Dienstag, 19. März 2024

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Das Religionsverständnis von Paul Tillich

Die Religion begreift Paul Tillich als ein Symbol, das Unbedingte kann sich überall für den Menschen ereignen. Und Rudolf Bultmann möchte die Religion entmythologisieren - ein Gespräch mit dem Theologieprofessor Matthias Kroeger über zwei wichtige Vertreter des liberalen Protestantismus.

Matthias Kroeger im Gespräch mit Rüdiger Achenbach | 04.03.2013
    Rüdiger Achenbach: Herr Kroeger, wie entwickelt sich der liberale Protestantismus dann Anfang des 20. Jahrhunderts in das neue Jahrhundert hinein?

    Matthias Kroeger: Das von heute aus besonders Beachtenswerte ist, dass damals ein Mann hat angefangen zu arbeiten und zu denken, der heute zu den Großfiguren des 20. Jahrhunderts gehört. Der heißt Paul Tillich. Ich gebe das an einem zentralen Aufsatz oder Gedanken, den er früh gehabt hat – in den 20er-Jahren. Die Überschrift heißt "Theologie der Kultur". Was er darin sagt, ist dies: Die Erfahrung des Heiligen oder das Unbedingten oder des Religiösen kann man nicht auf ein spezielles Segment beschränken, entweder Religion ist ethisch oder ästhetisch oder was immer. Sondern Religion ist ein Inbegriff, ein Element und eine Komponente jedes Wirklichkeitsbereiches. Dafür hat Tillich einen eigenen Ausdruck damals ins Spiel gebracht. Nämlich, das Religiöse, das gültige Religiöse ist die Erfahrung des Unbedingten. Das Unbedingte, dass einen etwas total ergreifen kann und einen aus der Neutralität seiner Lebensgeschichte herauszieht. Das Unbedingte, das ist etwas, was in jedem menschlichen Lebensgebiet auftauchen kann. Zum Beispiel: Es gibt eine berühmte Schilderung. Bei einer Gesellschaft in den 20er-Jahren in Frankfurt wird Tillich auf einer Abendgesellschaft vermisst. Wo ist er? Er steht draußen völlig versunken im Garten einer Mainacht und bestaunt die frischen Frühlingsblüten der Blumen und sagt, ist das nicht eine Offenbarung des Göttlichen und Unbedingten. Da muss man gar nicht eine Bibel ergreifen oder ein Gesangbuch haben, sondern man muss nur den Blick haben, um in jeder Art, ein künstlerisches Bild – sagen wir mal der Turm der blauen Pferde von Franz Marc – oder ein Gedicht, alles kann zum Ort werden, an dem das Unbedingte erfahren wird.

    Achenbach: Und hier schafft er die Verbindung mit der Theologie durch seine sogenannte Methode der Korrelation.

    Kroeger: Korrelation, oder auch könnte man sagen mit dem Symbolbegriff. Das kommt auf dasselbe heraus, nämlich: In dem ich immer das, was ich gerade sehe, in Beziehung setze zu einem religiösen Thema oder Text. Du kannst überall ergriffen werden. Und das ist Religion. Damit ergreift er gleichzeitig etwas, was bei Schleiermacher auch schon da ist: Wenn du begreifen willst, was mit Gott gemeint ist, dann vergiss alles, was du darüber gehört hast, sagte er einmal in einer der religiösen Reden, sondern guck nur auf das, wo dich etwas unbedingt gepackt hat und angegangen ist. Dann weißt du, was das Göttliche ist. Das ist das, was dich anspricht und packt und aus deiner Neutralität herauszieht. Das heißt, Tillich erschließt eine weltweite Ermöglichung der Gotteserfahrung. Wo du bist, kannst du, wenn du dich aussetzt mit deinem Herzen oder Gewissen oder mit deiner Vernunft oder deinem Gefühl, mit allen Instrumenten, kannst du das Unbedingte gewahr werden, was überall ist. Das ist eine ungeheure Erleichterung, Erweiterung der Blickweise und Erfahrung von Theologie.

