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Das perfekte Produkt

Der Gitarrist Miloš Karadaglić zappt sich auf seiner zweiten CD "Latino" im Eiltempo durch die Musik Lateinamerikas – und erweist sich abermals als Vorzeigekünstler der "Deutschen Grammophon".

Von Maja Ellmenreich | 22.07.2012
    Zu schön, um wahr zu sein. Fast alles an der Neuen Platte heute Morgen ist zu schön, um wahr zu sein.

    Zunächst der Künstler: Miloš Karadaglić. Ein 29-jähriger, gitarrespielender Beau aus Montenegro, der mit seiner makellosen Schönheit Modelqualitäten besitzt und offensichtlich auch nichts dagegen hat, von seiner Plattenfirma, der "Deutschen Grammophon", entsprechend in Szene gesetzt zu werden.

    Das Repertoire: Miloš Karadaglić zappt sich im Eiltempo durch die Musik Lateinamerikas. Kurze Stücke aus Argentinien, Brasilien, Kuba, Mexiko, Uruguay und Paraguay – im Schnitt nicht länger als drei Minuten. So entsteht ein Potpourri, das den gleichmachenden CD-Titel "Latino" verdient.

    Das Talent: Schluss mit der Häme, denn Miloš Karadaglić ist ein Meister auf seinem Instrument, nicht ohne Grund brachte ihn ein Stipendium mit 16 an die Royal School of Music nach London. Er spielt hervorragend!

    "Track 2
    Jorge Morel:
    Danza brasilera"

    Per Schiff kam die Gitarre nach Lateinamerika. Spanische und portugiesische Seefahrer hatten das Instrument aus der Heimat mitgebracht, als sie sich aufmachten, die Neue Welt zu erobern. Das Saiteninstrument sollte ein Importschlager werden und bleiben: Unzählig sind die Gitarrenarten und –formen, kaum überschaubar das Repertoire, die Vielfalt an Ensembles, Schulen und Traditionen.

    Für den klassischen Gitarristen Miloš Karadaglić war es angesichts dieser Fülle einfach nur logisch, sich bei seinem zweiten Deutsche-Grammophon-Projekt für lateinamerikanisches Repertoire zu entscheiden. Neben der Vielgestaltigkeit gab es für ihn aber noch ein anderes Argument.

    Miloš Karadaglić:
    "Even those very core guitar pieces, the way they are written makes them loved by everybody, not just classical guitarists.”

    Sogar das Kernrepertoire für Gitarre sei so komponiert, dass es jedem gefalle – und nicht nur klassischen Gitarristen, erklärt Miloš Karadaglić in einem Interview zu seiner neuen CD "Latino". Die althergebrachte europäische Trennung zwischen klassischem und populärem Repertoire - oder anders gesagt: zwischen E-Musik und U-Musik - sie wird in Lateinamerika bei weitem nicht so streng vorgenommen. Der wichtigste Impulsgeber für fast jede Musikart ist ohnehin die Volksmusik; auf Virtuosen trifft man in allen Bereichen des Musiklebens: auf der Straße, im Tanzsalon und im Konzertsaal. Entsprechend sind bzw. waren die Gitarrenvirtuosen, deren Musik Miloš Karadaglić für seine neue Platte ausgewählt hat, auch Volksmusiker im besten Sinne – allseits bekannt und beliebt. Bei genauerem Hinsehen und detaillierter Lektüre des Booklets entpuppt sich die neue CD als Hommage an die großen komponierenden Gitarrenvirtuosen Mittel- und Südamerikas. Zum Beispiel an den Paraguayaner Agustín Barrios Mangore, den – wie man im Booklet lernt – "Chopin der Gitarre".

    "Track 16
    Agustín Barrios Mangoré:
    Una limosna por el amor de Dios"

    "Una limosna por el amor de Dios" - "Ein Almosen um Gottes Liebe willen" – so poetisch lautet der Titel des Stückes von Agustín Barrios Mangoré, mit dem Miloš Karadaglić seine CD beschließt und noch einmal in besonderem Maße zeigt, was er kann: mit den Fingern der rechten Hand eine flirrende Tremolo-Melodie zupfen und gleichzeitig eine ruhige, traurige Begleitung dazu spielen. "Das letzte Tremolo" wird dieser Gitarrenklassiker auch genannt, und Miloš Karadaglić gibt ihm noch einen weiteren Namen

    Miloš Karadaglić:
    "Una limosna by Barrios – it’s like the jewels of the guitar crown."

