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Das Spiel mit den Medien

Pressefreiheit ist ein Grundrecht in der Demokratie. Allerdings wird durch massive Berrichterstattung das Persönlichkeitsrecht von Einzelnen beschnitten. Die Staatsanwaltschaften sind inzwischen ein weiterer medialer Mitspieler, die Informationen gezielt an die Medien weitergeben.

Von Detlef Grumbach | 05.09.2010
    "Dass die Rechtsanwälte den Weg zu den Medien nehmen, ist uralt. Und die Medien gehen denen natürlich auch gerne entgegen, weil man natürlich Hintergründe erfährt, die in der Hauptverhandlung nicht ausgebreitet werden. Dass die Staatsanwaltschaften dem nachziehen, ist neu."

    Morgen wird im Brunner-Prozess in München das Urteil erwartet. In Mannheim beginnt der Kachelmann-Prozess. Was beide Fälle eint: ihr enormes Medienecho und die aktive Rolle, mit der die Staatsanwaltschaften ihre Positionen von Anfang an, schon mit Beginn der Ermittlungen, öffentlich lancierten. Sabine Rückert, angesehene Gerichtsreporterin der Wochenzeitung "Die Zeit”:

    "Einerseits muss ich das auch begrüßen, denn man ist bei einer alleinigen Information durch den Rechtsanwalt immer dem auch ausgeliefert. Die Frage ist, wie sie es machen. Und das ist im Fall Kachelmann denkbar schlecht gelaufen."

    Die Staatsanwaltschaften erheben für sich den Anspruch, die objektivste Behörde der Welt zu sein. Sie sind verpflichtet, in alle Richtungen zu ermitteln und auch entlastendes Material zu sammeln. Gerade bei spektakulären Fällen entsteht jedoch der Eindruck, dass sie sich zu früh festlegen und die Öffentlichkeit für ihre Sichtweise gewinnen wollen.

    "Die Staatsanwaltschaft hat sich von Anfang an auf diesen prominenten Beschuldigten eingelassen und hat da einen Jagdinstinkt entwickelt, von dem sie jetzt nicht mehr runterkommt. Und sie hat ihn beschädigt öffentlich, und auf dieser Basis kann ich verstehen, dass die Verteidigung dann an die Presse tritt und sagt, wir haben einen Mandanten, der in der Öffentlichkeit eine große Rolle spielt, und der wird hier in der Öffentlichkeit beschädigt von der Staatsanwaltschaft und wir müssen dem etwas entgegensetzen."

    "Im Bereich des Ermittlungsverfahrens ist es so, dass Ermittlungen grundsätzlich geheim sind. Im Prinzip dürften wir gar nichts darüber sagen."

    Zu dem Fall kann er nichts sagen, aber so reagiert Wilhelm Möllers, Pressesprecher der Hamburger Staatsanwaltschaft, ganz allgemein auf die Situation. Er verweist darauf, dass Behörden zugleich auch verpflichtet sind, auf Anfrage der Medien Auskünfte zu erteilen, betont aber,

    "dass die Staatsanwaltschaft immer objektiv in ihrer Berichterstattung sein muss, und das heißt, keine öffentliche Prangerwirkung und damit möglicherweise eine mediale Vorverurteilung herbeiführen darf und die Persönlichkeitsrechte des Beschuldigten zu achten hat.""

    Im Fall Dominik Brunner spekulierte die Staatsanwaltschaft schon am Tag nach der Tat über die Motive der mutmaßlichen Täter: Vergeltung und Rache. Was nicht in dieses Bild passte, hat sie verschwiegen. Erst in der Hauptverhandlung kam zur Sprache, dass Brunner zuerst zugeschlagen habe, dass er letztlich an einem Herzversagen gestorben sei.

    Im Fall Kachelmann stützte sich die Staatsanwaltschaft allein auf die Belastungszeugin, obwohl sie nachweislich gelogen hatte, und erhob bereits Anklage, bevor das Ermittlungsverfahren abgeschlossen war. Ein von ihr selbst in Auftrag gegebenes Gutachten über die Glaubwürdigkeit der Zeugin wartete sie nicht einmal ab. Die Verteidigung suchte darauf mit ihrer Version der Geschichte die Öffentlichkeit.

    Rückblende: Klaus Zumwinkel gerät in den Verdacht der Steuerhinterziehung: Sein Haus wird durchsucht, er wird vor laufenden Fernsehkameras verhaftet. Irgendjemand aus der Strafverfolgung muss die Presse vorab informiert, muss etwas durchgestochen haben. Vom ersten Augenblick an sind die Ermittlungen gegen ihn öffentlich. Das war im Februar 2008.

