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Das Rätsel Kindheit

Ein Kind großzuziehen, mag für einen Menschen persönlich eine aufregende Erfahrung sein. Doch längst nicht jeder stolze Vater und längst nicht jede stolze Mutter ist in der Lage, so über die eigene Elternschaft zu erzählen, dass diese auch für Unbeteiligte interessant ist. Das gilt umso mehr für die Literatur.

Von Gisa Funk | 22.05.2009
    Spätestens seit in den letzten zwei Jahren Bücher sogenannter neuer Väter zum Trendgenre aufgestiegen sind, die leider oft genug in die pathetische Lobhudelei auf die eigene Fortpflanzungsfähigkeit abglitten, weiß man, dass kaum etwas so sehr zum Kitsch verführt wie privates Familienglück. Um genau dieser Gefahr eines fehlenden Abstands von vorneherein zu entgehen, nimmt David Wagner in seinem neuen Buch über die eigene Vaterschaft ganz bewusst den Standpunkt eines staunenden, aber nicht wertenden Beobachters ein, der weniger sein Kind speziell als das Phänomen Kindheit generell im Blick hat:

    "Es geht eigentlich mehr um das Kindsein an sich. Ich dachte eigentlich so, dass die Kindheit an sich spricht. Das ist ja eben auch das Kind in mir oder in uns allen, was da eigentlich sprechen soll. Indem das Kind da ist, führt es einem eigentlich die eigene Kindheit wieder vor. Man erkennt sich dann wieder. Oder in der Beschäftigung mit dem Kind oder in dem Zusammensein kommt einem eben die Erinnerung an die eigene Kindheit. So ging es mir wenigstens."

    Ich werde jeden Tag älter, sagt das Kind und erinnert mich daran, wie unvorstellbar es mir schien, eines Tages erwachsen zu sein. Ich konnte nicht glauben, dass Zeit verging. (...) Zu wachsen hieß größer, endlich älter zu werden. In die Schule zu kommen, zehn Jahre alt, endlich zwölf zu sein, (...) endlich vierzehn, fünfzehn, sechzehn, achtzehn zu sein. Dann hört es auf. (...) Ich war lange der Überzeugung, ich sei nicht erwachsen geworden. Zumindest wusste ich nicht oder hätte nicht sagen können, woran ich mein Erwachsensein hätte bemerken sollen. Worin bestand es? Darin, dass ich nicht mehr bei meinem Eltern wohnte? Mit einer Frau zusammenlebte? Regelmäßig Sex, ein Auto, Arbeit hatte? Alles das tun und lassen konnte, wovon ich als Kind geträumt hatte? (...) Ohne nur allzu genau darüber nachdenken zu wollen: ich bin mir immer wie ein großes Kind vorgekommen.

    Es ist ein forschender Entdeckerblick und ein melancholisch-poetischer Tonfall, der in Wagners schmalem Skizzenbuch über das Kind-Haben und Kind-Sein regiert. Wie die allermeisten Väter und Mütter macht auch sein Ich-Erzähler die elterntypische Erfahrung, dass das eigene Kind - in Wagners Fall eine Tochter - einen unwillkürlich an die eigene Kindheit zurückerinnert. Beim Berliner Schriftsteller, Jahrgang 1971, erschöpft sich diese Erinnerung an ein Aufwachsen im bundesrepublikanischen Rheinland der 70er-Jahre allerdings nicht im wehmütigen Rückblick. Die Wiederentdeckung der eigenen Vergangenheit wird für Wagner vielmehr zum Auslöser, sich noch mal die großen existenziellen Fragen zu stellen. Die Fragen nach dem wer bin ich, wo komme ich her und wann bin ich eigentlich plötzlich kein Kind mehr gewesen.

    "Das ist ja das Sonderbare oder das Wunderbare dann auch, dass man sich eben plötzlich in so einer Linie sieht. Man ist eben nicht mehr das Kind, das der Endpunkt ist von irgendwas, sondern ist plötzlich eingereiht, ja - und das ist eigentlich die Frage, die man sich irgendwann stellt: Bin ich erwachsen oder wann bin ich erwachsen geworden? Aber die Antwort, die ich mir selber gebe, ist eigentlich: Kind bleiben wir immer. Wir bleiben immer das Kind unserer Eltern. Und deswegen: Spricht das Kind, da sprechen eben ganz verschiedene Kinder. Also, das Rätsel mit dem Erwachsenwerden, das habe ich eigentlich nicht lösen können, ja." (Lachen)

