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Das Soziotop Hafenstraße

Im Herbst 1987 schien es, als würde Hamburg auf bürgerkriegsähnliche Zustände zusteuern. In der Hafenstraße standen zu vielem entschlossene Hausbesetzer einem Großaufgebot der Polizei gegenüber. Dann machte Bürgermeister Dohnanyi den Hausbesetzern ein Angebot: Ihr baut die Barrikaden ab, dann wird nicht geräumt.

Von Reiner Scholz | 19.11.2012
    "Radio Hafenstraße."

    Hamburg im Herbst 1987. Der Konflikt um die besetzten Häuser in der Hafenstraße spitzt sich zu. Radio Hafenstraße ruft zum Klassenkampf, die etwa 100 Besetzer haben ihre Häuser mit Stahltüren und Stacheldraht in Festungen verwandelt. In der Stadt warten fast 10.000 Polizisten auf den Räumungsbefehl. Sollte der kommen, rechnen Experten mit Verletzten, wenn nicht gar Toten. Am 17. November 1987 dann die Wende: Hamburgs Erster Bürgermeister Klaus von Dohnanyi stellt den Hausbesetzern erstmals einen Vertrag in Aussicht:

    "Bis Mittwoch,. 14 Uhr, müssen sämtliche Barrikaden und Hindernisse auf Straßen und Gehwegen vollständig beseitigt sein. Bis Donnerstag, 14 Uhr, sind alle bis dahin beseitigbaren Befestigungen zu beseitigen. Dann wird nicht geräumt. Damit die Bewohner ganz sicher sind, dafür verpfände ich mein politisches Wort, dafür werde ich mein Amt als Bürgermeister in die Waagschale werfen."

    Die städtische SAGA hatte die einst hübschen Häuser am Hafenrand über die Jahre verkommen lassen. Im Herbst 1981 werden die leer stehenden Wohnungen besetzt. Nun wohnen hier - neben Alkoholikern, Drogenabhängigen und Obdachlosen - auch Studenten:

    "Weil hier das Wohnfeeling ganz anders ist, wie in einem normalen Mietshaus. Man kann auch morgens um sieben laut Musik aufdrehen oder nachts um drei oder so, dafür muss man allerdings in Kauf nehmen, dass auch über einem nachts um vier Uhr Holz gehackt wird oder so. Aber das macht nichts, ich finde das gut, hier zu wohnen."

    Doch das Soziotop Hafenstraße hat nicht nur Freunde:

    " - "Für diese Menschen wäre ein Lager, sie brauchen ja keine Schläge haben, aber sie müssen so straff gehalten werden, dass sie das lernen, wie andere Leute auch leben müssen."
    -"Drei Kanister Benzin, unten rum, anzünden.""

    Weil die Bewohner nicht freiwillig gehen, erwirkt die SAGA Räumungstitel für jede einzelne Wohnung. Zu ihrer Durchsetzung lässt sie immer wieder die Polizei aufmarschieren:

    "Ihr kommt hier jede Woche an, hier wohnen wir, ja. Warum gehen sie dann nicht zurück. Weil wir dastehen, um zu zeigen, dass wir nicht einverstanden sind mit diesen Praktiken."

    Es kommt zu einem jahrelangen Katz - und Mausspiel. Claus Petersen, Bewohner seit 1976, erinnert sich:

    "Begehung heißt Räumung einer Wohnung, die wir natürlich immer sofort wieder bewohnt haben. Und deshalb gab es für jede Wohnung, die auch schon mal geräumt worden war, eine große Aufgabe durch den Gerichtsvollzieher, die wieder freizukriegen."

    Die SPD hält an ihrem Konzept fest. Auf diesem städtebaulichen Filetstück am Hafenrand sollen Büropaläste entstehen. Drei der acht besetzten Häuser sind im Weg. Bausenator Eugen Wagner am 3. Februar 1986:

    "Das bedeutet, dass drei Häuser in dieses Konzept nicht hineinpassen. Das sind die berühmten ‚Sechserhäuser’ und diese ‚Sechserhäuser’ müssen dann abgerissen werden. Völlig klar."

    Doch die Solidarität mit den Hausbesetzern wächst. Längst wohnen hier auch Kinder aus dem betuchteren Teil der hanseatischen Gesellschaft. Besonnene Hamburger bieten ihre Vermittlungen an. Schließlich lenkt Hamburgs erster Bürgermeister Klaus von Dohnanyi gegen starke Kräfte in der eigenen Partei mutig ein und die Besetzer akzeptieren sein Angebot:

    "Mit dem Abbau der Barrikaden und Schutzanlagen wird Mittwoch, den 18.11.87, morgens, 8 Uhr begonnen. Damit steht der Senat in der Verpflichtung, den Pachtvertrag am Donnerstag, den 19.11., nachmittags, zu unterzeichnen."
    Am 19. November 1987 unterzeichnen der Erste Bürgermeister und die Besetzer das Papier:

    "Meine Damen und Herren, der Senat hat heute mit den Bewohnerinnen und Bewohnern der umstrittenen Häuser in der Hafenstraße einen Pachtvertrag abgeschlossen. Damit gibt es jetzt eine Grundlage für die Rechtsstaatlichkeit und für den Frieden in diesem Teil der Stadt."

    Bürgermeister von Dohnanyi hat sich in der Auseinandersetzung aufgerieben. In der SPD kommt der gedemütigte Partei-Flügel um Henning Voscherau an die Macht. Es folgen mehrere Versuche, die Bewohner durch Klagen und polizeiliche Razzien doch noch zu zermürben. Vergeblich.

    1994 kaufen die Bewohner der Stadt die Häuser ab, gründen eine Genossenschaft und vergrößern sich später sogar durch einen Neubau. Der linksalternative Anspruch ist geblieben. Wenn auch fast alle Bewohner einer bürgerlichen Arbeit nachgehen, so bleiben die Häuser in der Hafenstraße doch das Symbol für erfolgreiche Hausbesetzungen und ein buntes Wahrzeichen am Ufer der Elbe.