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Das Theater als moralische Instanz

Für ihn war Theater Teil des öffentlichen Dienstes, wie die Müllabfuhr oder die Wasserversorgung. Als Chef des "Théâtre National Populaire" erneuerte Jean Vilar den Volkstheatergedanken aus den 20er-Jahren. Bis heute wird der Schauspieler, Regisseur und Theaterchef in Frankreich wie eine Ikone verehrt.

Von Eberhard Spreng | 25.03.2012
    "J'ai fait une fuite. Je n'ai jamais pu m'expliquer la raison pourquoi. Un garçon assez calme, assez gentil et puis tout d'un coup prend cette décision de fuir le milieu familial."

    Jean Vilar ist 20 Jahre alt, als er mit einem Koffer und einer Geige seinen Geburtsort Sète fluchtartig verlässt. Der stille junge Mann weiß nicht so recht, warum er seine Familie aufgibt. Erst kurz zuvor hatte der am 25. März 1912 in der kleinen südfranzösischen Hafenstadt geborene Sohn eines ärmlichen Ladenbesitzers mit Freunden das "Studio 32" gegründet, einen Kreis, der sich in dem Nebenraum einer Brasserie für Gespräche über Literatur und Musik traf. In Paris ist es der Zufall, der ihn seiner Lebensaufgabe zuführt. Bei einer vom berühmten Schauspieler und Regisseur Charles Dullin geleiteten Probe von Shakespeares "Richard der Dritte" entflammt bei dem jungen Jean Vilar die Theaterleidenschaft. Über die Woche arbeitet er nun in einem Gymnasium als Tutor, um an den Samstagnachmittagen an Theaterkursen Dullins teilzunehmen. Jean Vilar wird Schauspieler und tingelt in André Clavés Theater "La Roulotte" durchs Land.

    "In den zwei Jahren mit der Roulotte haben wir auf 120 verschiedenen Bühnen gespielt, die wir in der Regel selbst aufgebaut haben, mit dem, was gerade da war, zusammen geschobenen Kneipentischen und einfachster Beleuchtung. Immerhin waren wir mitten im Krieg."

    Aus diesen Erfahrungen entwickelt Vilar einen eigenen Stil als Regisseur: ein karges, auf weitgehend kahler Bühne aufgeführtes Theater, das man später einmal die "Esthétique des trois tabourets" eine "Drei-Hocker-Ästhetik" nennen sollte. 1942 gründet Vilar seine eigene Theatercompanie, und erlebt mit seiner Inszenierung von Strindbergs "Gewitter" einen ersten großen Erfolg. Er ist fortan der Mittelpunkt seiner Truppe. Zusammenhalt und exklusive Hingabe ans Theater fordert er von seinen Mitstreitern.

    "Um eine gute Arbeit zu machen, brauche ich nicht nur das Vertrauen meiner Kameraden, sondern eine Art Verbindung, die im buchstäblichen Sinne Zu-Neigung ist."

    In seiner Truppe des "Théâtre National Populaire", kurz T.N.P. genannt, sollte dieser Zusammenhalt zu besonderen künstlerischen Leistungen führen. 1951 hatte man ihn zum Direktor dieses neuen staatlichen Volkstheaters berufen. Aber bereits zuvor hatte Vilar auf Anregung des Poeten René Char in der Rhônestadt Avignon 1947 an einer "Semaine d'Art" mitgewirkt, die in den Folgejahren zum legendären Theaterfestival weiterentwickelt wurde. Vilar leitete es bis zu seinem Tod 1971. Mit dem Festival in Avignon und dem T.N.P. in Paris sollte Frankreich die Dämonen des europäischen Faschismus überwinden und eine Renaissance des demokratischen Denkens erleben. Dieses neue politische Theater sollte einer moralischen Neu-Fundierung der Nachkriegsgesellschaft aufhelfen. Das Jahr 1951 wurde dabei, mit Gérard Philipe in zwei Hauptrollen, zur künstlerischen Sternstunde des neuen Festivals.

    "Là, au dessus de ma tête, comme un génie de la victoire, elle a tenu levé bien haut, et j'ai vu la chaîne d'or se balancer au-dessus du laurier et moi dans une émotion extraordinaire, je m'avance …"

    Philipes Darstellung des "Prinzen von Homburg" wird, neben seinem "Cid" - bei beidem führte Vilar Regie und übernahm eine Rolle -, auf der gewaltigen Bühne des mittelalterlichen Papstpalastes zur Theaterlegende, zu einem der großen Momente der europäischen Theatergeschichte.

    Das Jahr 1968 konfrontiert den Regisseur und Festivalleiter mit einer jungen studentischen Revoltebewegung, die in Avignon einen tiefgreifenden Wandel verlangt. Entrüstet und missverstanden erleidet er im Herbst 68 einen Herzinfarkt. Und doch: Er hat dem TNP und vor allem Avignons Sommertheater eine Prägung gegeben, die bis heute virulent geblieben ist:

    "Ich glaube, dass Avignon ein Treffpunkt werden sollte, der es den qualifiziertesten, mutigsten und erfindungsreichsten Regisseuren erlaubt, ihre Methoden zu erneuern."

    Am 28. Mai 1971 stirbt Jean Vilar 59-jährig nach einer Herzattacke. In seiner Heimatstadt Sète, im Cimetière Marin, liegt er begraben: Oberhalb der Mittelmeerküste, wo Mistral und Tramontane wehen, die er seit seiner Kindheit als Quellen künstlerischer Inspiration verstand.