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Das sterbende Tier

Ist es nun der vier-, fünf- oder sechsundzwanzigste Roman? Man schaut die Verlagslisten durch und entdeckt immer wieder ein anderes Buch, das man übersehen hat. Mit dem großen Kollegen John Updike teilt sich Philip Roth die Gabe einer enormen, schier unerschöpflichen literarischen Produktivität, die auch jetzt, in seinem 70. Lebensjahr ungebrochen scheint. "Ein Schriftsteller ist dazu da, zu schreiben, ich kann nichts anderes, ich will nichts anderes..." hat der Romancier einmal gesagt, und so schreibt er unablässig, unermüdlich und zur Bewunderung von Kritikern und Publikum gleichermaßen auf einem stets überragenden stilistischen und intellektuellen Niveau, das auch die seit mehr als 40 Jahren durchgehaltene Rate "Jede zweite Saison ein Buch" in keiner Weise absenkt. Roths Gegner haben denn auch nur ein einziges Argument: sie monieren seine Themenwahl, die alle Anzeichen von Besessenheit trage, weil der Autor letztlich immer wieder von ein- und demselben erzähle, nämlich von SexSexSex. Und da haben sie völlig recht. Aber genau deshalb können die meisten Leser nicht genug von diesem Autor bekommen.

Joachim Scholl | 16.03.2003
    Wir gingen also miteinander ins Bett. Es passierte ganz schnell, weniger wegen meiner Berauschtheit als vielmehr wegen ihres Mangels an Komplexität. Oder meinetwegen wegen ihrer Klarheit. Ihrer noch ganz neuen Reife, auch wenn diese, wie ich finde, eher von der schlichten Art war: Sie hatte zu ihrem Körper eine so innige Beziehung, wie sie sie zur Kunst haben wollte, aber nicht haben konnte. Sie zog sich aus, und nicht nur ihre Bluse war aus Seide, sondern auch ihre Unterwäsche. Sie hatte geradezu unanständige Unterwäsche. Eine Überraschung. Man weiß, dass sie damit gefallen will. Man weiß, dass sie beim Kauf an den Blick eines Mannes gedacht hat, selbst für den Fall, dass kein Mann diese Unterwäsche je zu sehen bekommen würde. Man weiß, dass man keine Ahnung hat, was diese Frau ist, wie intelligent oder dumm sie ist, wie seicht oder tiefgründig, wie unschuldig oder hinterhältig, wie raffiniert, wie klug, wie verderbt womöglich. Bei einer zurückhaltenden Frau von solcher sexueller Kraft hat man keine Ahnung und wird auch keine Ahnung haben. Das Chaos, das ihr Wesen ausmacht, bleibt hinter ihrer Schönheit verborgen. Dennoch war ich zutiefst bewegt vom Anblick ihrer Unterwäsche. Ich war bewegt vom Anblick ihres Körpers. "Donnerwetter", sagte ich.

    Es sind vor allem die großen, perfekten Brüste seiner kubanischen Studentin Consuela Castillo, die den alternden Literaturprofessor David Kepesh hinfort so sehr erregen, dass er vor Verzücktheit nicht aus noch ein weiß und sich zum regelrechten Brust-Fetischisten entwickelt. Dieser tolle Busen wird zum Leitmotiv einer leidenschaftlichen Affäre und der gesamten Erzählung. Was auch kein Wunder ist, bedenkt man die Raffinesse, mit der Consuela ihre Reize einzusetzen weiß:

    Sie tat etwas, was für ein erstes Mal ziemlich unanständig war, und zwar - zu meiner abermaligen Überraschung - aus eigenem Antrieb: Sie ließ ihre Brüste um meinen Schwanz spielen. Sie beugte sich vor und nahm ihn zwischen ihre Brüste, damit ich gut sehen konnte, wie er dort eingebettet war, während sie sie mit beiden Händen zusammendrückte. Ich weiß noch, wie ich sagte: "Weißt du eigentlich, dass du die schönsten Brüste hast, die ich je gesehen habe?" Und wie die tüchtige, gewissenhafte Privatsekretärin, die ein Diktat aufnimmt, oder vielleicht wie die wohlerzogene kubanische Tochter antwortete sie: "Ja, das weiß ich. Ich sehe ja, wie du auf meine Brüste reagierst.