    "Kein Kommentar zu laufenden Verfahren” – dieser Spruch war viele Jahre lang das Einzige, was Staatsanwälte über laufende Verfahren mitteilten. Keine Namen. Keine Details.

    März 2009: Der SPD-Bundestagsabgeordnete Jörg Tauss gerät in den Verdacht, kinderpornographisches Material zu besitzen. Schon während der laufenden Hausdurchsuchung gibt die Staatsanwaltschaft von sich aus, ohne Anfrage, Presseerklärungen heraus, steht Tauss am Pranger.

    April 2010: Die No-Angels-Sängerin Nadja Benaissa wird kurz vor einem Auftritt unter den Augen ihrer Fans abgeführt. Die Staatsanwaltschaft informiert über intime Erkenntnisse: eine Hiv-Infektion, ungeschützten Geschlechtsverkehr, den Verdacht der Körperverletzung.

    "Wir leben ja in einer Demokratie und wir haben die Justiz in der Demokratie und das muss eine offene Justiz sein. Also keine Geheimjustiz. Das Volk, der Souverän, muss wissen, was die Justiz macht. Also insofern tut Öffentlichkeit der Justiz auf jeden Fall gut."

    Kein Kommentar? Diese Zeiten sind vorbei. Daran gibt es laut Volker Boehme-Neßler, Jura-Professor an der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin, keinen Zweifel. Litigation-PR heißt das Fachwort, das für den neuen Trend steht. Litigation steht für den Rechtsstreit. "Die Öffentlichkeit als Richter? Litigation-PR als neue Methode der Rechtsfindung” – unter diesem Titel hat Boehme-Neßler im Frühjahr eine Tagung in Berlin organisiert und ein Buch herausgegeben.

    "Das Problem bei Litigation-PR ist nur ein bisschen: Das ist keine objektive Öffentlichkeit, keine allgemeine Öffentlichkeit, sondern das ist eine gesteuerte, im schlimmsten Fall manipulierte Öffentlichkeit. Wer Litigation-PR macht, hat ja ein gewisses Ziel. Wie bei aller Öffentlichkeitsarbeit geht es ja darum, durch diese Öffentlichkeitsarbeit etwas zu erreichen. Es soll Stimmung gemacht werden im weitesten Sinne, die Öffentlichkeit soll in eine bestimmte Richtung gelockt werden oder manipuliert werden oder je nach dem – man muss das nicht unbedingt negativ sehen. Aber es soll eine Stimmung in der Öffentlichkeit entstehen, die sich indirekt auf den Prozess auswirkt."

    "Nachricht ist nicht nur Nachricht als solche zur Information, sondern Nachricht ist auch Ware."

    So gibt Oberstaatsanwalt Möllers den Schwarzen Peter an die Medien weiter:

    "Die Medien warten schlicht nicht mehr darauf, wie das Plädoyer in der Hauptverhandlung aussieht, sondern man will vorher informiert werden, man will vorher die Schlagzeile und insofern spielt Litigation-PR da eine doch ganz beachtliche Rolle."

    Den Boom der Medien, die Einführung des kommerziellen Fernsehens mit seiner Boulevard-Berichterstattung, die vielen neuen Online-Magazine und Blogs nennt auch Kai-Volker Öhlrich als Grund für die wachsende Prozessberichterstattung.

    "Neu ist, dass es jetzt mit der Staatsanwaltschaft einen weiteren medialen Mitspieler gibt, der eben nicht nur reagiert, sondern auch eine aktive Pressepolitik betreibt. Jetzt geht sie zum Teil schon im Ermittlungsverfahren offensiv an die Öffentlichkeit."

    Der nach 30 Richter-Jahren in den Ruhestand verabschiedete Präsident des Hamburger Landgerichts räumt jedoch ein:

    ""Solange sie das tut, ohne Ergebnisse zurückzuhalten oder zu verfälschen, meine ich, ist das legitim, auch um ein Gegengewicht zu den anderen Teilnehmer des Verfahrens zu schaffen. Legitim wohlgemerkt aber nur für die Verfahren, die ohnehin einen öffentlichen Bezug bereits haben. Denn an sich sind Ermittlungen, wie man weiß, vertraulich und nichts für die Öffentlichkeit."

    Der Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit ist insbesondere bei Eingriffen in grundgesetzlich geschützte Rechte zu berücksichtigen.

