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Das Tauziehen geht weiter

Im Frühjahr strandete eine Gruppe afrikanischer Migranten in Hamburg. Das jüngste Drama vor der italienischen Küste lässt bei ihnen den Schrecken ihrer eigenen Flucht hochkommen. Wie es für sie weitergeht, ist unklarer denn je.

Von Kathrin Erdmann | 10.10.2013
    Leise dudelt Musik aus einem kleinen Rekorder, auf einem Tisch liegen Brot, Tomaten und Gurken. Vor dem Kirchenaltar stehen je zwei Kisten für saubere und schmutzige Wäsche. Weiter vorn in dem Kirchenschiff sitzen 13 junge Männer und hängen an den Lippen einer grauhaarigen Frau:

    "Ich bin traurig, ich habe Kummer."

    Helga Grust ist 73, und hat sichtlich Spaß, endlich mal wieder als Lehrerin zu arbeiten. Hintereinander zieht sie Kopien mit Bildern aus der Tasche, die libyschen Flüchtlinge schreiben mit:

    "Die Leute liegen bei uns vor der Tür. Und wenn ich ihnen was geben kann, Geld habe ich nicht, dann ist das die Sprache."

    Während die einen Deutsch lernen, sitzen andere der insgesamt 80 Flüchtlinge vor der Kirche, warten. So wie Amadou aus dem westafrikanischen Mali.

    "Seit zwei Jahren habe ich nichts gemacht, nicht gearbeitet, nur geschlafen und gegessen. Und hier bin ich jetzt seit acht Monaten, und ich habe nichts. Keine Arbeit, das ist nicht einfach."

    In Italien lebte er im Flüchtlingslager, jetzt in Hamburg. Amadou ist frustriert so wie auch Alex. Der 23-jährige Nigerianer ist ein auffällig hübscher Mann:

    "Einige Leute hier haben mir erzählt, dass ich bleiben könnte, wenn ich eine deutsche Frau finde, aber so etwas will ich nicht machen."

    Aber es könnte auch ohne Frau gehen, ist sich Ralph Lourenco von der Flüchtlingsorganisation "Karawane" sicher. Nämlich dann, wenn Hamburg die Männer als homogene Gruppe anerkennt und von einem bestimmten Paragrafen im Ausländerrecht Gebrauch macht.

    "Es gibt diese gesetzliche Möglichkeit. Das andere ist, dass es halt eine breite Solidarität gibt. Und alle Menschen, die in der Stadt die Leute kennengelernt haben, haben auch erkannt, ja genau das ist dieser Zusammenhang und dieser Hintergrund."

    Dass es streng genommen aber keine homogene Gruppe ist, weil alle ursprünglich aus verschiedenen afrikanischen Ländern kommen, ist für Lourenco kein Thema.

    "Was moralisch falsch ist, kann politisch gar nicht richtig sein."

    Senat verweist auf Drittstaatenregelung
    Das bewertet der Hamburger Senat ganz anders. Weil die Flüchtlinge über Italien eingereist sind, müssen sie dort auch ihr Asylverfahren durchlaufen. So sieht es das europäische sogenannte Dublin-Abkommen vor. Und darauf beruft sich auch Hamburgs Innensenator Michael Neumann:

    "Weder gibt es hinreichende Anhaltspunkte, dass Italien seinen EU-rechtlichen Verpflichtungen gegenüber den Betroffenen nicht nachkommt, und somit gibt es auch keine Anhaltspunkte, die einer Rücküberstellung nach Italien entgegenstehen."

    Damit liegt der Innensenator jedoch nicht ganz richtig, denn wiederholt haben deutsche Gerichte die Zustände für Flüchtlinge in Italien angeprangert. So heißt es zum Beispiel in einem Urteil des Verwaltungsgerichts Schwerin vom März dieses Jahres, Zitat:

    "Die in den genannten Erkenntnisquellen dargestellten Zustände in den Einrichtungen und die Gefahr einer längerfristigen Obdachlosigkeit spricht dafür, dass im Falle der Überstellung des Antragstellers nach Italien dieser erniedrigender oder unmenschlicher Behandlung ausgesetzt wäre."