    In Berlin wohnt David Wagner im Bezirk Prenzlauer Berg, seit Jahren Deutschlands Stadtviertel mit der höchsten Geburtenrate. Das gab ihm viel Gelegenheit zur Kinder- und Elternbeobachtung. Einige solcher, mitunter durchaus süffisanter Beobachtungen sind nun in sein Buch eingeflossen, ohne das Geheimnis der Kindheit jedoch natürlich ganz lüften zu können. Denn wie schon für die Romantiker bedeutet Kindsein auch für David Wagner mehr als nur eine Altersangabe oder eine gesellschaftliche Zuschreibung. Nämlich auch und vor allem: einen spezifischen Seelenzustand, der Erwachsenen im Laufe der Zeit fast unmerklich abhanden kommt - und später nur noch sehr schwer wiederzuerlangen ist. Vieles, was Wagners Ich-Erzähler an seinem oder anderen Kindern im Buch bemerkt, kommt ihm höchst rätselhaft vor. Und wie der Erzähler ist der Leser ebenfalls immer wieder verblüfft über typische Kinder-Missverständnisse. Etwa dort, wo erzählt wird, dass das Kind abfahrende Straßenbahnen wie fortgehende Menschen verabschiedet. Oder dort, wo das Kind Tomaten querbeet im Kühlschrank verteilt, weil das optisch so schöne rote Punkte ergibt. Oder auch dort, wo es seine Hausschuhe erst dann anzieht, als der Vater diese "Pantoffeln" nennt, weil das einfacher schöner klingt:

    Die Hausschuhe ziehe ich nicht an, sagt das Kind. Dann zieh die Pantoffeln an. - Okay, ja, okay. Der Name einer Sache entscheidet über die Eigenschaften einer Sache. Hausschuhe kratzen, Pantoffeln aber kuscheln sich ganz weich an die Füße.

    "Das Interessanteste war für mich die Sprachfindung des Kindes. Die dann beobachten zu können und dabei zu sein. Das ist eben ganz erstaunlich dabei, wie das Kind Bilder findet. Dass es eben plötzlich sagt: Auf dem Sofa liegt ein Ravioli! Und man denkt: Wieso? Wieso liegt da ein Ravioli? Da liegt doch ein Kissen. Aber dann schaut man sich das Kissen an und sieht, dass das eigentlich so aussieht wie eine große Ravioli mit dem Rand. Und das war so ein Moment, wo ich dann dachte: Ah ja, eigentlich ... Das Kind hat so eine ganz eigene Sprachintelligenz. Für das Kind ist die Welt noch im Stand der Ähnlichkeit. Der Erwachsene hat sich dem eigentlich entzogen, der sieht das nicht mehr, aber das Kind kann das noch sehen. Und sieht die Ähnlichkeit zwischen Dingen, die wir verloren haben. Und das ist so ein gewisser Zauber, der aus dem Kindermund dann spricht, der wie das Sprichwort sagt, eben Wahrheit kund tut."

    Wie schon in seinem Debütroman "Die nachtblaue Hose" und im nachfolgenden Erzählungsband "Was alles fehlt", die inhaltlich ganz andere Themen behandelten, spielt erneut in Wagners Vaterbuch "Spricht das Kind" das Gefühl eines schleichenden Verlusts, den man noch nicht einmal richtig benennen kann, die eigentliche Hauptrolle. Die Kindheit steht hier für etwas, was man irgendwann verloren hat, ohne überhaupt zu wissen, was genau das eigentlich war. Wagners Miniaturen aus dem scheinbar unspektakulären Vateralltag könnte man insofern als Suchbewegung beschreiben, die das Phänomen von mehreren Seiten umkreist, ohne es doch je ganz fassen zu können. Was bleibt, sind mehr Fragen als Antworten zum letztlich nie ganz erklärbaren Prozess der menschlichen Persönlichkeitsentwicklung, die einen auch als Nicht-Elternteil nachdenklich machen können. Und es bleibt - hinter den vordergründig lapidaren Formulierungen - der betörende Klang einer alten Sehnsucht zurück. Jener Sehnsucht nach einer radikal anderen Sicht auf die Welt, die das vorherrschende Effizienz-Denken heutiger Erwachsener grundsätzlich in Frage stellt:

    "Das war schon wie ein Wiederaufwachen in einem anderen, früheren Stadium. Und ich habe mich irgendwann dagegen entschieden, das episch schlüssig zusammen zu bauen, weil das erschien mir irgendwann gar nicht nötig. Weil Kindsein oder Kindheit, Kind-Haben, ich meine, das ist ein sehr riesiges Thema, und anders als in diesen kurzen Beleuchtungen lässt sich das eigentlich nicht anders abhandeln. Den totalen Roman einer Kindheit konnte ich oder wollte ich jetzt nicht schreiben."

    David Wagner: "Spricht das Kind"
    (Literaturverlag Droschl)