Freitag, 19. April 2024

Archiv

Das Phänomen Michel Houellebecq
Posieren und Clownerie

Starautor Michel Houellebecq bekommt für seinen neuen Roman "Serotonin" von allen Seiten in Frankreich Beifall. Zu Unrecht, sagt der Literaturkritiker Jürgen Ritte. Houellebecq sei ein "Berufsprovokateur", der nur noch posiere und dessen Buch "keine Energie und überhaupt keine Kraft mehr" habe.

Jüren Ritte im Gespräch mit Jan Drees | 07.01.2019
    Buchcover: "Serotonin" von Michel Houellebecq
    Michel Houellebecq betreibe im Moment eine gigantische Clownerie - sowohl bei seiner Hochzeit, die in den Medien zum Event wurde, als auch in seinem Roman "Serotonin", kritisierte Jürgen Ritte im Dlf (DuMont Buchverlag/picture alliance/dpa/Foto:Guillaume Pinon)
    Jan Drees: Heute erscheint in mehreren Ländern "Serotonin", der neue Roman von Michel Houllebecq, der spätestens seit "Elementarteilchen" eine feste Größe in der französischen Gegenwartsliteratur ist. Zugleich steht er, durchaus selbstverschuldet, im Fokus der Boulevardpresse. Man kann wirklich sagen, dieser Mann ist ein Phänomen der Jetzt-Zeit und bevor wir "Serotin" als Buch der Woche besprechen, soll es – eher ungewöhnlich für den Büchermarkt – um den Autor gehen; und um seine neue Figur, die uns einerseits vorgestellt wird im Roman, nun im Folgenden aber von meinem Kollegen Jürgen Ritte, mit dem ich vor der Sendung gesprochen habe – und der zunächst erklärt, welchen Misanthropen wir dieses Mal kennenlernen im Roman von Michel Houllebecq.
    Jürgen Ritte: Wir lernen einen in die Jahre gekommenen Misanthropen kennen, 46 Jahre ist er alt nach eigener Aussage, nennt sich Florent-Claude Labrouste. Das hört sich sehr altfranzösisch an, sehr nach französischer Provinz an. Da kommt er auch her, aus einem gehobenen bürgerlichen Haushalt, er hat die besten Schulen des Landes besucht, ist Agraringenieur geworden, und nach dem Selbstmord der Eltern verfügt er über 700.000 Euro Kapital. Also das ist jetzt ein Held, der sich insofern von den anderen Houellebecq-Helden unterscheidet, dass er etwas älter ist und dass er materiell keine Sorgen hat, was ihm erlaubt, vollkommen sich aus dem Leben zurückzuziehen, aus dem Beruf auszusteigen und dem Sex ein für alle Male zu entsagen, obwohl er in dem ganzen Buch nur von Sex spricht oder fast nur von Sex spricht.
    Provokationen kommen regelmäßig
    Drees: Weil Sex etwas ist, was schwierig wird, wenn man Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer nimmt, ein Antidepressivum, das auch er nimmt. "Serotonin", daher kommt der Titel. Es geht wieder also um richtig viel Sex wie in "Elementarteilchen" beispielsweise?
    Ritte: Es geht um viel Sex wie in "Elementarteilchen". Da sind wir im Grunde genommen in einem Déjà-vu. Das ist alles das, was wir schon einmal gelesen haben. Die Provokation, die Houellebecq im Zusammenhang mit der Sexualität, mit dem Sex überhaupt, von sich gibt, die kommen auch ganz zuverlässig. Ab der dritten, vierten Seite haben wir dann die pédés, also die Schwuchteln, nicht die Homosexuellen, und die Frauen sind eigentlich immer nur Mösen, Muschis oder Pussis, und werden danach beurteilt, in welcher Art und Weise sie mit ihren drei Körperöffnungen dem Gemächte des Helden Befriedigung verschaffen können. Irgendwann genügt ihm das alles nicht mehr.
    Eine Frau lässt ihn sitzen, eine andere betrügt ihn, weil sie mit Tieren Sex treibt, und wieder eine andere, die war vielleicht einmal verliebt, das ist die Möglichkeit des Glücks, von der Houellebecq spricht – ausnahmsweise einmal von der Möglichkeit –, aber eine, die er auch ausgelassen hat, denn er betrug diese Frau wiederum für einen One-Night-Stand mit einer anderen, wurde dabei erwischt und so weiter und so fort.
    Also er ist im Beruf deprimiert, als Agraringenieur, der für Monsanto gearbeitet hat, für das französische Landwirtschaftsministerium, er ist in der Liebe frustriert, aber eigentlich eher aus eigenem Verschulden. Man weiß gar nicht so recht, warum das immer alles gescheitert ist. Das ist der große Unterschied zu den "Elementarteilchen", wo Houellebecq immerhin noch eine Theorie der Liebe hatte, die er verglich mit der Merkantilisierung der Gesellschaft.
    Also Sex war etwas, mit dem man seinen Körper und sich selbst auf dem Markt zur Verfügung stellte und einbrachte. Davon ist jetzt auch gar nicht mehr die Rede. Es ist alles sehr auf diese eine Person zurückgefaltet, und man weiß nicht so recht, warum man jetzt sich ausgerechnet mit diesem einen Versager – so nennt er sich auch selber – so genau befassen soll.
    Beifall von allen Seiten
    Drees: "Die Ausweitung der Kampfzone", danach "Elementarteilchen", das waren Bücher, die hier bereits sehr groß besprochen worden sind. Viel Wirbel ist entstanden um den neuen Roman, in Deutschland wurde er bereits vielfach vor Erscheinen rezensiert und auch ganz allgemein thematisiert, obwohl es selbst am Samstag der vergangenen Woche unmöglich war, ein Exemplar im Buchhandel zu erstehen. Im Internet konnte man vielfach darüber lesen.
