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Das Salz der Welt

Das Salz bezeichnete Claude Lévi-Strauss einst als "freundliches Geschenk, das die Natur der Kultur macht". Der Autor Thomas Strässle hat eine Literaturgeschichte des Salzes vorgelegt, die das Vorkommen des Geschmacksstoffs von der frühesten Literatur bis in die Gegenwart analysiert.

Von Christoph Bartmann | 05.07.2010
    Salz ist überall. Oder um es wissenschaftlich korrekter auszudrücken: Salze sind überall, nämlich jene chemischen Verbindungen, die aus positiv und negativ geladenen Ionen, aus Kationen und Anionen aufgebaut sind. Wer statt von "Salzen" vom "Salz" spricht, meint üblicherweise Natriumchlorid (NaCl), also Speise- oder Kochsalz. "Ohne Salz kein Leben", schreibt Thomas Strässle in seiner groß angelegten Studie über das Salz in der Literatur und gibt ein treffendes Beispiel für die biologische Unerlässlichkeit des Salzes: "Wenn jemand am Tropf hängt', nach einem Unfall oder während bzw. nach einer Operation: Kochsalzlösung dient als Blutersatz."

    Claude Lévi-Strauss, der große Anthropologe, hat das Salz als ein
    "freundliches Geschenk" bezeichnet, "das die Natur der Kultur macht". Und die Dichterin Ricarda Huch merkt an: "Der Mensch kann, das wissen wir, ohne Salz nicht leben; aber ein Gericht aus purem Salz wäre uns tödlich."

    Beim Salz ist alles eine Frage der Dosierung. Kein Mensch und keine Kultur würden ein versalzenes Gericht als schmackhaft bezeichnen; dagegen steht das Ungesalzene oder Ungesäuerte in manchen Kulturen hoch im Kurs, sei es aus Gründen des religiösen Rituals wie im Judentum, sei es im Sinne einer Lebenslehre des mittleren, "faden" Geschmacks wie im alten China.

    Man sieht an diesen wenigen Beispielen, dass eine Kulturgeschichte des Salzes kaum zu schreiben ist, weil das Salz unsere Kultur ist und sich kaum als ein Gegenstand unter Anderen betrachten lässt. Der Schweizer Literaturwissenschaftler Thomas Strässle hat sich dennoch vorgenommen, wenn schon keine Kultur-, so doch eine Literaturgeschichte des Salzes zu schreiben, die das textuelle Vorkommen des Salzes von der frühesten Literatur bis in die Gegenwart belegt und analysiert. Herausgekommen ist eine unerhört gründliche und in jedem Sinn erschöpfende Arbeit, die buchstäblich keine Salzkrume unbeachtet lässt. Weil das Salz nicht nur Substanz ist, sondern ebenso auch Medium, Währung oder Gabe, weist jede Sichtung der Salzbestände in der Literatur unweigerlich hinaus in eine Linguistik, eine Ökonomie und eine Liturgie des Salzes.

    Das Salz ist eben nicht nur dazu da, zu schmecken, es bedeutet, es tauscht, es weiht und es scheidet. Das Salz unterliegt, darin anderen kulturellen Ur-Substanzen wie Brot und Wein vergleichbar, einer "symbolischen Ordnung", die ihm die verschiedensten Funktionen und, wie Strässle sagt, "Semantiken" zuweist. Man kann vom Salz, sagt der Autor, nur adäquat sprechen, wenn man sich an seine kristalline Struktur hält und ihr folgend verschiedene "Kristallisationspunkte" des Salzes identifiziert. Nach Strässle sind dies fünf an der Zahl: Natur, Glaube, Sprache, Körper, Beziehung. Und wo bleibt das sprichwörtliche "Salz in der Suppe"? Es spielt, wie man sich denken kann, in mehr als einer Beziehung eine Rolle: es gehört einer Rhetorik vom Salz an, es bezieht sich auf die körperliche Wirkung des Salzes ebenso wie auf seine soziale Funktion bei Tisch.

    Strässles Buch liefert den enzyklopädischen Nachweis des Salzes in allen unseren Wissensordnungen, freilich nur, um am Ende zu bestätigen, was wir schon am Anfang ahnten: das Salz ist überall.

    Die Denker der Antike und der frühen Neuzeit, vor allem die Vertreter der Naturphilosophie und der Alchemie, haben dem Salz, diesseits oder jenseits seiner Funktion als "Lebensmittel", die Rolle eines Erkenntnismittels eingeräumt. "Haliographen", also Salzschreiber, nennt Strässle diese Salzphilosophen von Plinius dem Älteren über Paracelsus bis zu Lichtenberg und Lavater, die vom Salz sich Aufschlüsse über die Gesetzmäßigkeiten der Natur insgesamt versprechen, die dem Salz ein Geschlecht, ein Gesicht oder eine Geometrie zuordnen.

    Das Salz wird hier, weit vor der modernen Mineralogie, vermessen, ja kartografiert. Deutlich spielen solche Praktiken hinein in die "religiösen Semantiken des Salzes"; seit der Antike erfüllt das Salz in Glauben wie Aberglauben die verschiedensten Träger- wie Botenfunktionen, es steht für den Bund der Gläubigen wie für die göttliche Gnade, es verkörpert als würziges Salz den menschlichen "esprit" und als verdorbenes Salz die Torheit.

    Das Salz kann für die Rechtgläubigkeit stehen wie für den Zweifel , es kann uns als Salzsäule ein mahnendes Zeichen sein und als "Salz in uns" seit dem Evangelisten Markus ein Symbol der Auserwähltheit. Außerhalb der christlichen Dogmatik überwiegen indes die Poetiken und Rhetoriken, die dem Salz eine subversive oder wenigstens kritische Funktion zusprechen. Wer "gesalzen" reden kann, so sehen es die römischen Rhetoriklehren, der erreicht seine Hörer, weil er auf Schärfe, Würze und Pointiertheit setzt.

    Das Salz ist das Gewürz der Polemik, der Groteske und der Komik. Jean Paul, einer der größten literarischen Humoristen deutscher Sprache, nennt einmal eine seine Figuren einen "Mann von Salz" und führt als Stilbegriff und Stilideal das "komische Salz" in die Literatur ein. Der "Salzgeist" von Satire und Ironie soll der Literatur neue Würze geben, das "fantastische Salz" soll sie beflügeln wie in den von Jean Paul als Beispiel genannten Geister- und Schauergeschichten E.T.A. Hoffmanns, in denen noch etwas von den alten mystischen Salzvorstellungen überdauert.

    Braucht das Salz die Theologie, wenn schon nicht als orthodoxe, dann doch wenigstens als heterodoxe? Fest steht: Es wird stiller um das Salz in der Moderne. Der Glaube an seine magischen Mächte scheint abhanden gekommen zu sein. Wenn die Sprache nichts mehr repräsentiert außer sich selbst, scheint auch das Salz dazu verdammt, statt des alten Beziehungszaubers nur mehr sein eigenes materielles Salz-Sein vorzustellen. Das Salz wird körperlich, es erscheint im Text nun vornehmlich als "Ausscheidung" (Schweiß, Tränen, Urin), als (um es mit einem französischen Bestsellertitel vergangener Tage zu sagen) "Salz auf unserer Haut". So liefert Strässles penible Nachverfolgung des Salzmotivs in der Literatur am Ende Argumente für die These, es habe, wenn Gott tot ist, auch das Salz – als Zeichen – weithin ausgedient.

    Thomas Strässle: Salz. Eine Literaturgeschichte. Carl Hanser Verlag, München 2009. 478 Seiten, 29,90 Euro