    Philip Roth-Kenner wissen längst, mit wem sie es hier zu tun haben. David Kepesh ist natürlich "the professor of desire", jener hemmungslose Professor der Begierde aus dem gleichnamigen Roman von 1977, und gehört mit dem Schriftsteller Nathan Zuckerman zu den alten Kameraden, die Roth und sein gesamtes Oeuvre seit Jahrzehnten begleiten. Nimmt man aktuell noch Mickey Sabbath hinzu, den Helden von "Sabbaths Theater" und Coleman Silk, den Literaturprof aus dem im letzten Jahr begeistert gefeierten Buch "Der menschliche Makel" - so hat der Autor mittlerweile ein rüstiges erotisches Quartett zusammen, dem nichts Sexuelles fremd oder peinlich ist und das mit großer Kunst und Wonne jenes Thema No.1 durchspielt, variiert und auf immer wieder neue Erkenntnishöhen treibt. Im Fall von David Kepesh gibt es allerdings noch eine Besonderheit, die seinem aktuellen Auftritt eine durchaus irritierende Note verleiht. Vor mehr als 30 Jahren sah er sich nämlich höchstselbst in eine weibliche Brust verwandelt. Der pralle Anblick, als seine künftige Gefährtin Claire ihren BH aufhakt, ließ in ihm den kindischen Wunsch entstehen, der von seinem Autor postwendend und im Wortsinn erfüllt wurde. Die deutlich kafkaeske, anatomische Farce, kaum 100 Seiten lang, 1972 unter dem Titel "The Breast" erschienen und lange nicht übersetzt, rief wegen ihrer absurden und lustvoll inszenierten Obszönität etliche Stimmen auf den Plan, die fragten, ob dieser Roth denn noch ganz richtig im Kopfe sei, man war noch nicht vertraut mit Roths überbordenden sexuellen Phantasien. Obwohl nun der Autor seinem Helden ein gnädiges Vergessen jener traumatischen Erfahrung angedeihen ließ, hat er doch die einstige literarische Form re-aktiviert: Wie damals erzählt David Kepesh einem anonymen Zuhörer, was ihm widerfuhr, redet ihn direkt an - es ist eine Art Beichte, das Geständnis eines vom Schicksal Geschlagenen, adressiert an einen verständnisvollen Zuhörer und vielleicht sogar Bekannten, dem schon schwant, was wieder ansteht:

    Nun, wie Sie wissen, bin ich für weibliche Schönheit sehr empfänglich. Jeder hat seine verwundbare Stelle, und das ist eben meine. Ich sehe weibliche Schönheit und bin so geblendet, dass ich nichts anderes mehr wahrnehme. Die jungen Frauen kommen zur ersten Seminarsitzung, und ich weiß beinahe sofort, welche für mich bestimmt ist. Es gibt eine Geschichte von Mark Twain, in der er beschreibt, wie er vor einem Stier davonrennt, und der Stier sieht hinauf zu der Baumkrone, in der Twain sich versteckt und denkt: "Sie, Sir, sind genau mein Fall." Tja, wenn ich die Studentinnen in meinem Seminar sehe, wird aus dem ‚Sir' eine ‚junge Dame'. Es ist jetzt acht Jahre her - ich war damals bereits zweiundsechzig, und Consuela Castillo war vierundzwanzig.

