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Das Museum der bedingungslosen Kapitulation

"Von einem Dichterschloß zum anderen", so könnte man die Lebens- und Arbeitssituation charakterisieren, zu der Dubravka Ugresic seit ihrem unfreiwilligen Wegzug aus Kroatien 1993 verurteilt ist. Die Skizzen und Notizen, die sie nun unter dem Titel "Das Museum der bedingungslosen Kapitulation" vorlegt, reflektieren ein Leben aus dem Koffer. "Der Koffer", schreibt sie an einer Stelle, ist "meine einzige Realität. (...) Ja, der Koffer ist mein einziger fixer Punkt." Auch wenn er nichts weiter enthält als ein "altes, vergilbtes Foto".

Christoph Bartmann | 23.06.1998
    Dubravka Ugresic läßt sich oft von alten Fotos und Notizbüchern, von einer "Poetik des Albums" leiten. Darin steht sie ihrem jugoslawischen Landsmann Danilo Kis und seinem Schreibprinzip der "Enzyklopädie", des Müllhaufens und des Trödelmarkts nahe. Kein Zufall, daß Kis einer von Ugresics literarischen Paten ist. Andere Vorbilder sind Vladimir Nabokov und Joseph Brodsky, Ilya Kabakov und Viktor Sklovskij - ausnahmslos Russen, in der Mehrzahl Exilanten, in der Mehrzahl mit längerem Wohnsitz in Berlin. Ugresics neues Buch ist, wenn sich denn ein paar Gegenstände hervorheben lassen, ein Exil-Buch und ein Berlin-Buch. Von Sklovskij hat sich Ugresic ein Wort geliehen, das ihr eigenes Schreiben auf den Punkt bringt: "Ich ... möchte kein Sujet bauen. Ich werde über Dinge und Gedanken schreiben. Wie ein Zettelkasten." Ugresics Zettelkasten ist voll von Erinnerungen und Episoden: aus dem Leben der Mutter und der Großmutter, aus den letzten Jahren in Zagreb, aus der Zeit der Stipendien-Wanderschaft. Hinzu kommen Reflexionen über zeitgenössische bildende Kunst; sie gehen auf einen Berlin-Aufenthalt zurück, bei dem Ugresic in täglichem Kontakt mit Malern und Bildhauern stand. So zerstreut und episodisch diese Notizen auch sind, sie werden zusammengehalten von Ugresics scharfer Beobachtungsgabe, ihrer unverwechselbaren essayistisch-erzählerischen Stimme. Dabei handelt es sich freilich zum größeren Teil um Gelegenheitsarbeiten, die Dubravka Ugresics literarische Fähigkeiten zwar demonstrieren, aber gewiß nicht ausschöpfen.

    Seinen Titel hat das Buch von einer Einrichtung in Berlin-Karlshorst, die 1994 mit dem Abzug der russischen Streitkräfte aus Deutschland geschlossen wurde. Das "Museum der bedingungslosen Kapitulation" befand sich in dem Gebäude, in dem am 8. Mai 1945 die bedingungslose Kapitulation Hitlerdeutschlands unterzeichnet wurde. Das Museum mit seinem "schweren, muffigen, süßlichen Geruch" war, so ist bei Ugresic zu erfahren, lange Zeit ein beliebter Treffpunkt der Osteuropäer in Berlin. Nun hat das Museum seine Pforten geschlossen, doch die Exponate sind immer noch da. Das Museum und seine Exponate sind Eigentum der ehemaligen Sowjetunion. Unwahrscheinlich, daß sie jemand nach Hause schafft. Eine Situation, die für Dubravka Ugresics Phantasie wie geschaffen ist.

    In sieben symmetrisch angeordneten Kapiteln breitet die Autorin den über die Jahre 1991-1995 angesammelten Stoff aus. Auf ein Kapitel mit tagebuchartigen Notizen folgt jeweils eines mit kleinen Erzählungen und Porträts. Das Kapitel "Das Hausmuseum" verbindet Ugresics "Poetik des Albums" mit Erinnerung an eine Kindheit im sozialistischen Jugoslawien sowie mit Auszügen aus einem "Notizbuch", das die Mutter auf Anregung ihrer Tochter geführt hat. Das Kapitel "Archiv: Sechs Geschichten mit dem diskreten Motiv eines Engels, der den Raum verläßt" führt Episoden vornehmlich aus der Zeit des Exils zusammen. "Die Nacht von Lissabon" heißt eine dieser Erzählungen in Anlehnung an Remarques Bestseller. Es ist die Geschichte einer ebenso flüchtigen wie unerwartet innigen Romanze der kongreßreisenden Autorin mit einem jungen portugiesischen Papagallo, die durch die Dazwischenkunft eines auch tagungshalber anwesenden Ex-Liebhabers noch an Drall gewinnt. Am Ende hat ihr António, der bei Licht besehen gar nicht so junge Portugiese, das Kongreß-Honorar abgeschwatzt. Reue kommt bei der Erzählerin trotzdem nicht auf: "Ihm habe ich mein Honorar gegeben", meint sie, "weil es ihm gebührt, weil er es verdient hat. Für seine Kunst des Erzählens, der Überredung." António und sie, so scheint es ihr, sind gewissermaßen Berufskollegen, nämlich als "Verkäufer von Straßentricks".

    Im wohl schönsten Kapitel, es heißt "Das Gruppenfoto", erinnert Ugresic an Dinka, Alma, Doti, Nusa, Ivana und sich selbst - sechs Zagreber "Universitätsmädchen" und an ihre geselligen, erotischen und kulinarischen Rituale. In deren Mittelpunkt steht das Kartenlegen, entstanden "aus der unklaren Sehnsucht, die Schwere des Alltagslebens zu überwinden". Einmal wird es vom unerwarteten Erscheinen eines bezaubernden Knaben unterbrochen, eines engelhaften Wesens namens Alfred, ausgerüstet mit Skateboard und mit Tito-Abzeichen am T-Shirt. Was dann beim Legen der Tarotkarten sich anbahnt, rührt an die Grenzen zum Übersinnlichen. Ganz realistisch sind dagegen die nachfolgenden Porträts der sechs Universitätsmädchen. Sie erzählen Geschichten vom alltäglichen kroatischen Neo-Chauvinismus, vom Leben und Überleben in Sarajevo, vom Ausharren auf kleinen Zagreber Universitätsposten - und von der glänzenden Karriere des Mädchens Doti, die sich unversehens zur Chef-Propagandistin des staatlichen kroatischen Fernsehens mausert. Dotis Opportunismus ist die Ausnahme. Sonst zeichnet Ugresic Profile einer Generation, die sich vor den neuen Nationalismen im ehemaligen Jugoslawien auf die Flucht begeben hat - nach Berlin und anderswohin.