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Das Schöne in der Kunst

In Frankreich ist Francois Cheng ein bekannter, mit wichtigen Literaturpreisen geehrter Lyriker. Der 1929 in China geborene Schriftsteller und Kunstwissenschaftler, seit 2002 Mitglied der Académie francais, studiert seit mehr als 50 Jahren die inneren Gesetze der chinesischen Malkunst und Poesie und sucht sie dem abendländischen Kunstverständnis zu vermitteln.

Von Beatrix Langner | 28.07.2008
    "Ich komme aus der Provinz Jiangxi, in der sich der Berg Lu befindet. Dort verbrachten wir jeden Sommer einige Zeit mit unseren Eltern. Der Berg Lu gehört zu einer Gebirgskette und ist mehr als zweitausend Meter hoch; er überragt auf der einen Seite den Fluss Yangzi und auf der anderen den Boiyang-See. Aufgrund seiner ungewöhnlichen Lage gilt er als eine der schönsten Landstriche Chinas."

    Als François Cheng 1949 als Neunzehnjähriger mit seinen Eltern, hochgebildeten chinesischen Intellektuellen, im Rahmen eines UNO-Bildungsprogramms nach Frankreich kam, war die Bekanntschaft mit der europäischen Malerei für ihn zunächst ein Kulturschock. Die geometrische Perspektivierung, die Meisterschaft in der Porträtkunst der Renaissance und des Barock, die Abbildung des Menschen vor und in Landschaften und Wohnräumen, ihrer fleischlichen, oft von Wunden zerrissenen Körperlichkeit, beeindruckten ihn tief. In der asiatischen Kunst kannte er nichts Vergleichbares.

    Sie haben sicher schon chinesische Landschaftsbilder bewundert, auf denen sich irgendwo eine winzige Person befindet. Für einen Kunstliebhaber aus dem Okzident, dessen Auge daran gewöhnt ist, sich Werke anzuschauen, auf denen Gegenstände und Personen im Vordergrund dargestellt sind, während die Landschaft in den Hintergrund gerückt ist, erscheint diese Person vollkommen verloren, vom Ganzen gleichsam verschluckt.

    Eine chinesische Mona Lisa, ein japanischer Goya sind undenkbar, und darum pilgern hunderttausende chinesischer, japanischer, koreanischer Touristen Jahr für Jahr staunend durch die Galerien Westeuropas. Ebenso undenkbar wäre es, in den zarten chinesischen "Seelenbildern" dunstverhangener Berggipfel oder der lichten Weite nebelverhüllter Flusswiesen etwas von der Hybris des neuzeitlichen Individualismus zu suchen, in dem sich die Europäer als Entdecker, Erforscher und schliesslich Beherrscher der Natur und fremder Erdteile oder - in der christlichen Ikonographie - als geschändete Kreatur und Opfer hässlicher Leidenschaften darstellten. Und doch gibt es, das zeigt François Cheng nachdrücklich, mehr Gemeinsamkeiten zwischen chinesischer und europäischer Kunst, als man auf den ersten Blick vermuten möchte. In seinen "Fünf Meditationen über die Schönheit" , ursprünglich vorgetragen im Kreis gelehrter Freunde nach dem Vorbild der antiken Symposien, begibt sich Cheng auf die Suche nach der "wahren" Schönheit - der Schönheit der Natur, der menschlichen Gestalt und schließlich nach dem schönen Handeln. Mit der bedächtigen Nachsicht eines Weisen, der sich verantwortlich fühlt für den Zustand der Kunst und der Zeit, in der er lebt und doch die Grenzen menschlicher Einsicht klar erkennt, entwickelt er eine Ethik des Schönen, die nicht die Schönheit der Erscheinung, ästhetische Form und Gestalt meint, sondern eine innere Haltung zum Sein als der Gesamtheit alles Existierenden. In der chinesischen Denktradition ist die Vielheit in der Einheit in dem Ideogramm der "tausend Dinge" niedergelegt. Überraschend zeigt sich, dass Chengs Begriff der Seinsfülle eng mit dem Seinsbegriff des europäischen Existentialismus, sein phänomenologischer Ansatz mit dem Denken Henri Bergsons und Ludwig Wittgensteins verwandt und sein Poesieverständnis demjenigen von Rainer Maria Rilke, Paul Claudel oder Gertrude Stein engstens verbunden ist. Der Dialog zwischen Okzident und Orient, meint Cheng, hat gerade erst begonnen. Es ist eine Tatsache, dass ein westöstlicher Divan, auf dem chinesische und europäische Poeten einander zuhören würden, noch nicht zur Grundausstattung des globalisierten Buchmarktes gehört. Und so ist auch für Menschen, die mit der chinesischen Kultur kaum vertraut sind, dieser lange, ruhige Blick in die Verschiedenheiten und Gemeinsamkeiten europäischer und chinesischer Denk- Schreib- und Sehweisen äußerst erhellend, in dem aristotelische Poetik, französischer Existentialismus und strukturalistische Psychoanalyse miteinander in einen organischen Dialog treten. Ganz abgesehen davon, dass die Fragen, die François Cheng stellt, in ihrer Dringlichkeit für die Zukunft der Kunst nicht von der Hand zu weisen sind, auch wenn sie keineswegs neu sind.