    Es ist wohl kein Zufall, dass dieser nunmehr 70-jährige Erzähler das Alter seines Autors teilt. Philip Roth hat die bewährte Garde Zuckerman/Sabbath/ Kepesh stets den eigenen Lebensjahren angepaßt: er war mit ihnen dreißig, gemeinsam durchlebte man die Midlife-Crisis, wurde zusammen alt. Durch ihr Wesen und ihre Erlebnisse filterte er die fundamentalen menschlichen Gedanken, Ängste und Hoffnungen, die sich mit dem jeweiligen Stadium verbinden, Gefühle, die alle auf jenen entscheidenden, fürchterlichen, unverrückbaren Punkt zulaufen und ohne diesen nicht zu denken sind: den Tod. Das ist der offen ausgebreitete Kontext aller Roth-Romane der letzten Jahre, eine immer wieder neu und originell ansetzende Spekulation, oft von eher essayistischem denn fiktionalem Charakter. Bisweilen vergißt man die Roman-Handlung und lauscht einem erfahrenen, selbstbewussten Mann, der uns aber nicht mit irgendwelchen Weisheiten kommt, sondern vielmehr aus seinem Kummer, seiner Verzweiflung angesichts der Vergänglichkeit allen irdisch-körperlichen Daseins kein Hehl macht. Umso überzeugender wirken seine Einsichten. Der Erzähler spricht zunächst über sich, aber - und so erklärt sich die beklemmende Wirkung - im Grunde erzählt er davon, was einen jeden von uns bewegt:

    Können Sie sich vorstellen, wie es ist, alt zu sein? Natürlich können Sie das nicht. Ich jedenfalls konnte es nicht. Ich hatte keine Ahnung, wie es sein würde. Ich hatte nicht einmal ein falsches Bild - ich hatte gar keins. Es ist verständlich, dass jedes zukünftige Lebensstadium unvorstellbar ist. Manchmal hat man eines bereits halb durchschritten, bevor man überhaupt merkt, dass man darin eingetreten ist. Außerdem bieten frühere Stadien einen gewissen Ausgleich. Dennoch hat die Mitte des Lebens für viele etwas Erschreckendes. Aber das Ende? [...] Man muß zwischen Sterben und Tod unterscheiden. Das Sterben ist kein ununterbrochener Prozeß. Wenn man gesund ist und sich wohl fühlt, ist das Sterben nicht wahrnehmbar. Das Ende ist gewiß, kündigt sich aber nicht unbedingt auffällig an. Nein, man kann es nicht verstehen. Solange man selbst nicht alt ist, versteht man nur, dass die Zeit den Alten ihren Stempel aufgedrückt hat. Stellen Sie sich das Alter so vor: Es ist eine alltägliche Tatsache, dass ihr Leben auf dem Spiel steht. Sie können dem Wissen um das, was Sie in Kürze erwartet, nicht entgehen. Die Stille, die Sie für alle Ewigkeit umgeben wird. Davon abgesehen ist alles wie immer. Davon abgesehen ist man unsterblich, solange man lebt.