    Viele sind jetzt neugierig. Wie ist "Serotonin" denn bislang in der französischen Presse aufgenommen worden?
    Ritte: Geradezu enthusiastisch, und das von ganz rechts, weil auch aktuell über rechts – das ist der "Figaro" –, über die Mitte – "Le Monde" – bis links – das ist dann "Libération" und "Les Inrockuptibles".
    Das ist sehr kurios und müsste eigentlich für jemanden, der ein Berufsprovokateur, wie Houellebecq es ist, doch sehr beunruhigend sein, wenn man den Beifall von allen Seiten bekommt, was ungewöhnlich ist in Frankreich. Mit seinem letzten Buch "Unterwerfung", das für mich zumindest eine sehr starke politische Parabel war, ist Houellebecq in Frankreich noch sehr stark abgestraft worden, weil er sich da in irgendeiner Weise islamkritisch geäußert hat, und das darf man eben nicht in einem bestimmten Kontext, der auf Political Correctness und darauf abhebt, nur ja niemanden zu nahe zu treten.
    Jetzt kommt das Wort Islam überhaupt nicht vor, nicht einmal das Wort kommt vor, und plötzlich ist wieder eitel Sonnenschein, man entdeckt seinen alten Houellebecq wieder, den starken Houellebecq, den ersten Houellebecq aus der "Ausweitung der Kampfzone". Es ist geradezu kurios, wie diese Kollegen aus den Feuilletons, die ja eigentlich doch zu den Integrierten gehören, die Houellebecq so gerne angreift, wie die sich daran ergötzen an der Clownerie eines Menschen, der den Versagerdarsteller macht.
    Also das ist alles bei Houellebecq in diesem Roman zur Pose verkommen. Da ist meines Erachtens überhaupt keine Energie und überhaupt keine Kraft mehr in diesem Roman. Es ist ein Posieren, genauso wie Houellebecq dann ja auch posiert hat für "Paris Match" – spießiger geht es wirklich nicht mehr – oder für das "Figaro"-Magazin – bourgeoiser geht es wirklich nicht mehr – im Hochzeitsanzug mit seiner in Rosa gewandeten neuen, seiner dritten Frau, einer Chinesin, an der Seite.
    Eine gigantische Clownerie
    Drees: Die Hochzeitsbilder – wir müssen, glaube ich, kurz über die Hochzeit reden. Herr Ritte, was war da los?
    Ritte: Er hat das offenbar als Ersatz dafür genommen, dass er sich selber in der Presse nicht zu seinem Buch äußern will, hat aber fleißig Presse zur Hochzeit eingeladen. Im "Figaro"-Magazin war es dann sein Freund Frédéric Beigbeder, den wir auch in Deutschland ganz gut kennen, der sein Trauzeuge ist, der sein Freund ist, und der dann gleichzeitig auch im "Figaro"-Magazin eine natürlich begeisterte Besprechung dieses Buches beschrieben hat. Aber die Fotos sind im Grunde genommen eigentlich nur wahrzunehmen als eine gigantische Clownerie. Da sieht man ihn im grauen Cut, mit geblümtem Hemd und einer Melone auf dem Kopf, und wie gesagt, seine chinesische Frau so, wie man sich das eben vorstellt, wenn man sich chinesische Hochzeitsbilder ansieht, neben ihm. Alles das ist geradezu grotesk, und möglicherweise gehört das auch noch zum System Houellebecq, jetzt damit zu provozieren, dass er sozusagen den Überassimilierten, den Überangepassten an bürgerliche Rituale spielt.
    Drees: Wenn man sich die Houellebecq-Rezeption in Deutschland anschaut, bekommt man schnell den Eindruck, dass die politische Linke ihn unbedingt lieben will, während er in Frankreich selbst als rechtskonservativer Schriftsteller wahrgenommen wird. Wie unterscheiden sich denn die Rezeptionsweisen in Frankreich und hierzulande, und kann man sich das erklären?
    Ritte: In Frankreich ist er als rechtskonservativer Schriftsteller wahrgenommen worden, weil er vor allen Dingen als Provokateur auftrat und einer, der unkontrollierbar ist mit seinen homophoben Äußerungen, mit seinen misogynen Äußerungen, mit seinen islamkritischen Äußerungen.
    All das ist etwas, was aus dem Kontext der politischen Correctness, aus dem Konsens herausfällt und ihn sozusagen auf die rechte Seite geschoben hat, in eine Traditionslinie, die in Frankreich weit zurückreicht ins 19. Jahrhundert und zu der Houellebecq sich in gewisser Weise ja auch literarisch immer bekannt hat. Er hat auch deutsche Wurzeln, wie er selber sagt, Schopenhauer beispielsweise.
    Warum in Deutschland die Linke sich so sehr um ihn bemüht, ich bin sehr gespannt, wie sie jetzt mit diesem neuen Roman umgehen will, darüber kann ich nur spekulieren. Ich vermute, dass hier jemand zu Wort gekommen ist, eine Stimme vernehmbar geworden ist, die wir in Deutschland selten haben, also jemand, der die Welt angeblich von unten her sieht und ein Unwohlsein an Malaise formuliert, das wir anderswo nicht formuliert finden. Ich vermute, es ist das.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.