    So heißt es in Paragraph 4 der "Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren”. Gemeint sind vor allem die Freiheit der Person und die Pressefreiheit. Die Wahrung der Persönlichkeitsrechte wird in Paragraph 4a noch einmal bekräftigt:

    Die Staatsanwaltschaft unterlässt alles, was zu einer nicht durch den Zweck des Ermittlungsverfahrens bedingten Bloßstellung des Beschuldigten führen kann.

    Die Persönlichkeitsrechte des Beschuldigten und das Informationsrecht der Öffentlichkeit – diese beiden Interessen müssen die Staatsanwälte austarieren. Dabei entscheiden sie häufig zuungunsten der Beschuldigten.

    "Inquisition durch Information” – unter diesem Titel hat der Hamburger Rechtsanwalt Christian-Albrecht Neuling seine Dissertation veröffentlicht. Untertitel: "Medienöffentliche Strafrechtspflege in nicht öffentlichen Ermittlungsverfahren.” Neuling hat eine Fülle von Fällen zusammengetragen und analysiert. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die Richtlinien für die Arbeit der Staatsanwaltschaften nicht ausreichen:

    "Der Pferdefuß an dieser Lösung ist, dass die Formulierungen in den einschlägigen Vorschriften wachsweich sind. Das sind Ermessensentscheidungen. Die Staatsanwaltschaft kann, sie muss aber nicht. Sie muss schutzwürdige Interessen des Beschuldigten berücksichtigen, sie muss aber auch das allgemeine Informationsinteresse der Öffentlichkeit berücksichtigen, das sind jede Menge unbestimmte Rechtsbegriffe und die Staatsanwaltschaft bleibt zurück mit einer Ermessensentscheidung, die sie irgendwie treffen muss."

    Neuling fordert deshalb eindeutige Kriterien – nicht nur in einer Dienstvorschrift, sondern im Gesetz.

    ""Ich meine zum Beispiel, dass der Beschuldigte ein berechtigtes Anonymitätsinteresse hat bis hin zur Zulassung der Anklage und zur Eröffnung des Hauptverfahrens. Prinzipiell. Und die Auskunftstätigkeit muss sich beschränken auf einen Kern objektivierbarer Umstände. Das heißt, was verboten werden sollte – grundsätzlich – ist jede Form von Wertungen."

    Der Gesetzgeber kennt solche Vorschläge, doch gibt es dagegen auch Bedenken. Volker Boehme-Neßler erinnert daran, dass Persönlichkeitsrechte und Unschuldsvermutung bereits durch das Grundgesetz garantiert werden.

    "Wenn Sie die Öffentlichkeitsarbeit der Staatsanwaltschaft noch einmal speziell und ganz konkret beschränken, dann schränken Sie ja immer auch indirekt die Pressefreiheit ein. Und das ist ein Problem. Die Pressefreiheit ist eins der wichtigsten Grundrechte in der Demokratie. Es gibt ohne Pressefreiheit keine Demokratie."

    Aber auch Verteidiger gehen an die Öffentlichkeit, haben schon immer alles unternommen, um ihre Mandanten in gutem Licht erscheinen zu lassen, die Öffentlichkeit und den Richter von ihrer Unschuld zu überzeugen. Der Berliner PR-Fachmann Uwe Wolff, der vor knapp zehn Jahren eine der ersten Firmen für Litigation-PR in Deutschland gegründet hat:

    "Als ich hier angetreten bin, Litigation-PR hier eingeführt habe, war es so, dass man gefragt hat, sag mal, das ist doch eine Sache, die du aus den USA mitgebracht hast und die eigentlich dazu da ist, die Jurys zu beeinflussen. Das war tatsächlich so. Ich habe dann dagegen argumentiert und gesagt, gut, wir haben hier keine Jury, aber wir haben die Öffentlichkeit. Und das ist die Jury. Wir alle sind Jury."

    Ob das der Tradition der deutschen Gerichtsverfahren entspricht? Als Beispiel für erfolgreiche Litigation-PR schon lange vor seiner Zeit nennt Wolff den Prozess gegen den Baulöwen und Betrüger Jürgen Schneider, der am Ende gegenüber der betrogenen Deutschen Bank beinahe als Held dastand. Und den Fall Kujau. Kujau hatte Anfang der 80er Jahre der Illustrierten "Stern" gefälschte Hitler-Tagebücher angeboten. Die Arbeit seiner Anwälte führte dazu, dass er am Ende als sympathisches Schlitzohr dastand. Beides Fälle von David gegen Goliath – die Sympathie gehörte am Ende David.