    Zurückbezogen auf den Roman, ist Professor Kepeshs Raisonnement über Verfall und Tod natürlich von seiner heißen Affäre düster beeinflusst. Die überpralle Jugend seiner Geliebten erinnert ihn nicht nur schmerzlich an vergangene Zeiten, sondern ruft ihm tagtäglich sein Alter grausam ins Gedächtnis. Zwar hat er sich so weit ganz gut gehalten und kann der 24-Jährigen im Bett durchaus noch etwas bieten, aber 62 ist eben 62. Darüber kann auch die erotische Sicherheit langer Erfahrung nicht hinwegtäuschen; außerdem fühlt und weiß Kepesh nur zu genau, dass Consuela wie all die früheren Semester-Miezen weniger sein sexuelles Wesen als vielmehr den gebildeten, berühmten Mann begehrt, der im Fernsehen als Literaturkritiker auftritt, erfolgreiche Bücher schreibt, ein glänzender, umschwärmter Lehrer seiner Studenten ist. Dieses ‚Starfucker'-Syndrom hat er früher weidlich ausgenutzt, jetzt, mit Consuela, leidet er zum ersten Mal darunter, weil er spürt, dass die Sache langsam albern und unappetitlich wird. Werden Consuelas Freundinnen sich vielleicht kichernd erkundigen, fragt er sich angstvoll, ob er denn schon so ein bisschen opamäßig "riecht", ob er überhaupt noch eine anständige Erektion zustandebringt? Macht er sich nicht höchst lächerlich, tratschen die Kollegen über ihn, vor allem deren Eherauen? Doch fegt der Sexus verlässlich alle Zweifel weg, sowie Consuela ihre körperliche Pracht enthüllt. Kepesh betet sie förmlich an. Consuelas Brüste werden zum Sinnbild und Inbegriff von Lebendigkeit, der Sex mit ihr zur Feier des Lebens selbst. Auch hier steht der Held in der stabilen Tradition des Autors Roth, der seine Erzählergestalten stets zu Philosophen promoviert. Sex ist im Wortsinn ihr Leben, das Leben - und so sind der Lüsternheit der alten Knacker eine beständige Trauer und viel Wehmut beigemischt. Was bedeuten schon Bildung, Erfolg, Geld oder auch das Familienglück? Klar ist Sex nicht alles, aber ohne Sex ist alles nichts.

    Wie soll man, wenn man keusch und ohne Sex lebt, mit den Niederlagen, den Kompromissen, den Frustrationen fertig werden? Indem man mehr Geld verdient, möglichst viel Geld? Indem man möglichst viele Kinder in die Welt setzt? Das hilft, aber es ist kein Ersatz für das andere. Denn das andere ist im Körper verankert, in dem Fleisch, das geboren ist, in dem Fleisch, das sterben wird. Denn nur beim Vögeln übt man an allem, was einem verhasst ist und was einen zu Boden drückt, eine reine, wenn auch nur momentane Vergeltung. Nur dann ist man voll und ganz lebendig, voll und ganz man selbst. Die Unsittlichkeit ist nicht im Sex, sondern in allem anderen. Sex ist nicht bloß Reibung und seichtes Vergnügen. Mit Sex übt man Vergeltung am Tod. Vergessen Sie ihn nie. Ja, auch die Macht des Sex hat ihre Grenzen. Ich weiß sehr wohl, wie begrenzt sie ist. Aber sagen Sie mir: Welche Macht ist größer?

    Natürlich verhindert Philip Roth mit einer ordentlichen Portion gesund-versauten Humors, dass wir nach solchen Passagen allzu melancholisch werden. Seine extrem durchsexualisierten Charaktere sind offen und selbstironisch genug für die Komik ihrer Obsession. Auch David Kepesh entwickelt einen ausgesprochenen Sinn dafür. So kompensiert er seine rasende und, wie er findet, desaströs unangemessene Verliebtheit in Consuela einfach durch eine weitere Affäre mit einer Ex-Geliebten. Carolyn ist zwanzig Jahre älter als die kubanische Schönheit und hat, seitdem Kepesh sie das letzte Mal sah, 35 Pfund Gewicht zugelegt. Das und der verkürzte Altersabstand beruhigen ihn ungemein, an den breiten Hüften Carolyns fühlt er sich entspannt und tröstlich abgelenkt von den Exaltiertheiten der Nächte mit Consuela. Zwar fliegt die sorgsam inszenierte Parallel-Aktion beinahe auf, aber ein cleverer Casanova kann auch einen vergessenen Tampon im Bad hinreichend erklären. Da fühlt sich Kepesh im ureigenen Element und auch an alte Zeiten erinnert, als die erotische Passion noch eher viril-sportiven Anstrich trug und aller Kummer sogleich verschwand, wenn die nächste Eroberung in Sicht kam. Und die kombinierte Consuela-Carolyn-Liebschaft versetzt den Erzähler noch weiter zurück in die Epoche frühester Jugend, die 50er Jahre eines Amerikas, das wahrlich kein Paradies war für solch triebstarke Naturen vom Schlage eines Kepesh.

