Freitag, 29. März 2024

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Das Seerosenspiel

1972 erreichen die politischen Verfolgungen in China ihren Höhepunkt. Am meisten davon betroffen sind die sogenannten 'Abweichler', hochkarätige Wissenschaftler und Professoren. Sie werden zum Zweck der Gehirnwäsche in Straflagem inhaftiert. So kennen wir es aus der Geschichte, und so beschreibt es auch die Autorin Lulu Wang in ihrem Buch "Das Seerosenspiel".

Jong-Hee Kim | 17.04.1998
    Die Protagonistin, die 13jährige Lian, ist die jüngste Bewohnerin in einem dieser Umerziehungslager, wo sich 250 Intellektuelle des Landes aufhalten. Lian darf wegen einer schweren Hautkrankheit bei ihrer inhaftierten Mutter, einer ehemaligen Geschichtsprofessorin, im Lager bleiben. Dabei genießt sie ein seltenes Privileg. Denn angesehene Professoren erteilen ihr Privatunterricht, in deren Nähe sie ohne die Kulturrevolution nie hätte kommen können. Gerade der Geschichtsunterricht bei einem ehemaligen Professor namens Qin von der Pekinger Universität macht ihr besonderen Spaß. Durch seinen fesselenden Unterricht über die Höhen und Tiefen der chinesischen Geschichte empfindet Lian das Lernen zum ersten Mal nicht als Pflicht, sondern als Vergnügen. Sie ist stolz auf ihr neu erworbenes Wissen und möchte es gerne an andere weitergeben. Aber an wen? Um sie herum sind nur Erwachsene, die tagsüber Zwangsarbeit verrichten und abends zu erschöpft sind, um etwas anderes zu tun als zu schlafen. Und Kinder gibt es außer Lian nicht im Lager. Trotzdem will sie sich mitteilen - notfalls dem Wind.

    "... Sehr verehrtes Publikum, habt ihr schon vom Ruhm des chinesischen Kaiserreiches gehört? Nein? Dann hört mir gut zu. Vor langer, langer Zeit, als die Europäer noch in den Bäumen herumkletterten, stand das chinesische Kaiserreich schon in voller Blüte. Und was für ein Kaiserreich! Es war sage und schreibe zweihundertdreißigmal so groß wie zum Beispiel die Niederlande, ein kleines Land irgendwo in Westeuropa. ... Es war ein Traumland: Jeder kannte seinen Platz, jeder gehorchte seinen Vorgesetzten und tat, was von ihm verlangt wurde. Die Bauern schufteten, die Beamten und Minister beuteten die Bauern aus - um ihrerseits vom ‘Sohn des Drachen’, wie unser Kaiser genannt wurde, ausgesaugt zu werden. Einen perfekten Kreislauf können wir uns für die Gesellschaft nicht wünschen."

    Immer wieder flüchtet die 13jährige Lian aus ihrer Einsamkeit heraus zum nahegelegenen Teich im Lager, den sie inzwischen Seerosentheater getauft hat. Hier erzählt sie den Seerosen und den Fröschen ihre kindliche Interpretation der historischen Ereignisse, so wie die Autorin ihre Erinnerungen in ihrem Buch festhält: "Dieses Buch bedeutet für mich sehr viel. Das Wichtigste ist, daß das Buch mir geholfen hat, die traurigen schmerzlichen Erinnerungen meiner Kindheit zu verarbeiten. Unter der proletarischen Diktatur lebten viele in China in ständiger Angst vor der Partei, dem Führer, und vor allem fürchteten sie sich voreinander. Dadurch hatte ich viele seelische und emotionale Probleme. Beim Schreiben versuchte ich all meine Gefühle und Emotionen neu zu ordnen."