    Wolff präsentiert den Fall Kujau in seinem Buch "Im Namen der Öffentlichkeit. Litigation-PR als strategisches Instrument bei juristischen Auseinandersetzungen". Dort zitiert er auch Kujaus Anwalt Kurt Groenewold:

    Sympathiewellen für Kujau und Aufmerksamkeit für die prinzipielle Frage der Verantwortung des Verlags Gruner & Jahr haben zu einer erheblichen Reduzierung der sonst bei so hohen Schäden üblichen Strafen geführt.

    "Die beiden waren absolut schuldig. Das Ziel der Verteidigung ist es natürlich, die Menschen, die beschuldigt sind, als Angeklagte vor Gericht stehen, möglichst positiv rauszuhauen. Vom fachlichen her war das gut gemacht. Ob das nun gerecht ist, weiß ich nicht. Die Verteidigung jedenfalls hat die Pflicht, die Menschen, die sich ihnen anvertrauen, möglichst gut zu verteidigen, und da gehört mehr und mehr eben auch Litigation-PR dazu, dass man die Öffentlichkeit mit einsetzt und informiert über die Perspektive des Mandanten."

    Strafverteidiger sind eindeutig Partei. Sie vertreten ihren Mandanten. Staatsanwälte dagegen vertreten den Rechtsstaat. Das ist etwas anderes. Aber sie stehen auch unter Druck: Sie müssen zeigen, dass sie ordentlich arbeiten, bei Prominenten nicht ein Auge zudrücken. Diesen Verdacht hegt zumindest Gerhard Strate, erfahrener Strafverteidiger in Hamburg.

    "Ich glaube allerdings auch, dass Staatsanwälte, wenn sie denn erst einmal einen Tatverdacht nicht nur geschöpft haben, sondern einem Tatverdacht auch energisch nachgehen, auch ihrerseits ein Interesse haben, für eine Verurteilung dann die öffentliche Atmosphäre zu schaffen. Ich meine nicht, dass bei den Staatsanwälten jeweils persönlicher Ehrgeiz dahinter steht, nichtsdestotrotz ist da so ein institutionelles Interesse, sich auch durchzusetzen."

    "Institutionellen Druck verspüre ich in keinster Weise,"

    entgegnet dem Oberstaatsanwalt Wilhelm Möllers. Er verweist als Argument insbesondere darauf, dass die Staatsanwaltschaften unterm Strich zwei Drittel ihrer Ermittlungsverfahren ohne Anklage einstellen.

    "Auf der anderen Seite muss man aber auch sagen, dass die Staatsanwaltschaft durchaus willens ist, ihre eigene Arbeit darzustellen. Hierzu gehört zum Beispiel auch der zügige Abschluss von Ermittlungsverfahren."

    Der Fall Kachelmann zeigt die Gefahr: Staatsanwaltschaft und Verteidigung können sich schon im Ermittlungsverfahren gegenseitig hochschaukeln. Sie spannen Journalisten vor ihren Karren, liefern Schlagzeilen und führen den Prozess schon einmal vorab über die Medien. "Bild"-Zeitung und "Fokus" plädieren eher für schuldig, der "Spiegel" und "Die Zeit" streuen Zweifel daran. Die große Frage: Beeinflusst die Öffentlichkeitsarbeit von Staatsanwälten und Verteidigern den Prozess im Gerichtssaal? Können sich die Richter von der Berichterstattung freimachen? Ihre Unabhängigkeit wahren?

    Der Mainzer Kommunikationswissenschaftler Hans Mathias Kepplinger ist diesen Fragen nachgegangen. Knapp 1800 Richter hat er angeschrieben, 450 von ihnen haben seinen Fragebogen beantwortet. 37 Prozent geben an, gezielt Presseberichte zu verfolgen, in denen es um ihre Fälle geht, nur zwei Prozent der Richter vermeiden solche Lektüre. Zehn Prozent der Richter denken intensiv darüber nach, ob ihr Urteil in der Öffentlichkeit akzeptiert wird, 48 Prozent immerhin ein wenig.

    "Dass dort auch mit der Öffentlichkeit Missbrauch betrieben wird, halte ich für naheliegend. Die Strafgerichte sind nicht isoliert, sind nicht in irgendeiner Glasglocke, sondern voll auch beeinflusst durch das, was in der Öffentlichkeit über den Fall berichtet wird."

