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Das Paradies ist verriegelt

Kleist hielt sein Werk für misslungen, sein Leben für verfehlt. Er konnte nicht ahnen, dass er nach seinem Tod am Berliner Wannsee finden würde, was sein "Prinz von Homburg" sich erträumte: die Unsterblichkeit.

Von Christian Linder | 21.11.2011
    Das Echo der beiden Schüsse, die Heinrich von Kleist am 21. November 1811 am Berliner Wannsee abgab, hallt bis in unsere Zeit. Mit dem ersten Schuss tötete er, auf ihren Wunsch hin, die mit ihm befreundete Henriette Vogel, da sie aufgrund einer nicht heilbaren Krebskrankheit Erlösung vor dem zu erwartenden Todeskampf erhoffte, mit dem zweiten Schuss tötete er sich selbst. In einem am Morgen seines Todes geschriebenen Abschiedsbrief an seine Schwester Ulrike heißt es:

    "Die Wahrheit ist, dass mir auf Erden nicht zu helfen war."

    Als die Gewalttat eines deutschen Schriftstellers, den der Humanismus der deutschen Klassiker und der Idealismus der deutschen Philosophie nicht erlösen konnte, wurde der Selbstmord später geistesgeschichtlich überhöht. Da war Kleist, zu Lebzeiten ein krasser Außenseiter, selbst längst ein Klassiker geworden, dessen Theaterstücke wie "Der Prinz von Homburg" bis in die Gegenwart legendäre Triumphe feiern.

    Prinz von Homburg: "Ins Nichts mit Dir zurück, Herr Prinz von Homburg. / Ins Nichts, ins Nichts! In dem Gefühl der Schlacht, / Sehn wir, wenn’s Dir gefällig ist, uns wieder! / Im Traum erringt man solche Dinge nicht."

    Wie soll man da leben? Das Ausprobieren von meist gefährlichen subjektiven Lebensmodellen hat Kleist beschrieben. In all seinen Arbeiten – Dramen wie "Penthesilea" oder "Amphitryon", Prosatexten wie "Michael Kohlhaas" oder "Die Marquise von O" – ereignet sich in seinen Personen immer ein inneres Erdbeben, das sie an den Rand ihrer Gewissheiten führt und oft auch über ihn und damit aus der Gesellschaft hinaus. Es waren diese Grenzüberschreitungen, die spätere Generationen von Künstlern – Komponisten wie Hans Werner Henze oder Schriftstellerinnen wie Christa Wolf –als Motiv aufgegriffen und weiterentwickelt haben.

    In ihrer Erzählung "Kein Ort. Nirgends" inszeniert Christa Wolf eine imaginäre Begegnung Kleists mit Karoline von Günderode und lässt diese gegenüber Kleist einen Vorschlag zur Lösung seiner Lebensprobleme aussprechen: Es sei ihre schwerste Erfahrung,

    "dass zerstörbar in uns nur ist, was zerstört werden will, verführbar nur, was der Verführung entgegenkommt, frei nur, was zur Freiheit fähig ist; dass diese Erkenntnis sich in einer ungeheuren Weise vor dem, den sie betrifft, verbirgt, und dass die Kämpfe, in denen wir uns ermatten, oft Scheingefechte sind."

    Nach dem "richtigen" Leben jenseits des "Falschen" war Kleist lebenslang unterwegs: Geboren am 10. Oktober 1777 in Frankfurt an der Oder als Sohn einer pommerschen adeligen Familie, in der ein hoher preußischer Militärrang Tradition war, versuchte er, sich zunächst in dieser Tradition einzuordnen, studierte dann unter anderem Mathematik und Physik, las Immanuel Kant und wusste danach:

    "Wir können nicht entscheiden, ob das was wir Wahrheit nennen, wahrhaftig Wahrheit ist oder ob es uns nur so scheint…"

    Aus dieser Einsicht begann er, vom Paradies zu träumen und vermeintliche Zugänge zu erkundschaften:

    "Das Paradies ist verriegelt und der Cherub hinter uns; wir müssen die Reise um die Welt machen und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist."

    In seiner Reise um die Welt hat Kleist manches versucht, auch in seinem Privatleben, so als er auf die Aareinsel im schweizerischen Thuner See zog, um dort als Bauer zu leben. Bald darauf war Kleist wieder in Preußen, aber auch andere, vor allem aus Gründen des notwendigen Lebensunterhalts erdachte Pläne, zum Beispiel eine Beamtenstellung zu erhalten, scheiterten. Ein publizistischer Versuch wie das von ihm mit initiierte Zeitungsprojekt der "Berliner Abendblätter" florierte anfangs zwar, scheiterte aber ebenso. So blieb Kleist nichts anderes übrig, als sich wieder in sein eigenes Schreiben zurückzuziehen:

    Prinz von Homburg: "Nun, o Unsterblichkeit, bist Du ganz mein! Es wachsen Flügel mir an beiden Schultern, / Durch stille Ätherräume schwingt mein Geist …"

    Kleist selbst hielt sein Werk am Ende für misslungen; sein Leben verfehlt. Er konnte nicht einmal ahnungsweise wissen, dass er mit seinem Werk nach seinem Tod finden würde, was sein Prinz von Homburg sich erträumte: die Unsterblichkeit. Die Inschrift auf dem Grabstein am Wannsee verkündet sie.