    Was bedeutet die Existenz der Schönheit für unsere eigene Existenz? Und was bedeutet angesichts des Bösen Dostojewskis Satz: "Schönheit wird die Welt erlösen?" Das Böse und das Schöne sind die beiden Herausforderungen, die wir annehmen müssen. Dabei dürfen wir nicht übersehen, dass das Böse und das Schöne nicht nur entgegengesetzt sind: Sie sind manchmal miteinander verquickt. Denn das Böse ist in der Lage, sogar die Schönheit in ein Mittel der Täuschung, der Herrschaft oder des Todes zu verwandeln.

    Die Möglichkeit der Schönheit liegt für Cheng im Sich-Öffnen für die Einmaligkeit alles Seienden, in der Durchdringung der Realität durch die Imagination, in ihrer Transzendenz. Im Dazwischen, dem angelsächsischen In-Between, entsteht die Wahrheit der Kunst, die aus der sinnlichen Seinsfülle schöpft und zu ihr zurückkehrt in Gestalt des Kunstwerks. Während in der aristotelischen Ästhetik Begriffe wie Mimesis und Katharsis gewissermassen für eine starre, formvermittelte Subjekt-Objekt-Beziehung stehen, sprechen die traditionellen chinesischen Künstler von Fülle und Leere, von Atem, Strich, Rhythmus, von "shen" (Seele, Leben), "tao" (Weg) oder "yijing" (höherer Zustand des Geistes), von der binären Struktur alles Seins aus yin und yang (die im eigentlichen Sinn eine Trias ist, da die "mittlere Leere" der eigentliche Ort künstlerischer Kreativität, der Raum der Kontemplation und des Innehaltens ist). Cheng plädiert für eine Kunst, die Schönheit nicht als Form begreift, sondern als Lebendigkeit, fliessende Bewegung, Offenheit für Eindrücke jeglicher Art. Die europäische Kunst, sagt Francois Cheng, sei vom Geist der Eroberung geprägt und darum habe sie den Sinn dafür verloren, dass das wahre Schöne, das unsere Bewunderung verdiene, zugleich das Gute sein müsse, schönes Handeln. Eine Kunst, die der Unterwerfung, der Herrschaft (auch der Form) über andere Menschen, Dinge oder Lebewesen diene, sei nicht schön.

    Mit der Sorgfalt eines Kalligraphen lenkt Francois Cheng den Blick seiner Zuhörer von den technischen Produktionsästhetiken, wie sie in Europa seit anderthalb Jahrtausenden tradiert werden, hinweg zu einer umfassenden, anthropologisch fundierten Theorie der Kreativität, die sich auf eine doppelt so lange Tradition chinesischer Kunst, Kalligraphie und Poesie berufen kann. Ihre Gültigkeit erweist sie an jedem Ort der globalisierten Welt und in jeder Kultur. Wir haben es vielleicht nur noch nicht gemerkt.