    Als ich heranwuchs, besaß man als Mann im Reich des Sex keine Bürgerrechte. Man war ein Fassadenkletterer. Man war ein Dieb im Reich des Sex. Man grapschte. Man stahl sich Sex. Man überredete, man bettelte, man schmeichelte, man beharrte - alles, was mit Sex zu tun hatte, musste gegen die Werte, wenn nicht gegen den Willen des Mädchens erkämpft werden. Die Regeln besagten, dass man ihr seinen Willen aufzuzwingen hatte. Auf diese Weise, hatte man ihr beigebracht, könne sie den Anschein der Tugend wahren. Wenn sie sich verknallt hatte, war sie unter Umständen bereit, es einem mit der Hand zu besorgen - was im Grunde bedeutete, dass man das selbst erledigte, indem man ihre Hand führte - aber dass ein Mädchen sich ohne das Ritual psychologischer Belagerung und unablässiger, monomanischer Hartnäckigkeit und Beschwörung auf irgendetwas einließ, war schlicht undenkbar. Auf jeden Fall erforderte es eine geradezu übermenschliche Beharrlichkeit, einen geblasen zu bekommen. In vier Jahren College gelang mir das nur einmal.

    Mit dieser Prüderie räumten die 60er Jahre gehörig auf. Genüsslich entwickelt der Erzähler das turbulente Klima der sexuellen Revolution, die hauptsächlich an den Universitäten stattfand und Kepesh ein sexuelles coming out erlaubte, wie er es sich nie erträumt hätte. Vollkommen berauscht von der neuen wilden Freizügigkeit, verließ er damals konsequent Frau und Kind. Mit den Studenten rauchte er Hasch und hörte Janis Joplin, diskutierte über Vietnam, Marxismus und Women's Lib. Selbstverständlich nur an der Oberfläche. Wenn ihn überhaupt etwas ernsthaft interessierte, dann waren das die Frauenbewegungen in seinem Bett, und so wurde er zu einem notorischen Womanizer, in Hippie-Tarnung mit Bart und Langhaar, der seine wahren Begierden durch liberales Gesabbel strategisch geschickt zu kaschieren wusste. Philip Roth hat die Handlung zahlreicher Romane im akademischen Milieu angesiedelt. Zum einen wohl deshalb, dass der Campus das ideale, quasi ‚natürliche' Terrain für die Begegnung von Jung und Alt bietet. Zum anderen lässt sich aber gerade an der Uni ein anderes interessantes Problem auf die bissigste Weise darstellen. Es ist der aktuelle Konflikt der "political correctness", der den Autor gemeinsam mit seinen "dirty old men" auf die Palme bringt. Erinnern wir uns an den armen Mickey Sabbath, der sein Professoren-Amt verliert, als im Studenten-Radio das Band mit scharfem Telefon-Sex mit ihm und einer Studentin läuft. Oder denken wir an Coleman Silk aus "Der menschliche Makel". Ihn mobbt man wegen vermeintlichen Rassismus, bis er kündigt. Auch David Kepesh muss mittlerweile seine Bürotür auflassen, wenn er Sprechstunden abhält, egal ob mit männlichen oder weiblichen Studenten. Und brav wartet er auf den Semesterschluss, bevor er zur nächsten Eroberung schreitet, der erst nach abgelegter Prüfung nicht mehr justiabel ist. Man muß die erboste Kritik, mit der Philip Roth solche modernen Entwicklungen überzieht, nicht unbedingt teilen - Kepesh & Co. sind ja wirklich strunzgeile Säcke, wenn man ehrlich ist. Aber gleichzeitig wird klar, dass ihre Zeit endgültig vorbei ist. Die Machos haben ausgedient, so reizend artikuliert und ironisch sie ihr Schicksal auch beweinen mögen. - Es gibt aber noch eine weitere bedeutende Motivation für das universitäre Ambiente. Die akademischen Berufe der Protagonisten, die alle mehr oder minder mit Literatur zu tun haben, liefern eine wundervolle Projektionsfläche für literarische Anspielungen und Verweise. Philip Roth ist ein sehr belesener Autor, und er liebt es, seine Figuren in den Konstellationen der Weltliteratur zu spiegeln. Die Professoren wissen freilich bestens selbst darüber Bescheid. Im vorliegenden Fall bildet Dostojewskis "Die Brüder Karamasow" die literarische Grundlage für die verkorkste Beziehung zwischen David Kepesh und Sohn Kenny. Der hat die Fahnenflucht des Vaters von der Familie nie verwunden, in einer Seminar-Arbeit rechnet er mit seinem Alten ab.