    Die Juwelen auf der Gitarrenkrone also. Miloš Karadaglić bringt auf seiner neuen Platte so manch einen Edelstein zum Glänzen, spielt facettenreich. Und dabei vermittelt er auch in den schnellsten Passagen eine gewisse Ruhe und Überlegenheit. Seine Tempi halten Maß, auch wenn sie schwer beeindrucken. Genauso bei der Dynamik: Extreme spart sich Miloš Karadaglić. Das hat ihm Michael Lewin beigebracht, renommierter Gitarren-Professor an der Royal Academy of Music in London, an der Miloš Karadaglić mit 16 ein Stipendium erhielt. Damals sei er ein talentierter, aber auch ungestümer Junge gewesen, erinnerte sich Karadaglić einmal in einem Interview mit dem Magazin "FonoForum". Michael Lewin habe ihn gebremst und ihm beigebracht, dass nicht jede Note ein Forte brauche. Eine überzeugende musikalische Gelassenheit ist das Ergebnis, keine Langeweile. Gut zu hören vielleicht bei einem vermeintlich unkomplizierten Stückchen wie dem "Scherzino mexicano" von Manuel Ponce, das Miloš Karadaglić bei aller Schlichtheit zu gestalten weiß.

    "Track 13
    Manuel Ponce:
    Scherzino mexicano"

    Der Mexikaner Manuel Ponce und der Brasilianer Heitor Villa-Lobos – beide sind auf der CD "Latino" vertreten mit Stücken, die zum Leib- und Magenrepertoire eines klassischen Gitarristen gehören. Die Namen der übrigen Komponisten dürften den Gitarren-Unkundigen weitgehend unbekannt sein. Doch gleichmäßig dazwischengestreut zwei große Namen des Tango: Astor Piazzolla und Carlos Gardel. Ihre weltbekannten Evergreens haben es auf die neue CD geschafft, im Orchesterarrangement gespielt vom bislang nicht bekannten da bislang nicht existenten Studioorchester der Europäischen FilmPhilharmonie. Ob Piazzolas "Oblivion" oder Gardels "Por una cabeza" – man wird von der filmmusikalischen Wucht tief in den Kinosessel gedrückt: Die Gitarre ist akustisch fast schon unwirklich nah, das Orchester dahinter süffig. Mit beinahe rechnerischer Genauigkeit wurden diese Schmachtfetzen zwischen den Stücken für Gitarre solo platziert: Tracks 1, 5, 9 und 12 gehören dem großen Orchesterauftritt. Schade, dass die "Deutsche Grammophon" dem Musikliebhaber offensichtlich nicht zutraut, eine CD mit erstklassiger Gitarrenmusik pur zu verkraften.

    "Track 5
    Carlos Gardel:
    Por una cabeza"

    Alles an "Latino", der neuen CD von Miloš Karadaglić, ist zu schön, um wahr zu sein – aus Sicht der Marketingprofis allemal: Der umwerfend gut aussehende Miloš - komplizierte Nachnamen sind nur lästig im internationalen Showgeschäft – Miloš ist vor der Kamera fähig zu jedem Mienenspiel: mal offen lachend, mal schüchtern emporblickend, meist aber melancholisch in die Welt schauend. Das CD-Booklet gleicht einem Fotoalbum, die begleitende PR-Kampagne der eines mittelgroßen Landtagswahlkampfes. Generalstabsmäßig wirkt auch der Zeitplan. Vor einem guten Jahr erscheint das erste Album von Miloš bei der "Deutschen Grammophon". "Mediterráneo" heißt es, wird hoch gelobt und viel gekauft. Wie es der Musikmarkt verlangt, folgt nach Jahresfrist die nächste CD. Wieder im Sommer, wieder eine Platte mit Urlaubsflair. Wieder flankiert von seichten Youtube-Filmchen und regelmäßigen Twitter-Meldungen, in denen wir erfahren dürfen, dass Miloš sich ein Eis in Rom kauft, auf den Rodeo Drive in Los Angeles freut und, dass die CD "Latino" in den USA "Pasión" heißt. Sogar die Regeln der ‚political correctness’ haben die Marketingstrategen befolgt, aber leider nicht den guten Rat von Miloš Karadaglićs Mentor Michael Lewin: Nicht jede Note braucht ein Forte!

    "Track 8
    Leo Brouwer:
    Un día de noviembre"

    "Latino" heißt die neue CD von Miloš Karadaglić, dem im Oktober übrigens ein ECHO Klassik als Nachwuchskünstler 2012 überreicht wird. Das Hochglanzprodukt mit durchaus musikalischem Inhalt ist bei dem Label "Deutsche Grammophon" erschienen.


    Infos zur CD:
    "Latino"
    Miloš Karadaglić, Gitarre
    Studioorchester der Europäischen FilmPhilharmonie
    Christoph Israel, Dirigent

    Deutsche Grammophon (LC 0173) 479 0063
    EAN 028947900634