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"Das Problem ist natürlich, dass Neuwahlen ja überhaupt nichts ändern"

Während Spekulationen um Neuwahlen in Nordrhein-Westfalen ins Kraut schießen, sieht Ernst Gottfried Mahrenholz nicht, wie ein Urnengang die finanziellen Probleme des Landes lösen sollte. Mahrenholz erwartet auch in der endgültigen Entscheidung ein "Nein" zum Haushalt.

19.01.2011
    Gerd Breker: Die Entscheidung des nordrhein-westfälischen Verfassungsgerichts gegen den Nachtragshaushalt der Landesregierung wird nach Darstellung von Landesfinanzminister Walter-Borjans keine unmittelbaren Folgen haben. Es gehe mit der Haushaltspolitik des Landes erst einmal ganz normal weiter. In der Eilentscheidung der Richter sei der Regierung lediglich aufgegeben worden, den Haushaltsabschluss bis zur Hauptverhandlung zu verschieben, und in dieser Zeit bis dahin soll die Regierung keine neuen Kredite aufnehmen. Allerdings sind Union und FDP in Nordrhein-Westfalen seltsame Sieger dieses Eilentscheids, denn die politische Konsequenz, die Forderung nach Neuwahlen, sie ist bislang ausgeblieben.
    Am Telefon bin ich nun verbunden mit Ernst Gottfried Mahrenholz, dem ehemaligen Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts. Guten Tag, Herr Mahrenholz.

    Ernst Gottfried Mahrenholz: Hallo, Herr Breker.

    Breker: Es hat schon viele Haushalte gegeben, die nicht verfassungsgemäß waren. In der Regel wurde das aber immer erst im Nachhinein festgestellt. Diesmal allerdings haben die Richter in Münster mit einer Eilentscheidung die Aufnahme neuer Kredite in dem Nachtragshaushalt untersagt. Das ist besonders, das gab es bislang noch gar nicht!

    Mahrenholz: Nein, das hat es noch nicht gegeben.

    Breker: Die Richter in Münster stoppten in einer für das Land beispiellosen Entscheidung den vorläufigen Vollzug des Gesetzes.

    O-Ton: Ihre Verbindung wird gehalten!

    Breker: Oh! Vielleicht machen wir ein paar Takte Musik und versuchen, die Verbindung zu Ernst Gottfried Mahrenholz wieder herzustellen.

    Einspielung Musik

    Breker: Die Verbindung zu Ernst Gottfried Mahrenholz müsste wieder stehen. – Herr Mahrenholz, wir waren gerade dabei stehen geblieben, dass es bislang noch nie so eine Eilentscheidung gegeben hat. Kann man dieser Eilentscheidung denn entnehmen, wie am Ende das Urteil ausfallen wird, nämlich negativ für diesen Haushalt?

    Mahrenholz: Das kann man nur statistisch beantworten. In der Regel – keine Regel ohne Ausnahmen – war die endgültige Entscheidung wie die einstweilige Anordnung.

    Breker: Das macht man, um zu verhindern, dass Fakten geschaffen werden, bevor das Urteil gefallen ist?

    Mahrenholz: In der Tat, das ist der Hauptpunkt dabei.

    Breker: Diese Blamage für die rot-grüne Landesregierung, ist das wirklich eine? Kann sie einfach so weitermachen, kann sie einfach keinen Handlungsbedarf sehen, oder steckt darin nicht auch schon eine leichte Missachtung des Landesverfassungsgerichts?

    Mahrenholz: Na ja, das Landesverfassungsgericht hat gesagt, was zu tun und was zu lassen ist, vor allen Dingen, was zu lassen ist. Gestern habe ich von der Ministerpräsidentin gehört, sie wird sich danach richten, und jetzt sehe ich eigentlich gar keinen anderen Spielraum für die Regierung, als auf der Kiellinie der Münster'schen einstweiligen Anordnung weiterzufahren.

    Breker: Und sozusagen auf das endgültige Urteil zu warten?

    Mahrenholz: ... , und auf das endgültige Urteil zu warten.

    Breker: Und dann erst zu handeln?

    Mahrenholz: Ja! Anders geht es nicht. Es ist vor allen Dingen: Das eine darf ich vielleicht zu dem Interview, was wir gerade gehört haben, hinzufügen. Das Problem ist natürlich, dass Neuwahlen ja überhaupt nichts ändern. Dies ist ein Finanzproblem eines ohnehin mit Schulden belasteten Landes, wie alle deutschen Länder, und da hat das Gericht gesagt "Stopp!", und zwar im Blick auf die Schulden. Und jetzt ist das einzige Problem, was sie durch Wahlen ja nicht lösen können – dann gibt es ja nicht mehr Schulden, dann gibt es ja bloß rigorose Einsparungsmaßnahmen -, und das Problem jedes deutschen Haushalts, vom Bund bis zu den Ländern, ist die Tatsache, dass jede Einsparung und jedes Sparen irgendwo der Gesellschaft weh tut. Es gibt keine Einsparung mehr, die nicht schmerzt in der Gesellschaft. Das ist unser Hauptproblem in Deutschland, das ist es schon seit etwa 10 Jahren.

    Breker: Es ist eindeutig kein politisches Urteil, sondern es ist ein Urteil, was eben halt die Schuldenpolitik betrifft.

    Mahrenholz: Ja, was die Schuldenpolitik betrifft, was natürlich aber der rot-grünen Regierung an den Nerv geht. Das ist ja keine Frage. Sie haben sich verpflichtet, die Studiengebühren abzuschaffen. Das reißt natürlich ein Loch. Die Verpflichtung ist kulturpolitisch wichtig gewesen, ich halte sie auch für richtig, aber man muss wissen, wann kann man sie durchsetzen, wann erlaubt das die Kassenlage, und da scheint jetzt doch wohl eine gewisse Überlegung innerhalb von Rot-Grün am Platze zu sein.