    Kenny war einer dieser überkandidelten Jugendlichen, für die jedes Buch von einer persönlichen Bedeutung erfüllt ist, hinter der alles zurücktritt, was sonst noch von Belang ist. Er war mittlerweile ganz und gar auf unsere gegenseitige Enfremdung fixiert, und daher konzentrierte sich seine Arbeit auf den Vater. Einen verkommenen Lüstling. Einen einsamen alten Unhold. Einen alten Mann, der jungen Mädchen nachstellt. Einen Vater, der - Sie erinnern sich - sein erstes Kind verläßt, "weil ein Kind", wie Dostojewski schreibt, "seinen Ausschweifungen im Weg gestanden hätte". Ach, Sie haben "Die Brüder Karamasow" nicht gelesen? Aber das sollten Sie unbedingt tun, und sei es nur wegen der amüsanten Schilderung der Verderbtheit dieses schändlichen Vaters. "Kenny", sage ich zu ihm, "warum stellst du dich deinem Vater nicht endlich? Stell dich dem Schwanz deines Vaters. Dies ist die Realität deines Vaters. Kindern lügen wir darüber etwas vor. Was den Schwanz des Vaters betrifft, kann man einem Kind gegenüber nicht aufrichtig sein. Aber du bist ein Mann!"

    Philip Roth und die amerikanischen "family values" - das ist ein Thema für sich, das jetzt nur angespielt bleibt. Dennoch sind die Passagen mit Kenny die witzigsten des ganzen Romans. Wenn der solide verheiratete Filius mit inzwischen 42 nun seinerseits eine Affäre pflegt, beim Vater aufkreuzt und ihm bittere Vorwürfe macht, dann läuft Kepesh senior noch einmal zu großer Form auf: "Oh, sie hat Kunstgeschichte studiert. Und spielt Oboe. Wunderbar. Selbst in deiner Affäre bist du besser als ich", spottet er. A propos: Consuela. Was passiert mir ihr? Eineinhalb Jahre hat die amour fou gedauert, dann ist die Schöne auf und davon. Aber sie wird sich wieder melden. Als Todkranke. Ein Karzinom. Wo? Sie können es sich denken...

    Alle neueren Romane von Philip Roth enden inzwischen tragisch-tödlich, das memento mori des Autors klingt immer deutlicher. Vielleicht sind es gerade deshalb Meisterwerke. Auch dieses jüngste gehört dazu. Mit seinem Umfang von 160 Seiten wirkt das Buch in der Reihe der großen humoristischen Roth-Elegien wie ein Satyrspiel. Aber der kleine Text ist nicht Nachklang einer Tragödie, er erzählt ein eigenes Drama, das man nicht so schnell vergißt. Damals, in der "Brust"-Novelle zitiert David Kepesh am Schluß ein Rilke-Gedicht. Vom "leisen Drehen der Lenden" und von "der Mitte, die die Zeugung trug" ist dort reichlich pompös die Rede. Nun geht es leiser zu, mit den Versen des irischen Lyrikers William Butler Yeats: "Verzehr mein Herz/ krank vor Begehren und/ Gefesselt an das sterbende Tier/ Weiß es nicht, was es ist..."