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Das Schwert und der Mond

An verschiedenen Orten aber in der selben Nacht vom 22. auf den 23. April des Jahres 1616 starben der Engländer William Shakespeare, der Spanier Miguel de Saavedra, genannt Cervantes, und der Mestize Garcilaso de la Vega. Ein ungewöhnliches Zusammentreffen im Tod von drei ungewöhnlichen Männern, die sich auch im Leben gekannt hatten. Es gibt Briefe von Shakespeare an Cervantes, und von Cervantes an Garcilaso de la Vega.

Henning Klüver | 13.07.1998
    Garcilaso, der in Spanien den Beinamen "Der Inka" angenommen hatte, war 1539 in Peru als Sohn eines kastilischen Adeligen und einer Inka-Prinzessin auf die Welt gekommen. Mit 21 Jahren verließ er seine Heimat, die er nie wiedersehen sollte. Doch hielt er in Spanien, wo er fortan vom Hofstaat verachtet als Soldat um gesellschaftliche Anerkennung rang, die Erinnerung an die Kultur seiner Heimat wach. Ihm verdanken wir schließlich die "Commentàrios reales", das zweibändige historische Werk mit dem deutschen Titel "Königliche Kommentare, die von der Herkunft der Inkas handeln". Das ist die erste Geschichte des Andenvolkes - von seinen Mythen bis zur brutalen Christianisierung durch die Europäer.

    Vom Leben dieses spanischen Inkas, seinen Taten, seinen Gedanken, seinen Träumen erzählt Laura Pariani in dem Roman "Das Schwert und der Mond". In der Mythologie der Inkas ähnelt die Dualität "Weiße Sonne - Schwarze Sonne" der in Europa vorherrschenden Dualität Sonne - Mond. In dreizehn Nachtwachen hat die Autorin diesen Roman aufgebaut, in der verschiedene Ich-Erzähler von und über Garcilaso reden - und so einen Chor bilden, der wie in einem antiken Stück den Rahmen der Handlung absteckt. Die Nacht spielt dabei für die Hauptperson eine besondere Rolle, erzählt Laura Pariani, die in ihrem Heimatort Turbigo bei Mailand lebt: "In seinem Wappen", sagt Laura Pariani, "war auf der einen Seite ein Schwert und der kastilische Löwe zu sehen, das war der väterliche Teil also, und auf der anderen waren der Mond und eine Schreibfeder abgebildet. Er hat sich schließlich für die Feder entschieden und damit auch für den Mond. Mir schien also die Nacht der richtige Augenblick für ihn zu sein, um sich selber zu verstehen, auch weil man dann ehrlicher ist, sich und anderen gegenüber. So ist die Nacht zum zentralen Moment jedes Kapitels geworden - Vielleicht auch, weil der Mond, la luna, jedenfalls im Italienischen und im Spanischen weiblich ist und er sich für die Kultur der Mutter entscheidet."

    Garcilaso wurde eine kirchliche Laufbahn verwehrt, die Familie verweigerte ihm das väterliche Erbe, und obwohl er dem König in mehreren Kriegen diente, blieben alle Bittschriften unerhört. "Verschiedenheit", schrieb er, "sollte nicht Minderwertigkeit bedeuten, sondern nur eine andere Art zu sein ... Ich fühle mich gefangen in einem großen Netz aus Vorurteilen über meine Hautfarbe, über meine Andersheit als Mischling."

