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Das Schönste war das Leben, nicht die Kunst

Er war der meistbewunderte, meistgehasste Theaterkritiker seiner Zeit. Jetzt präsentiert ein neuer Band der Werkausgabe bislang eher unbekannte Seiten Alfred Kerrs wie den literarischen Reisejournalisten oder den engagierten Entdecker junger Talente.

Von Oliver Pfohlmann | 12.04.2010
    Für Alfred Kerr war die Literatur nie das Schönste auf der Welt. Viel lieber waren dem Kritiker "junge, liebliche Gestalten im Frühling", gefolgt von Musik, Wein und der See, wie er einmal schrieb. Man könnte auch sagen: Das Schönste war das Leben, nicht die Kunst. Kerr war ein Sinnenmensch, ein Augengourmet. Dass es in Paris einen weltberühmten Dichter gab, der nur selten sein Haus verließ und dennoch die moderne Gesellschaft in all ihrer Komplexität beschreiben konnte, war ihm ein Rätsel.

    1901 saßen sich Alfred Kerr und Émile Zola im Pariser Arbeitszimmer des Franzosen gegenüber: der junge, vor Selbstbewusstsein strotzende Kritiker aus Berlin und der damals 65-jährige Begründer des europäischen Naturalismus:

    Ich äußerte meinen Standpunkt, in aller Bescheidenheit: dass ich die Lebensführung, die Zola vertritt, letzten Endes für einen Irrtum halte. 'Es scheint ein Irrtum, sich auf der Welt von nichts locken zu lassen als von der Stube, von einer kaum unterbrochnen, lebenslänglichen Arbeit.' Ich wies auf Flaubert, der auch wie ein Mönch seine Tage verbracht. 'Glauben Sie nicht, dass er im Tode mit Schmerzen sehen musste: der letzte Gassenstrolch hat klüger gehandelt als ich, – ich habe das Beste versäumt?' Zola forschte, was unter 'leben' verstanden sei. Ich erwiderte: 'Atmen; durch die Welt gehn; jeden Morgen glückselig sein, dass man aufstehn und den ganzen Zauber noch mitmachen darf.'

    Émile Zola hatte für so viel Lebenslust nur ein müdes Lächeln übrig. Kerrs Erinnerungen an diese Begegnung sind nun im neuesten Band der von Günther Rühle herausgegebenen Alfred-Kerr-Werkausgabe nachzulesen. Er enthält zahlreiche Jubiläumsartikel, die Goethe, Heine oder Lessing gewidmet sind, und Nachrufe auf Weggefährten wie Otto Brahm oder Arthur Schnitzler.

    Vor allem aber präsentiert dieser Band bislang eher unbekannte Seiten des meistbewunderten, meistgehassten Theaterkritikers seiner Zeit: etwa den literarischen Reisejournalisten, der in Norwegen Henrik Ibsen die letzte Ehre erweist – und spöttisch beobachtet, wie die örtlichen Kirchenvertreter den verstorbenen Freigeist für sich zu vereinnahmen suchen. Oder den Literaturvermittler, der schon 1896 die Jung-Wiener Dichter nach Berlin holt, kurz darauf aber lästert, er würde eher an einer Wand hinauflaufen, als sich solche Stilblüten zu leisten wie ein gewisser "Herr von Hofmannsthal" in seinen Stücken. Auch dem engagierten Entdecker junger Talente wie Else Lasker-Schüler und Klabund kann man hier begegnen. Mit dem jungen Robert Musil soll Alfred Kerr 1906 sogar "jede Zeile" der "Verwirrungen des Zöglings Törless" durchgegangen sein, ehe er dem Psychologiestudenten mit einer großen Besprechung die Türen zum Literaturbetrieb aufstieß.

    Für Kerr-Liebhaber hält dieser Band einige Schätze bereit, darunter die allererste Zeitungsveröffentlichung des Studenten Alfred Kempner von 1887. Sie war schon mit "Alfred Kerr" gezeichnet, jenem Pseudonym, mit dem der Kritiker berühmt wurde. Und erinnerte an einen vergessenen Breslauer Arzt und selbsternannten Literaturwächter namens Tralles, der einst Lessings Nathan-Stück als Blasphemie beschimpft hatte. Auch ein Teil von Kerrs Dissertation über den Romantiker Clemens Brentano findet sich in dieser Auswahl.