    Achenbach: Wenn man dieses Verständnis von Religion, diese Unbedingte, was dich unbedingt angeht, wenn man dieses überall erfahren kann, dann muss man sich natürlich überlegen, wie diese Erfahrung, die man dann macht, in Verbindung mit der Theologie gebracht werden kann.

    Kroeger: Eben. Die Theologie, sagt Tillich, sollte nicht in der ständigen Wiederholung ihrer alten Kategorien liegen. Auch der Gottesbegriff nicht. Der kann völlig unreligiös sein. Aber in dem Maße, in dem wir bereit sind, in allem die religiöse Erfahrung des Unbedingten zu sehen, kann auch jeder religiöse Begriff auf das hin abgetastet werden, was er an religiöser Erfahrung und Erkenntnis in sich beherbergt. Denn alle religiösen Begriffe gehen irgendwo auf Erfahrungen zurück und sie haben abgelagerte Erfahrungen. Da gibt es entweder die Möglichkeit der Methode der Korrelation, wie eben schon gesagt. Dann wird eine Beziehung hergestellt zwischen biblischen Texten und den gemeinten Erfahrungen. Es kann aber auch mit einem anderen Begriff sein. Da, wo religiöse Begriffe sich verabsolutieren und zu toten Begriffsgötzen werden, da, lehrt Tillich, und sagt, überlege mal, ob du nicht weiterkommst, wenn du begreifst, dass jeder religiöse Begriff – der Gottesbegriff, der Christusbegriff, die Sünde, das Heil – wenn alles dies nur Symbole für eine größere gemeinte Wirklichkeit sind.

    Achenbach: Die dahinter steht.

    Kroeger: Die dahinter steckt und die mit dem Symbolbegriff erweckt werden kann. Wenn du sagst, gibt es einen Gott, dann bist du sofort in der falschen Frage drin. Wenn du aber sagst, Gott ist ein Symbol, ja ein Symbol für was? Nämlich für das Größere, was dich ergreift. Und du entscheidest, wie du es verwenden und anwenden und auffassen möchtest.

    Achenbach: Aber er versucht an dieser Stelle ja möglichst den Gottesbegriff auch immer wieder zu vermeiden und durch etwas andere zu ersetzen, durch das Sein selbst und Ähnliches.

    Kroeger: Richtig, weil der Gottesbegriff eine Totschlagformel sein kann. Er sagt, lass dich auf Erfahrungen ein, dann werden alle diese Begriffe aufwachen und ihre Relevanz herzeigen. Tillich ist nicht ohne Grund ein Mensch, der immer der Meinung war, er sei gleichzeitig beides: Theologe und Philosoph. Er hat angefangen mit einer Schelling-Promotion und zwar einer theologischen und einer philosophischen, zwei Promotionen. Er war immer jemand, der sich auf der Grenze fühlte. Er sagte, du kannst die theologischen Begriffe alle als Symbole auffassen für einen theologischen Sachverhalt oder für einen existenziellen Sachverhalt. Jeden Begriff – zum Beispiel Sünde – bringt Tillich im Zusammenhang mit dem marxistischen Begriff der Entfremdung. Wir leben alle unter Umständen, die mächtiger sind als wir. Entfremdung im Kapitalismus umgibt uns. Wir haben Lebensverhältnisse, die nicht sind, wie sie sein sollten. Aber wir haben die Aufgabe, diese mit der Hilfe Gottes und Jesu zu durchbrechen, diese Entfremdung. Was heißt das dann? Und dann wachen diese Begriffe auf einmal für ganz aktuelle Existenzbegriffe auf, oder religiös gesprochen für Symbolbegriffe.

    Achenbach: Das heißt, religiöse Symbole decken so etwas wie eine verborgene Wirklichkeitsschicht auf.

