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Das Risiko schwimmt mit

700.000 Menschen leiden in Deutschland unter Epilepsie, einer von ihnen ist Jérôme Becher aus Köln. Er lebt mit einem Risiko, doch es geht ihm gut – dank des Sports. Becher hat in Ausdauerdisziplinen Selbstvertrauen und Körperwerte verbessert. Seit drei Jahren ist er als Botschafter aktiv, um Klischees über Epilepsie aufzubrechen. Diese Aufgabe führt ihn demnächst nach Kenia.

Von Ronny Blaschke | 30.10.2010
    Der Klang des Körpers, Jérôme Becher kennt ihn genau. Ob Herzrasen oder Kribbeln im rechten Finger – er nimmt die Signale ernst, denn er weiß, was sich daraus entwickeln kann. Im Alter von zehn Jahren hatte Becher seinen ersten heftigen Krampfanfall, einen so genannten Grand mal. Seitdem weiß er, dass er unter Epilepsie leidet. Bis heute folgten vier weitere Anfälle, der letzte im Jahr 2000. Nach seinem Abitur:

    "Das heißt, alle Muskeln zucken. Meine Mutter meinte, dass ist wie ein sterbendes Tier, das hat nichts mit Menschlichem zu tun. Und da fängt bei mir der rechte Arm an, der rechte Kopf, die Mimik. Und ab dem Moment schlägt sich der Körper selber bewusstlos, weil ich strauchele, komme auf den Boden und sobald der Kopf betroffen ist, ist das Bewusstsein auch nicht mehr."

    Jérôme Becher ist 31, er blickt aus freundlichen Augen. Ein sportlicher Typ, smart und eloquent. Er ist Physiotherapeut, sein Arbeitsplatz: eine Praxis im Norden von Köln.

    Rückblende: Nach seinem ersten Anfall erhält Jérôme Becher von seinem Neurologen ein Verbot, Sport in der Schule und im Verein ist fortan Tabu. Becher setzt sich darüber hinweg. Er schwimmt, läuft, fährt mit dem Rad. Mit 12 Jahren bestreitet er seine ersten Wettkämpfe, bald darauf gewinnt er Medaillen, im Schwimmen und Triathlon. Er dringt an die Leistungsspitze vor, trainiert bis zu 28 Stunden in der Woche. Sport wird zu einem Schutzschild, denn es geht ihm besser und besser.

    "Der Sport bringt mir eigentlich das Selbstbewusstsein, dass ich mir selber sagen kann: ich bin genauso wie alle anderen. Und dieses Selbstbewusstsein fehlt vielen Leuten mit Epilepsie, weil es ist natürlich ein Makel, was man mit sich rumträgt, aber nicht offen. Und diese Angst bringt viele Leute dazu, sich ins Schneckenhaus zu bringen und nicht mehr rauszukommen."

    Mit kraftvollen Zügen krault Jérôme Becher durch das Becken einer Kölner Schwimmhalle. Er trainiert auch in offenen Gewässern, in Flüssen oder im Meer, ohne das Ufer im Blick zu haben. Würde er sich hier in epileptischen Krämpfen winden, jede Hilfe käme zu spät.

    Doch Becher tastet sich gern in Extreme vor. 2003 stellt er in einem Schwimmbad in der Kleinstadt Rheinbach einen Europarekord auf. Er schwimmt mehr als 22 Stunden ohne Pause, beobachtet von einem Arzt, als Nahrung dient Kartoffelstärke. Becher legt in dieser Zeit eine Strecke von 80 Kilometern zurück, das entspricht 3600 Bahnen.

    "Es ist wirklich unglaublich, weil man hat eine Sache geschafft, über die man sich vorher nie Gedanken gemacht hat, dass es irgendwie in die Möglichkeit des Menschen oder meines Körpers kommen könnte und das ist so, als hätte man wirklich die Welt in den Händen. Das ist schon sehr, sehr, sehr, sehr cool."

    Ohne Epilepsie wäre Jérôme Becher vermutlich nie so weit gegangen, mit seinen Leistungen will er auch provozieren und zum Nachdenken anregen. Der Neurologe, der ihm damals Sport verboten hatte, hat seine Meinung geändert. Inzwischen empfiehlt auch er Epilepsie-Patienten körperliche Betätigung.

    Der Köln Marathon, Anfang Oktober. Becher kommt an einem Stehtisch mit Teilnehmern und Passanten ins Gespräch. Seit drei Jahren ist er als Botschafter unterwegs, er möchte Vorurteile über Epilepsie widerlegen. Er hält Vorträge in Krankenhäusern, nimmt an Diskussionen in Reha-Zentren teil oder spricht zu Studenten der Sporthochschule Köln.

    Die Botschafter-Rolle wird Jérôme Becher Mitte November nach Kenia führen. Auf 2000 Meter Höhe wird er im Norden des Landes an einem Friedenslauf teilnehmen, ins Leben gerufen von der kenianischen Langstreckenläuferin Tegla Loroupe.

    "Die Epilepsie hat dort einen sehr viel gravierenden Stellenwert. 2009 gab’s noch eine Hexenverbrennung. Die haben ein ganzes Dorf niedergebrannt, inklusive Einwohner, weil es eine Hand voll Epilepsie-Patienten dort gab."

    Jérôme Becher ist ein selbstbewusster Typ, nie um einen Spruch verlegen. Doch manchmal entgleitet auch ihm die Gelassenheit. Seit zehn Jahren hatte er keinen epileptischen Anfall mehr, seit zehn Jahren hat er sich nicht mehr bewusstlos geschlagen. Ob es dabei bleiben wird?

    "Letzten Monat habe ich von einer Freundin erfahren, die hatte 13 Jahre keinen Anfall mehr gehabt und hat jetzt wieder drei große Anfälle gehabt. Das bringt einen richtig weit nach hinten, obwohl es selber einen nicht betrifft. Da habe ich einen Tag gebraucht, um zu schlucken, man ist aus der Gefahrenzone nicht raus. Egal was ich mache, ob ich morgens aufstehe, zur Arbeit gehe, ob ich Urlaub habe, ich denke immer drüber nach, gar keine Frage, weil es könnte jeden Tag passieren."

    Der Klang des Körpers, Jérôme Becher kennt ihn genau. Er lebt mit einem Risiko, doch es geht ihm gut. Seit 2001 muss er keine Medikamente mehr nehmen, seitdem muss er seinen Körper nicht mehr chemisch belasten – als Ausgleich hat er schließlich den Sport.