    Ein umfangreicher Kommentarteil erschließt zuverlässig den immensen Anspielungsreichtum dieser Texte. Immer wieder frappierend, zumal für heutige Leser, die funkensprühende Sprachkraft des Kritikers, das Feuerwerk an Aperçus und Gedankenblitzen, mit denen er sich über alle Autoren, Regisseure und Schauspieler erhob und als größter Künstler von allen, als Superkünstler, präsentierte. Hier schrieb einer, dem wirklich alle Register zur Verfügung standen, pastorales Pathos ebenso wie bitterer Sarkasmus oder bösartige Polemik. Und die behutsam-tastende Reflexion wie in "Der steile Stefan" über die Lyrik Stefan Georges:

    Seine Gedichte sind die gearbeitetsten, die es gibt. Beinahe sieht man einen Lyriker, der ... nicht Gefühle hat, sondern Tönungen. Nur auf die wundersamsten seiner Verse trifft es nicht zu. Doch; doch; es stimmt in einem weiten Zusammenhang auch für sie. Woran liegt es? Und lässt sich diese Art zerlegen? Etwa so: Er malt nicht Bäume, ... sondern er malt gemalte Bäume. (Das ist es.) Er malt nicht Städte, sondern gemalte Städte. Und er sieht Menschen wie auf Glasfenster getuscht ... und singt dann die Schmerzen von Menschen auf Glasfenstern.

    Es ist die Mischung aus Lebendigkeit, Leichtigkeit und purer Sprachlust, die Kerrs Texte zu einem zeitlosen Lesevergnügen macht. Seine Lust am Prägen neuer Wörter schien besonders groß zu sein, wo es sich um Gegner handelte. Wem außer ihm fiel es ein, die Nazis als "Rasseriecher" und "Drillfossilien" zu verspotten? Das wohl bedeutendste Dokument des Bandes trägt den Titel "Gerhart Hauptmanns Schande". 1933, gleich nach seiner überstürzten Flucht ins Exil, brach Alfred Kerr mit seinem Lieblingsdramatiker, als der sich mit den neuen Verhältnissen arrangierte – und sandte dem langjährigen Schützling einen Fluch von alttestamentarischer Unerbittlichkeit:

    Der diese Zeilen schreibt, war Hauptmanns Freund – ein Leben hindurch. Hauptmann ist älter als ich, aber wir waren beide jung, als wir uns trafen. Wir sind den ganzen Weg des Daseins zusammengegangen bis heut.
    Nein: bis gestern.
    Ich war der Wächter seines Werts in Deutschland. Ich schritt und ritt mit ihm durch Dick und Dünn. (Auch durch Dünn.) Ich hieb nach links und nach rechts, wenn man ihn angriff. Ich schlug ihn selber, wenn er nachließ. Ich gab ihm Zuversicht, wenn er sich raffte. Sein Wiederaufstieg im Alter war mir ein Glück. (...)
    Es gibt seit gestern keine Gemeinschaft zwischen mir und ihm, nicht im Leben und nicht im Tod. Ich kenne diesen Feigling nicht. Dornen sollen wachsen, wo er noch hinwankt. Und das Bewusstsein der Schande soll ihn würgen in jedem Augenblick.
    Hauptmann, Gerhart, ist ehrlos geworden.


    Nicht nur der erste, auch der letzte Artikel Alfred Kerrs ist in dem Band zu finden, er trägt den Titel "Hauptmann wird entdeckt" und erschien 1948 wenige Tage nach Kerrs Tod in Hamburg. Darin erinnert sich der Kritiker noch einmal, wie Hauptmanns Stück "Vor Sonnenaufgang" 1889 für den jungen Germanistikstudenten zur Offenbarung seines Lebens wurde. Den Fluch von 1933 nahm Alfred Kerr in diesem Text jedoch nicht zurück. So blieben das Ja von einst und das nicht zurückgenommene Nein versöhnungslos nebeneinander stehen.

    Alfred Kerr: "Sucher und Selige, Moralisten und Büßer. Literarische Ermittlungen" (Werke in Einzelbänden IV). Herausgegeben von Margret Rühle und Deborah Vietor-Engländer. Frankfurt am Main: S. Fischer, 2009. 520 Seiten, 49 Euro.