    Breker: Gut. Rot-Grün wird das Urteil dann abwarten. – Herr Mahrenholz, Nordrhein-Westfalen ist ja eigentlich nur ein Beispiel. Heute trifft sich der Vermittlungsausschuss in Sachen Hartz IV, auch das ein weiteres Beispiel. Da setzt das Bundesverfassungsgericht der Bundesregierung eine Frist, und diese Frist wird schlichtweg ignoriert. Der 1. Januar ist ja schon längst vorbei. Ist das nicht eine Riesenmissachtung des Bundesverfassungsgerichts?

    Mahrenholz: Ich habe darüber nachgedacht. Ich glaube, man muss sagen, dass die Probleme außerordentlich diffizil sind. Das geht ja bis zu dem Wintermantel, bis zur Konfirmation. Es geht ja nicht nur um 5 Euro mehr oder 20 Euro mehr. Ich glaube, dass wir hier – und das machen ja die Verhandlungen ganz deutlich -, die Sozialdemokratie verlangt ja gar nicht von vornherein eine andere Berechnungsgrundlage, die zu einem sehr viel höheren Einkommen der Hartz IV-Empfänger führen würde, sondern sie sind zurzeit damit beschäftigt, die gröbsten Ungerechtigkeiten im Einzelfall zu beseitigen innerhalb der Verhandlungen, aber das ist genau das Problem. Die Frau von der Leyen will den Haushalt nicht stärker belasten und damit tut sie der Gesellschaft, vor allen Dingen der unterprivilegierten Gesellschaft enorm weh. Es gibt heute kein Geldproblem mehr, wo es nicht weh tut, und die Linken haben natürlich das Gefühl, das sind grobe Ungerechtigkeiten, die müssen sie beseitigen, aber es geht dann auf Kosten der Schulden.

    Breker: Aber das Verfassungsgericht hat ja eine Frist gesetzt und das Urteil stammt aus Anfang des Jahres. Es gab ja eigentlich genug Zeit.

    Mahrenholz: Ja, aus dem Februar.

    Breker: Und als die Sozialministerin von der Leyen ihre Reform von Hartz IV vorgestellt hat, da war ja schon klar, dass im Bundesrat eine andere Mehrheit war.

    Mahrenholz: Ja, das schon, aber sie kann ja doch nicht die Regierungsvorlage erst nach Absprache mit der anderen Mehrheit vorlegen. Ob Frau von der Leyen sich zu viel Zeit gelassen hat, das lasse ich mal dahingestellt. Kann sein, dass sie gehofft hatte, dadurch, dass die Haushaltszwänge so eindeutig sind, um so leichter die Sache durchzukriegen. Das weiß ich nicht. Rechtsfaktisch ist es so, dass, glaube ich, noch kein gesetzliches Vorhaben so weit geht im Detail wie diese neue Novelle zu Hartz IV. Ich meine, ob Frau von der Leyen ausgerechnet den Musikunterricht da mit hineinnehmen musste oder nicht, darüber kann man sich streiten, aber insgesamt, auch abgesehen von diesen Einzelheiten, es ist eine Materie, die sich nicht mehr im Groben erschließt durch politische Richtlinien, sondern nur noch im Feinen und wo bei jedem Detail Rücksicht darauf genommen werden muss, wie vielen Leuten tue ich weh.

    Breker: Das heißt, aus Ihrer Sicht, Herr Mahrenholz, hat das Bundesverfassungsgericht diese Frist, 1. Januar 2011, gesetzt, damit Eile angesagt ist, damit sich die Politik beeilt?

    Mahrenholz: Das ist ganz sicher so. Aber ich wage auf der anderen Seite, obwohl ich nun selbst im Verfassungsgericht war und das ist auch mein alter Senat, die Frage, ob das Gericht nicht die Schwierigkeiten unterschätzt hat. Sie hat sonst längere Fristen gesetzt. Beim Wahlrecht waren es über zwei Jahre, und das Wahlrecht ist weitaus weniger kompliziert als eine Hartz IV-Gesetzgebung. Also ich glaube, wenn wir derartig intensiv die Einzelfallgerechtigkeit bei den unterprivilegierten Menschen durchsetzen wollen, müssen wir uns auf längere Beratungsfristen einrichten.

    Breker: Das heißt, wenn die Neuregelung wieder vor dem Gericht landet, dann kann das einfach alles dauern?

    Mahrenholz: Ich hoffe, dass das nicht der Fall ist. Ich hoffe, dass auch Frau von der Leyen, die sich ja gerne aufs Gericht beruft, obwohl nicht immer korrekt, genau weiß, wenn man zu viel die Dinge einengt, dass man dann wieder beim Gericht landet, und das muss aber auf der anderen Seite auch die SPD und die Grünen berücksichtigen. Das Gericht hat gesagt, wir wollen völlige Plausibilität, und das ist der Punkt, wo Frau von der Leyen natürlich recht hat, darauf sich zu berufen. Wir wollen volle Plausibilität und nicht unbedingt die Vermehrung der Zuschüsse, die Vermehrung der Gelder. Das war nicht das Problem. Das Gericht wollte durchblicken, und das ist natürlich eine Sache, die sehr vernünftig war. Das durchblicken können ist die Hauptgeschichte bei solchen Dingen, die sich in Einzelheiten allzu oft verlieren.

    Breker: Im Deutschlandfunk war das die Meinung des ehemaligen Verfassungsrichters Ernst Gottfried Mahrenholz. Danke für dieses Gespräch.

    Mahrenholz: Bitte.

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