    So der Eindruck des Strafverteidigers Gerhard Strate. Kai-Volker Öhlrich, ehemaliger Präsident des Landgerichts Hamburg:

    "Natürlich ist man nicht unbeeindruckt davon, ob eine Sache eine große mediale Wirksamkeit entfaltet hat oder nicht. Auch nicht unbeeindruckt davon übrigens, dass es eben Erwartungen, um nicht zu sagen auch gewissen Druck, aus verschiedenen Richtungen geben kann, zu bestimmten Entscheidungen zu kommen. Aber meine Erfahrung in eigener Sache und auch in Beobachtung der Richterinnen und Richter, die ich in Hamburg kenne, ist, dass diese relativ geringen Einfluss, wenn nicht gar keinen Einfluss auf ihre Rechtsprechung hat."

    Auch wenn der Einfluss über die Ziele hinausschießender PR-Arbeit auf den Prozess gering sein sollte, wenn die Unabhängigkeit des Gerichts im Prozess gewahrt bleibt – Folgen kann das Vorpreschen der Staatsanwälte dennoch haben. So kann der Dienstvorgesetzte einen Staatsanwalt von dem Verfahren abberufen. Das sollte vielleicht öfter geschehen. Der Richter kann im Urteil mildernde Umstände walten lassen, wenn der Angeklagte schon am Pranger der Öffentlichkeit gestanden hat, auch bei der Zulassung einer Revision hat staatsanwaltliche Öffentlichkeitsarbeit schon eine Rolle gespielt. Aber auch der Beschuldigte, ob am Ende schuldig oder nicht, kann gegen die Staatsanwaltschaft vorgehen.

    "Das kann vielfältige Konsequenzen haben. Das kann nicht zuletzt dazu führen, dass der Staat Schadensersatz leisten muss, weil der Staatsanwalt zu viel und zu früh und vielleicht auch falsche Dinge erzählt hat. Also unser Rechtssystem hat Konsequenzen, hat Sanktionsvorschriften."

    Volker Boehme-Neßler erinnert noch einmal an den Fall der No-Angels-Sängerin Benaissa.

    "Da müsste man gucken, was für ein Schaden hat Frau Benaissa gehabt. Sind ihr Konzerte entgangen? Welche Auswirkungen hat es, dass sie jetzt in der Öffentlichkeit möglicherweise stigmatisiert ist und so weiter? Es gibt ja auch die Möglichkeit, Schmerzensgeld zu fordern."

    Berühmtes Beispiel dafür ist Klaus Esser. Der Mannesmann-Vorstand war wegen Untreue angeklagt, weil er eine zu hohe Abfindung bei der Übernahme durch Vodafone erhalten hatte. 1,5 Millionen Euro musste er zahlen, 10.000 hat er sich von der Staatskasse zurückgeholt, weil die Staatsanwälte in Düsseldorf eine zu aggressive, nicht rechtmäßige Öffentlichkeitsarbeit betrieben hätten.

    Im Prinzip sind sich Staatsanwälte, Verteidiger und Richter einig: Die Grenzen der verfahrensbegleitenden Öffentlichkeitsarbeit sind eng gezogen. Es wird diese Öffentlichkeitsarbeit aber verstärkt geben, und die Grenzen werden auch überschritten. Ob es der Wahrheitsfindung dient und die Gerechtigkeit fördert, steht auf einem anderen Blatt, aber Litigation-Agenturen wie die von Uwe Wolff können auf einen wachsenden Markt hoffen.

    "Wenn es um Prominente geht, müssen die Staatsanwaltschaften in Zukunft vorsichtiger sein, weil dann durchaus Leute wie ich eingeschaltet werden könnten, die ihnen auf die Finger schaun."

    Und die Medien, ohne die das Ganze gar keinen Sinn ergeben würde? Die mit ihrer Prozessberichterstattung Quoten und Auflagen steigern?

    "Ich glaube, dass die Rolle der Medien völlig überschätzt wird. Die Gerichte lassen sich von den Zeitungen nicht reinreden."

    So Sabine Rückert von der "Zeit". Aber:

    "Jeder Angeklagte, über den nicht berichtet wird, ist besser dran als der, über den berichtet wird, auch wenn positiv über ihn berichtet wird. Keine Berichterstattung ist die beste Berichterstattung. Für einen Angeklagten."
    Nach vier Monaten wieder auf freiem Fuß: Jörg Kachelmann
    Nach vier Monaten wieder auf freiem Fuß: Jörg Kachelmann. (AP)
    Dominik Brunner starb am 12.09.2009
    Dominik Brunner (Dominik-Brunner-Stiftung)
    Der ehemalige Vorstandsvorsitzende der Mannesmann AG, Klaus Esser, betritt in Düsseldorf als Angeklagter das Landgericht.
    Der ehemalige Vorstandsvorsitzende der Mannesmann AG, Klaus Esser, betritt in Düsseldorf als Angeklagter das Landgericht. (AP)