operation Orion 2002. Mit dieser Militäraktion war die Comuna 13, die letzte Bastion der Guerilla in der Stadt, gesäubert worden - mit Luftangriffen und Panzern und mindestens 11 toten Zivilisten. Das Militär wurde dabei von den Leuten Don Bernas unterstützt, von dessen Einheit der Paramilitärs. Danach war die ganze Stadt unter Kontrolle dieses Capos. Das war übrigens genau in der Zeit, als Uribe seine Präsidentschaft antrat."
    Die Wahrheit um den Wandel in Medellín ist also ernüchternd. Nicht die Sozialreformen und der Kampf gegen Elend und Armut hatten der Stadt vorübergehend Erleichterung verschafft. Die Mordrate war zurückgegangen, weil der Drogenhändler und Kommandant Don Berna das Verbrechen kontrollierte. Unter den Augen staatlicher Stellen. Im Gegenzug hatte er weitgehend freie Hand bei seinen illegalen Machenschaften. Und auch seine sogenannte "Demobilisierung" hatte auf sein kriminelles Handeln keinen Einfluss. Selbst vom Gefängnis aus zog er weiter die Fäden - auch in der Regierungszeit des Reformers Sergio Fajardo. Bayron Góngora:

    "Wir vermuten, dass es hier eine Art Co-Gouvernance gab, einen Pakt zwischen kriminellen Gruppen und städtischen Behörden, genauso wie er ja auf nationaler Ebene existiert. Man akzeptiert die Illegalität, solange man dafür Ruhe erntet. Ohne Zweifel hat Fajardo diese Ruhe für wichtige soziale Reformen genutzt - aber diese Programme kratzen nur an der Oberfläche, sie verändern nichts an den viel tiefer liegenden Strukturen. Das wird vor allem jetzt offensichtlich, nachdem Don Berna an die USA ausgeliefert wurde."

    Die Folge: Die vorher von einer Hand kontrollierten Gruppen zersplitterten. Und es setzten brutale Nachfolgekämpfe in den mittleren Befehlsrängen ein. Wo früher ein Boss war, streiten heute zwei, oder drei Chefs um die Kontrolle der Stadtviertel.

    Bald geriet auch Medellíns Bürgermeister Salazar unter Beschuss - der Anschuldigung, Paramilitärs hätten seine Wahl unterstützt, konnte die Staatsanwaltschaft jedoch begegnen. Sie wurde vorangetrieben von einer zivilen Organisation demobilisierter Paramilitärs, die sich um Don Berna scharten. Auch viele Stadtteil-Räte, ins Leben gerufen, um den Comunas mehr politische Mitbestimmung zu ermöglichen, seien mittlerweile unterwandert - meint Sozialforscher Diego Herrera. Das verdeutliche einmal mehr die Macht der illegalen Gruppen:

    "Für uns ist der Paramilitarismus weniger ein militärisches als ein politisches Projekt. Diese Gruppen kontrollieren heute in vielen Vierteln nicht nur Drogenhandel, Prostitution oder Glückspiel, sondern auch Geschäfte und Transport. Daher auch unsere Kritik am Prozess der Demobilisierung und der Wiedereingliederung. Wir sehen darin ein Abkommen, das dazu dienen sollte, kriminelle Strukturen auch noch zu legalisieren und so Gelder aus illegalen Geschäften zu waschen."

    Mittlerweile ist auch der Rückhalt für Bürgermeister Salazar in der Öffentlichkeit gesunken - trotz seiner Entlastung durch die Staatsanwaltschaft. Und: Heimliche Rufe nach einem neuen "Don Berna" sind zu hören. Doch Salazar kennt derzeit nur eine Antwort auf die erneut überbordende Gewalt: Er setzt mehr Polizei ein. Und mehr Militär.

    Doch Bürgermeister Salazar erfährt Unterstützung: Durch den neuen Präsidenten, Juan Manuel Santos. Der erklärte die neue Gewaltwelle in Medellín gleich zu Beginn seiner Amtszeit zur Chefsache. 1.000 neue Soldaten will er in die Stadt schicken. Und er will die Politik seines Vorgängers Uribe fortführen, die "Politik der demokratischen Sicherheit". Auch er setzt also auf "Altbewährtes", will Gewalt ausschließlich mit Gewalt bekämpfen.