    Aus dem Gefühl des Verlustes und des Schmerzes heraus begann er zu schreiben, Geschichte und Geschichten seines Volkes zu erzählen, die Laura Pariani kunstvoll in den Roman einwebt. Sie gibt dabei dem Historiker Garcilaso immer wieder Gelegenheit, über die Bedingungen seines Tuns nachzudenken. "Die Geschichte der Sieger", läßt sie ihn beispielsweise in einer Vollmondnacht des Jahres 1602 sagen, "die Geschichte der Sieger hat diese Ereignisse im dunkeln gelassen ... Ich frage mich, was künftige Generationen von der Eroberung Perus erfahren werden. Nachdem die Wahrheit begraben ist und die Zeugen gestorben sind ... Dann nehmen wir die Schreie der Sieger für unsere eigenen Gedanken und werden nachlässig im Denken, weil die Lügen, die sie uns auftischen, uns die Urteilskraft rauben ... Und wir vergessen, daß hinter dem Vorhang der Geschichte, nimmt man die Masken ab, ein Mensch steht, Opfer oder Henker, unschuldig oder grausam, ein Mensch, wie ich einer bin, du, ihr ... Die Jahre vergehen, doch es bleiben immer dieselben Fragen: warum kann ein Mensch unmenschlich sein? Und ist ein unmenschlicher Mensch ein Mensch? Was ist der Mensch?"

    Das sind Fragen eines ehemaligen Haudegens, der zum Historiker wird. Man spürt auf jeder Seite dieses Romans das Bemühen der Autorin, sich an die historische Wahrheit zu halten und zugleich über sie hinaus zu gehen. Sie müsse deshalb immer eine Figur direkt vor sich sehen, sagt sie. "Ich muß mir", sagt Laura Pariani, "genau vorstellen können, wie sich die Figur anzieht, was sie ißt, wie sie sich bewegt, was sie denkt und was sie liest. Aber nicht alles, was man über eine historische Zeit und ihre Personen in Erfahrungen bringen kann, muß deshalb auch gleich im Buch auftauchen - nur ich muß es wissen. Was aber die Dokumente nicht aussagen, oder was sie nur zwischen den Zeilen verraten, das ist der Raum für einen Schriftsteller, der keine Biographie schreiben will, sondern einen Roman konstruieren möchte. Deshalb habe ich so viel Wert auf die Träume und die Gedanken meiner Hauptperson gelegt."

    Die italienische Autorin war bislang eher mit dialektgefärbten Erzählungen aus ihrer lombardischen Heimat aufgefallen, bevor ihr mit diesem Roman ein überraschend dicht geschriebenes Buch gelang, das von Annette Kopetzki einfühlsam übersetzt worden ist. Wie kam es zu diesem großen Schritt über den Ozean? Es gebe Themen, antwortet Laura Pariani, die suchen dich aus - und nicht umgekehrt: "Ich habe", so die Autorin, "dieses Buch 1991 geschrieben, als man viel von den Kolumbusfeierlichkeiten redete. Und ich habe an meine eigene lateinamerikanische Erfahrung denken müssen, als ich 14 war und ein ganzes Jahr in Patagonien gelebt hatte. Ich las außerdem gerade die ‘Königlichen Kommentare’ und wollte unbedingt mehr über den Autor wissen. Daher kommt mein Interesse für einen Mann der Tat, der zum Schriftsteller wird. Aber auch, weil ich mich zu dem Zeitpunkt fragte, ob ich überhaupt weiter Geschichten schreiben oder es nicht lieber aufgeben sollte, interessierte es mich brennend, wieso jemand anfängt zu schreiben."

    Die Antwort läßt sie Garcilaso de la Vega in einem Gespräch mit Cervantes sagen: "Alles läuft hintereinanderher", erklärt Garcilaso. "Der Anfang ist das Ende und umgekehrt ... Ein Spiegelkabinett. In dieser scheinbar widersprüchlichen Ordnung steht dem Menschen keine Wahlfreiheit zu; im Gegenteil, seine Aufgabe besteht darin, das Leben so zu akzeptieren, wie es ist, auch wenn unser Denken manchmal daran verzweifelt. Wirklich ist das Sein, welches wir in uns selbst, bei jeder unserer Entscheidungen und Anstrengungen, deutlich spüren. Gleichzeitig ist aber auch das Nichtsein eine Wirklichkeit, es ist untrennbar mit seinem Gegenteil verbunden. Weiße Sonne und Schwarze Sonne." So sagte er kurz vor der denkwürdigen Nacht des 23. April 1616, in der Shakespeare, Cervantes und Garcilaso de la Vega sterben sollten.