    Friday aus Nigeria hat Angst. Er will um jeden Preis in Deutschland bleiben.

    "Wenn wir nach Italien zurückmüssen, gehen wir zurück in die Hölle. Wir wissen nicht, was mit uns dort passieren wird."

    Die Hamburger Opposition aus Linken und Grünen hat ein Moratorium von sechs Monaten gefordert, um eine Lösung für die Menschen zu finden. Antje Möller von den Grünen:

    "Wir reden darüber, dass das Asylrecht an dieser Stelle große Maschen hat und deswegen diese große Gruppe von Menschen da durchgefallen ist."

    Doch auch darauf will sich der Innensenator nicht einlassen. Kein Bundesland sehe Deutschland in der Pflicht, den libyschen Wanderarbeitern zu helfen.

    "Zusammenfassend kann ich also feststellen, dass erstens die Rechtslage völlig eindeutig ist und zweitens die Perspektive nur die Ausreise nach Italien sein kann."

    Martin Paulekun ist Pastor in der St. Pauli Kirche. Nach den vielen Monaten ist er ernüchtert:

    "Ich bin nicht wütend auf den Senat, ich bin eher traurig. Jetzt in der Flüchtlingspolitik hätten wir die Chance zu üben, wie gehen wir mit den Themen um. Wie gehen wir mit den Themen um, wenn Menschen nach Hamburg kommen. Die werden immer kommen, es werden mehr werden, und jetzt hat man die Chance, vernünftige Regelungen zu finden."

    Das Problem wird ausgesessen
    Doch der Hamburger Senat will auch deshalb keine Sonderregelung, weil er fürchtet, damit anderen Flüchtlingen Tür und Tor zu öffnen. Unverständnis beim Pastor:

    "Also ein Afrikaner, der in Deutschland arbeitet, der versorgt in Afrika, in Ghana, in Mali oder in Togo, versorgt er sechs, sieben oder acht andere. Das heißt, gerade wenn Leute hier die Möglichkeit haben, auch Geld zu verdienen. Und wir brauchen ja qualifizierte Arbeitskräfte, dann stoppt das eher die Migrationswelle."

    Die Hamburgerinnen und Hamburger verfolgen seit Monaten das Tauziehen um die Afrikaner. Die Tragödie vor Lampedusa hat nun zusätzlich viele erschüttert. Die Solidarität ist offenbar eher groß:

    "Die ganze EU sollte da was machen, weil es nicht Aufgabe von Italien allein sein kann. Die müssen sich mehr öffnen, es ist ein unmenschlicher Zustand und auch für Europa ein Schaden. Nichtsdestotrotz finde ich auch, dass man in Afrika Hilfe zur Selbsthilfe leisten sollte, weil da ja der Ursprung ist und der Kern des Übels. Ich bin der Meinung, Deutschland sagt immer ja, wir nehmen, wir nehmen, aber beim Rest sieht das immer nicht so aus. Auf jeden Fall sollten wir uns mehr öffnen und Verantwortung übernehmen, ein bisschen was von unserem relativen Reichtum teilen."

    Teilen oder nicht? Für Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz ist das keine Frage.

    "Es wird Recht und Gesetz zu beachten sein, wie es in Deutschland gilt."

    Und das heißt: Jeder Fall wird einzeln geprüft und – so heißt es hinter vorgehaltener Hand in der Innenbehörde – wahrscheinlich nach Italien zurückgeschickt. Das einzige Problem: Kaum einer aus der Gruppe hat sich bisher registrieren lassen. So wird das Problem weiter ausgesessen – und der Winter steht praktisch vor der Tür.