    "Das Seerosenspiel" ist Lulu Wangs erstes Buch, es ist für die 37jährige Autorin eine Art Selbsttherapie. Seit zwölf Jahren lebt sie in Holland und unterrichtet in Maastricht Chinesisch. Sie hat das Buch bewußt auf Niederländisch und nicht auf Chinesisch geschrieben, um dadurch mehr Abstand von ihren brutalen Erlebnissen zu gewinnen. "Ich verstehe jetzt die damalige Situation besser - sie ist sogar ein Geschenk für mich geworden. Beim Schreiben über meine traurige Kindheit fühlte ich mehr und mehr inneren Frieden", so Lulu Wang.

    Zu Lians Privatlehrern zählen auch ein ehemaliger Biologieprofessor, der als Schweinehüter arbeitet, und ein buddhistischer Mönch, der keine Eier ißt, da es sich dabei um den Embryo eines lebenden Wesens handelt. Da er auch kein Fleisch ißt, erhält er den widersprüchlichen Spitznamen "Kannibale". Er ist es, der versucht, der 13jährigen Lian, die schon so viel Elend mitansehen mußte, den Zusammenhang von Ursache und Wirkung im buddhistischen Sinn zu erklären. Damit will er Lian von ihrem Pessimismus befreien und ihr einen neuen Horizont eröffnen.

    Durch eine Lockerung der Umerziehungspolltik gehören Lian und ihre Mutter zu den wenigen Glücklichen, die das Lager nach anderthalb Jahren verlassen dürfen. Lian, die sich selbst schon als Erwachsene fühlt, hat keine Lust mehr mit Gleichaltrigen zu spielen. Dennoch schließt sie Freundschaft mit Kim Zhang, der Tochter eines armen Landarbeiters. Doch das Problem der unterschiedlichen sozialen Stellung der beiden Mädchen wird zum Hindernis. Obwohl nach Maos Theorie die Landarbeiter gegenüber der elitären Oberschicht Vorteile haben sollen, sieht die Wirklichkeit ganz anders aus. So wird auch Kim als Zugehörige der untersten, der dritten Kaste, von ihren Klassenkameraden ständig gedemütigt und mißhandelt. Dies beschreibt auch Lulu Wang: "Mao Tse-Tung war ein Idealist und führte ein neues Klassensystem in das Land ein. Er ritt ständig darauf herum, Arbeiter und Bauern wären die Führer des Landes und müßten deshalb alle anderen Klassen umerziehen. Aber seine Lehre stimmte in der Wirklichkeit nicht mit der Praxis überein."

    Lian wehrt sich jedoch gegen die Klassenunterschied und versucht, Kim zu unterstützen, indem sie ihre sportlichen Fähigkeiten fördert. Durch den Sieg bei einem Laufwettbewerb in der Schule will sie ihr den Nimbus einer vollwertigen Mitschülerin verschaffen. So beginnt eine rührende Freundschaft. Über die Romanfigur Kim sagt die Autorin: "Kim ist ein Symbol meiner verschiedenen Freundinnen. Sie ist nicht eine Person. Eine Freundin Kim ist ist tatsächlich ermordet worden, und eine andere Kim ist jetzt in China sehr erfolgreich. Ich wollte Kims tragisches Ende beschreiben und den Leuten sagen, welche Folgen es haben kann, wenn ein junges Mädchen wie Kim von den Leuten so schikaniert wird. Dann kann sie später dasselbe tun. Es ist dann zu spät, die Situation zu ändern."

    Zur Zeit arbeitet Lulu Wang an ihrem zweiten Buch, das vom Studentenleben in Peking handelt und im nächsten Jahr erscheinen soll. Der Kampf gegen ihre Vergangenheit ist immer noch nicht zu Ende. In ihrer Wohnung hängen überall kleine Zettel, "Ja" steht darauf, das chinesische Zeichen für positives Denken sowie das Symbol der Harmonie Yin und Yang. "Die meisten Chinesen denken, daß die Kulturrevolation ein nationales Unglück war", so Wang. "Aber sie reden darüber nicht offen. Viele junge Menschen denken, es könne gar nicht so schlim gewesen sein. Ich finde es wichtig, nicht zu kritisieren, aber offen darüber zu sprechen. Wir müssen daraus lernen, damit wir denselben Fehler nicht noch einmal begehen.