    Kroeger: So, wie ich vorhin sagte, in der Theologie der Kultur jedes Bild, jedes Wasser, jeder Tanz, jedes Gedicht, jeder blühende Mai-Busch kann zur Offenbarung des Geheimnisses der Welt und des Unbedingten werden, was dich packt. Überall. So auch die Begriffe. Sie sind Erinnerungen an das, was unbedingt sein soll und kann und an die Facetten unserer Erfahrung. Aber das ist singulär, was er an Erschließungskraft, in dem er Menschen ihre eigene Lebendigkeit und Religiosität erlaubt und zumutet, eröffnet.

    Achenbach: Versuchen wir diesen Symbolbegriff mal festzumachen an einer ganz konkreten Sache, zum Beispiel an dem Christusbegriff. Das würde ja bedeuten, wenn wir nachvollziehen wollen, wie ist dieses Symbol entstanden – es muss ja irgendwo herkommen, dann würde man sagen, dass die Urgemeinde, also das frühe Christentum, diesen Begriff aus dem Judentum übernommen hat. Das heißt also, der Begriff ist da als Messias-Begriff, wird dann zum Christus-Symbol. Und dieses Christus-Symbol geht dann in die christliche Lehre ein. Das heißt, die Religion, auch das Christentum, greift auch immer auf Symbole der Umwelt zurück.

    Kroeger: Absolut. Für den Begriff Christus bedeutet das, wir wissen genau, was damit gemeint ist, nämlich – da ist ein Mensch, der die Kraft hat oder repräsentiert, die Verschlossenheit, unter der wir leben, aufzubrechen, wieder neue Öffnungen zu ermöglichen. Das ist das Historische. Wenn Tillich sagt, was bedeutet das heute, dann führt er selbst einen Begriff an dieser Stelle ein und sagt: Jesus ist der Inbegriff des neuen Seins. Er ist die Möglichkeit, aus dem alten reduzierten, gebrochenen Sein auszubrechen, ...

    Achenbach: Der Entfremdung ...

    Kroeger: ... der Entfremdung, auszubrechen und wieder zu unserer eigentlich gemeinten Schöpferlichkeit zu kommen.

    Achenbach: In die Nähe des Seins selbst.

    Kroeger: Richtig.

    Achenbach: Nun gibt es bei Tillich an mehreren Stellen die Warnung davor, dass ein Symbol buchstäblich und wörtlich genommen wird. Das heißt also, er sagt, ein Symbol, das wörtlich genommen wird, verliert seine Kraft.

    Kroeger: Weil es dann schon vergegenständlicht ist. Das Symbol hat den Vorteil, also zum Beispiel, wenn ich Gott als Symbol begreife, das Wort "Gott" als ein Symbol, dann weiß ich, es ist ein Wort, welches auf etwas anspielt, was ich mit einem begrifflichen definitorischen Denken nicht erreichen kann. Gott ist nicht definierbar. Aber wir wissen alle, was mit dem Symbol "Gott" gemeint ist, nämlich was größer ist als alle Vernunft oder, wenn man den 1. Johannesbrief zitieren will, "größer denn unser Herz" ist. Das begreift jeder, ohne es genau definieren zu wollen. Willst du es aber definieren, machst du es tot und kaputt.

    Achenbach: Das heißt doch auch für Tillich, Religion kommt ohne die Sprache der Symbole gar nicht aus. Wir müssen sie nur verständlich machen.

    Kroeger: Sie kommt ohne die Sprache nicht aus – im Wissen, dass Symbole, zum Teil auch Begriffe, die eigentlich lebendig gemeint sind, tödlich sein können. Am stärksten paradox formuliert hat Tillich das darin, dass er sagt, jeder Mensch hat die Möglichkeit des Unbedingten in sich. Gleichzeitig sagt Tillich, mit dem Religionsbegriff ist schon viel Schindluder getrieben worden, dass der Religionsbegriff, den wir gerade lebendig erhalten wollen, eigentlich überwunden werden muss. Denn der Religionsbegriff schildert und beherbergt alles das, wovon man glaubt, es ist das und es ist das und es ist das. Es definiert viel zu sehr und dadurch macht es den Begriff tot.